Heute in den Feuilletons

Höllischer Reigen des brutalen Kollektivismus

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2009. In der Berliner Zeitung erklärt der chinesische Autor Yan Lianke, wie in seinem Land die Zensur funktioniert. "Thielemann muss bleiben", ruft Joachim Kaiser in der SZ. Angst regiert diesen Wahlkampf, meint Spiegel Online. In der Welt hat Margarethe von Trotta Visionen von Kapitalismuskritik bei Hildegard von Bingen. In der taz bekennt Ilija Trojanow: Er wird die Piraten wählen. Die NZZ bewundert den fast schon hotelartigen Standard in neueren Alpenhütten.

Berliner Zeitung, 23.09.2009

Bernhard Bartsch führt ein instruktives Interview mit dem chinesischen Autor Yan Lianke, der zwar als nobelpreiswürdig gilt, aber wegen allzu frecher Äußerungen nicht mit zur Frankfurter Buchmesse fahren darf. Er erzählt, wie die Zensur in China funktioniert: "Bei meinem Buch 'Dem Volke dienen' hat zum Beispiel der eine Verlag gesagt: Der Inhalt könnte durchgehen, aber der Titel nicht. Und der nächste sagte, der Titel könnte durchgehen, aber der Inhalt nicht. Und am Ende ging gar nichts: Die Propagandaabteilung und die Behörde für Presse und Publikation haben eine Direktive verbreitetet, dass mein Buch die höchsten Ziele der KP schmähe und man es in keiner Form drucken, bewerben oder diskutieren dürfe. Damit war das Buch tabu."

Auf der Medienseite schreibt Marin Majica über Sinn und Unsinn der Apps fürs Iphone: "Eine App ermöglicht bei Wald-Spaziergängen das Bestimmen von Vögeln, eine andere lässt das Iphone die Geräusche eines Laserschwertes machen. Das Programm Ocarina misst die Geschwindigkeit, mit der Luft am Mikrofon des Telefons vorbeiströmt, und verwandelt es so in eine Flöte."

Spiegel Online, 23.09.2009

Angst regiert diesen Wahlkampf, meint Elke Schmitter. Angst, die Bürger aufzuschrecken und die potenziell vorhandene Unruhe versehentlich in Engagement zu verwandeln. "Die Unruhe wird genährt von einer Angst, die um so bedrohlicher - und destruktiver - ist, als sie nicht ausgesprochen werden darf: dass unaufhörliches Nachbessern, ein stures Weiter-So keine Antworten auf die Probleme sind. Wenn Opel gerettet wird, oder auch nicht, dann geht es nicht nur um Opel, sondern auch um unzählige Mittelstandsfirmen, die Scheibenbremsen, Kabelzeug und Radkappen liefern, wohl wahr. Aber es bleibt ein mulmiges Gefühl: Sind Autos etwa die Zukunft? Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Stunde für eine grundsätzliche Diskussion, die aus diffuser Angst politische Fragen macht - über Wachstum und Ökologie, über die Definition von Arbeit, über Teilhabe in der Gesellschaft?"

NZZ, 23.09.2009

Hubertus Adam wirft einen Blick auf die neue Monte-Rosa-Hütte südöstlich von Zermatt. Den expressiven und technisch anspruchsvollen Bau verteidigt er mit Bezug auf die Geschichte der Schweizer Alpenhütten: "Boten diese in ihrer fast 150-jährigen Geschichte einst lediglich Schutz vor Wind und Wetter, so geht der Trend in jüngerer Zeit hin zu fast schon hotelartigen Standards. Das mag manches hartgesottene SAC-Mitglied als Dekadenz ansehen; gleichwohl ist zu konstatieren, dass die Hütte, bei der sich Hightech und Lowtech verbinden, auf intelligente Weise die Tradition des Hüttenbaus fortschreibt."

Weitere Artikel: Roman Bucheli blickt voraus auf eine Ringvorlesung zur Schweizer Literatur der sechziger Jahre an der Uni Zürich. Joachim Güntner verkündet den Tod der Sprachglosse: "Meine Aversionen gegen gewisse Neologismen teilt anfalls das Korrektorat." Und Kristina Bergmann stellt Muammar al-Ghadafis Kalender vor, dessen Monatsnamen Ghadafi frei nach historischen Ereignissen neu benennt.

Besprochen werden Bernd Roecks Renaissancebuch "Ketzer, Künstler und Dämonen", Ilma Rakusas Erinnerungen "Mehr Meer", Feng Lis Roman "Ein vermeintlicher Herr" sowie die Festschrift "von Jandl weg auf Jandl zu" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 23.09.2009

Was wäre, wenn? überlegt der Historiker Niall Ferguson. Wenn Lehmann gerettet worden wäre. Oder wenn wir aus der Pleite gelernt hätten? "Tja, wenn..." Terezia Mora spricht im Interview über ihren neuen Roman "Der einzige Mann auf dem Kontinent" (daneben gibt's eine Besprechung des Buchs). In Times Mager kommentiert Christian Thomas das Debakel um die Wahl des neuen Generaldirektors der Unesco (die Bulgarin Irina Bukowa ist es inzwischen geworden, lesen wir hier). Tobi Müller berichtet über einen Vortrag des Medienforschers Gerd Leonhard auf der all2gethernow-Konferenz. Und Jürgen Otten sah Barrie Koskys Inszenierung des "Rigoletto" an der Komischen Oper Berlin.

Welt, 23.09.2009

Im Interview mit Hanns-Georg Rodel spricht Regisseurin Margarethe von Trotta über Kapitalismuskritik und Visionen bei Rosa Luxemburg und ihrer neuen Filmheldin Hildegard von Bingen: "'Gib die Habgier auf!', mahnt sie Kaiser Barbarossa". Tilman Krause prophezeit in der Angelegenheit Krankheit und Öffentlichkeit, dass die Tyrannei der Intimität eher wachsen als wanken wird und dass auch bei den Themen Krankheit und Tod gilt: "Nicht der Gegenstand, die Verarbeitung zählt." Manuel Brug begrüßt sehr die Stuttgarter Entscheidung, Jossi Wieler zum Intendanten ihrer Oper zu machen. Reinhard Wengierek läutet in Dresden die Ära des neeuen Schauspielchefs Wilfried Schulz ein. Stefan Pannor meldet Streit um die Rechte an den X-Men. Außerdem bilanziert die Redaktion die Bilanz von Kulturstaatsminister Bernd Neumann.

Auf der Meinungsseite ist ein Auszug aus Heinrich August Winklers neuem Buch zu lesen, das, so viel sei verraten, die "Geschichte des Westens" erzählt.

Besprochen werden der ARD-Film "Die Freundin der Tochter" (geschrieben von der gefeuerten Fernsehspielchefin Doris Heinze) und das in den polnischen Kinos laufende Hollywood-Drama über die Warschauer Judenretterin Irena Sendler.

TAZ, 23.09.2009

Wer nicht weiß, wen oder was er wählen soll, überlege sich, welches Thema ihm am wichtigsten ist und lese, was die Parteien dazu zu sagen haben, empfiehlt Ilija Trojanow auf der Meinungsseite. Für ihn sind die Bürgerrechte das wichtigste. Und da "bleibt nur, der aufmerksame Leser hat es bestimmt schon erraten, die Piratenpartei. Ihr Eintreten für die Bürgerrechte und die Freiheit im Netz ist (momentan noch) über jeden Zweifel erhaben; ebenso ihre Bereitschaft, den Datenschutz umfassend auszubauen."

Im Kulturteil porträtiert Jürgen Berger die argentinische Theatermacherin Lola Arias. Auf den vorderen Seiten spricht Christian Rath in der Reihe "Welche Macht hat der Staat" mit dem Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde darüber, was heute ein "ein staatstragendes Ethos" sein könnte.

Besprochen werden Margarethe von Trottas Film "Vision - aus dem Leben der Hildegard von Bingen", ein Konzert der New Yorker Band Dirty Projectors im "Festsaal Kreuzberg" und die Studie "Kultur und Konflikt in globaler Perspektive".

Und Tom.

Aus den Blogs, 23.09.2009

Im Immateriblog fasst Matthias Spielkampf den Vortrag des Buchwissenschaftlers Christoph Bläsi bei der Tagung Literatur 2.0 zusammen. Es ging um eBooks. "Bläsi: Man darf nicht bildungsbürgerlich vernagelt sein, man kann auch mit etwas anderem als Büchern komplexe Inhalte vermitteln; ich pflege die 'Unschuldsvermutung' gegenüber digital natives bis zum Beweis des Gegenteils (dass sie keine komplexen Sachverhalten verstehen)."

Nach der sehr umstrittenen Auszeichnungen der jüdischen "Israel-Kritikerin" Felicia Langer mit dem Bundesverdienstkreuz hielt Bundespräsident Horst Köhler eine Laudatio auf Henning Mankell, der jüngst durch drastische antiisraelische Äußerungen hervorgetreten ist. Henryk Broder schreibt in der Achse des Guten eine Mail an Köhlers Adlatus, Staatssekretär Gert Haller: "innerhalb von nur zwei monaten sind zwei antisemiten mit auszeichnungen geehrt worden. beide male war der bundespräsident involviert. einmal hat er die urkunde unterzeichnet, das andere mal die laudatio gehalten. ich tendiere immer noch dazu, dies für für koinzidenz zu halten - in tateinheit mit inkompetenz im umfeld des präsidenten."

"Aufrüstung bei Nippons High-Tech-Toiletten", meldet Heise Online: "Hersteller wie Toto, Inax oder Panasonic verkaufen inzwischen tausende Euro teure Klo-Automaten, die ein Vorbild für Haushaltsroboter werden könnten."

SZ, 23.09.2009

"Thielemann muss bleiben!", ruft Joachim Kaiser im Aufmacher und schwärmt für sein "instinktives, kluges Gefühl für Pausen", das dem Dirigenten offensichtlich nur bei Vertragsverhandlungen abgeht.

Weitere Artikel: Wolfgang Schreiber liefert einen emphatischen Bericht über den Schostakowitsch-Schwerpunkt des Berliner Musikfests ("das Orchester orgelt den höllischen Reigen des brutalen Kollektivismus"). Der Romanist Jürgen Trabant verwahrt sich gegen den Vorwurf des sprachlichen Purismus, hält aber fest: "Die Sorge um die 'Reinheit' einer Sprache ist Teil einer viel komplexeren Sorge um die Sprache." Marc Felix Serrao empfiehlt allen, die den jüngst ausgezeichneten Film "Grey Gardens" (Trailer) über zwei exzentrische Tanten Jacqueline Kennedys noch nicht sehen konnten, eine ältere Dokumentation zum Thema von Albert und David Maysles. Petra Steinberger wendet sich gegen das Gerede von einer angeblichen Feminisierung der Gesellschaft. Reinhard J. Brembeck begrüßt Jossi Wieler als Intendant der Stuttgarter Oper. Christian Gampert schreibt zum Tod des Tübinger Kulturwissenschaftlers Utz Jeggle.

Gemeldet wird, dass sich nach mehreren Wahlgängen die bulgarische Diplomatin Irina Bokowa als Chefin der Unesco durchgesetzt hat (mehr dazu in der Frankfurter Rundschau).

Auf der Medienseite annonciert Peter Luley für heute Abend auf Arte einen Fernsehfilm der wegen Korruption geschassten Fernsehspielredakteurin Doris J. Heinze. Und Joseph von Westphalen berichtet von seinen Erfahrungen beim Schreiben einer intelligenten Fernsehkomödie, die wegen eines Übermaßes an Intelligenz dann doch nicht durch die Instanzen (zu denen auch Doris J. Heinze gehörte) kam.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Bildern, die 30 Künstler während des Prozesses gegen Michail Chodorkowskij gezeichnet haben, in Moskau, eine Ausstellung mit Skulpturen des frühen Renaissance-Bildhauers Daniel Mauch in Ulm, erste Inszenierungen des Dresdner Staatsschauspiels unter dem neuen Intendanten Wilfried Schulz, Robert Schwentkes Film "Die Frau des Zeitreisenden" und Bücher, darunter Rainer Merkels Roman "Lichtjahre entfernt", der auf der Shortlist zum Buchpreis steht (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 23.09.2009

Während Marcus Jauer sich bei einem Wahlkampfauftritt Angela Merkels in Kassel langweilt, vergleicht er in Gedanken diesen mit ihrem letzten Wahlkampf und stellt fest, dass sie sich beide Male ganz anders verhalten hat, als ihre Wähler es erwarten konnten. Fazit: "Es gibt Menschen, die sind in der Lage, ihre Umgebung zu verändern, und es gibt Menschen, die werden von ihrer Umgebung verändert. Es kann aber sein, dass auf Angela Merkel beides nicht zutrifft."

Weitere Artikel: Oliver Tolmein begutachtet die Wahlprogramme der Parteien in Leichter Sprache, das heißt, aufbereitet für Menschen mit geistigen Behinderungen. Weitere Artikel: Jordan Mejias berichtet Neues aus dem Musikleben in New York: Die New Yorker Philharmoniker haben einen agilen neuen Leiter, den 42jährigen Alan Gilbert, und die Metropolitan Opera zeigte Luc Bondys Inszenierung der "Tosca". In der Glosse informiert uns dsch. über neue Straßennamen in Wien - "Habe-die-Ehre-Gasse". Hans-Christian Rössler traf den Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, Guy Braunstein, nach einem Konzert in Jerusalem. Paul Ingendaay berichtet über das Filmfestival in San Sebastian. Auf der Medienseite informiert Josef Oehrlein über das geplante neue Mediengesetz in Argentinien, das dem Präsidentenpaar Kirchner "weit größere direkte Einflussnahme auf die Medien erlaubt".

Besprochen werden ein Konzert der Sängerin Berry in Köln, ein Konzert, eine Ausstellung über zeitgenössische chinesische Architektur im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, Aufführungen von Lessings "Minna" und Bulgakows "Sojas Wohnung" am Düsseldorfer Schauspielhaus, Tony Scotts Film "Die Entführung der U-Bahn Pelham 123" und die Ausstellung "Dark Side II - Fotografische Macht und fotografierte Gewalt, Krankheit und Tod" im Fotomuseum in Winterthur.