Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.05.2001.

SZ, 30.05.2001

Gewissensprüfung in der SZ. Geplagt von der Befürchtung, im Nationalen Ethikrat, der am 8. Juni erstmals zusammentreten soll, könnten sich "bereits jetzt in entscheidenden Punkten ideologische Fronten" gebildet haben, hat die SZ den 25 Mitgliedern des Rats drei Fragen vorgelegt. 12 haben sie beantwortet. Die erste Frage, nach einem von Reinhard Merkel entworfenen Szenario, war für jeden leichtes Spiel, der den Wehrdienst verweigert hat: "'In einem biotechnischen Labor bricht ein Feuer aus. In dem Labor befinden sich zehn am Vortag in vitro gezeugte, lebende Embryonen und außerdem ein durch den Rauch bereits tief bewusstloser Säugling. Ein in letzter Sekunde in das Labor eindringender Retter erkennt sofort, dass er nur noch entweder den Säugling oder die zehn Embryonen retten kann.' Welche Entscheidung soll der Retter treffen?" Weiter wird nach dem Beginn menschlichen Lebens gefragt und ob man (?) abtreiben darf.

Geantwortet haben Eberhard Schockenhoff, Jochen Taupitz, Therese Neuer-Miebach, Regine Kollek, Hans-Jochen Vogel, Kristiane Weber-Hassemer, Richard Schröder, Detlev Ganten, Bettina Schöne-Seifert, Eve-Marie Engels, Peter Propping und Christiane Woopen. Dekoriert sind die Seiten mit Porträtfotos schöner Frauen von Rosemarie Trockel, die je zwei gleiche Gesichtshälften aneinandermontiert hat.
Bernd Graff konstatiert in einem Artikel, dass die Gentechnologie "noch kaum mehr" ist als eine "Allmachts-Phantasie der Wissenschaft". "Doch soviel scheint immerhin klar: Die Menschen sind dadurch bereits jetzt einem bislang ungekannten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Die Möglichkeiten der PID verlangen nach der Entscheidung, ob oder ob nicht getestet werden soll ? und warum dann etwa ein Embryo trotz diagnostizierter Genschäden in den Mutterleib eingesetzt werden sollte. Und die Genmanipulation ist anders als die Zahnspangenkorrektur nicht bloß ein Eingriff in den Körper eines Individuums, sondern eine Veränderung der unsterblichen Keimbahnen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht anders als mutig zu bezeichnen, dass sich die CDU ? anders als die SPD ? wenige Tage vor der Grundsatzdebatte zur Biopolitik im Deutschen Bundestag zu einem Thesenpapier durchringt. Auch wenn es kaum mehr als ein unentwirrbares Knäuel aus Haltungen, Empfindungen, Angst und Abscheu ist ? und doch auch von der Hoffnung zeugt, dass man gegen die Gefahren der kommenden Gentechnologie gewappnet sei."

Andrian Kreye berichtet aus den USA über Versuche, die Stadt abzuschaffen. "Denn nach den strengen Regeln des freien Marktes ist die Stadt an sich ein untragbares Konzept. Die Unterhaltskosten steigen, die Qualität lässt nach, die Managementstrukturen sind unflexibel." Was soll man jedoch mit der "maroden Konkursmasse" tun? "Eine Idee wäre es, die Stadt als urbanen Abenteuerpark für die Suburbiagesellschaft zu bewahren. Ein Konzept, das New York City schon in Ansätzen verwirklicht hat. Die Gegend rund um den Times Square, als Rotlicht- und Gaunerviertel berüchtigt, etablierte Giulianis Administration zusammen mit der Walt Disney Corporation den ersten städtischen Themenpark."

Besprochen werden Frank Castorfs Inszenierung der "Erniedrigten und Beleidigten" für die Wiener Festwochen, Lyn Webster Wildes Buch über "Amazonen" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr) und die missglückte Uraufführung von Günter Neuberts Oper "Persephone" in Leipzig, die man "aus Ersparnisgründen" nicht in Szene gesetzt, hat. "Zwei konzertante Aufführungen handelten das Stück eher verschämt ab. Wenn es Schule machen sollte, dass neue Werke erst einmal in den Probelauf geschickt werden, dann kann die Oper gleich zumachen", schreibt Reinhard Schulz, der in seinem Artikel auch auf elf Jahre Intendanz Udo Zimmermann zurückblickt.

TAZ, 30.05.2001

Wie es der Zufall will, schreibt nun auch Uwe Rada, den Helmut Höge in seinem FR-Artikel über die Osteuropäische Basarwirtschaft lobt, über das gleiche Thema und eine Dokumentation von Zoran Solomun und Vladimir Blazevski eben hierzu, die heute abend in Arte läuft: "Solomuns und Blazevskis Dokumentarfilm ist ein faszinierendes Mosaik des osteuropäischen Ameisenhandels, den Alexander Korkotadse weitaus treffender als 'Tschelnok' bezeichnet. Tschelnok heißt im Russischen Weberschiffchen, und in der Tat weben die 'Tschelnoki' mit ihren Handlungsreisen jenes Geflecht, aus dem die europäische Armutsökonomie besteht. Ein Geflecht, das zugleich ein weißer Fleck auf der europäischen Landkarte ist."

Über "Mangamania" in Deutschland schreibt Martin Zeyn: "Die deutsche Comicverlagslandschaft wandelt sich gravierend. Die vier großen Häuser Carlsen, Dino, Ehapa und Panini etablieren große Mangastrecken, teilweise wurden eigene Abteilungen geschaffen. Bei Carlsen hat der Umsatz von Mangas den der anderen Sparten übertroffen, zu denen immerhin Longseller wie 'Tim und Struppi' oder 'Spirou und Fantasio' gehören. Bei Ehapa kommt zwar kein Titel nur ansatzweise an die 2,5 Millionen Erstauflage des neuen 'Asterix' heran, aber auch hier setzen die Lektoren darauf, mit Mangas andere, nicht seit Jahrzehnten franko-belgisch sozialisierte Käuferschichten zu gewinnen."

Weitere Artikel: Detlef Kuhlbrodt erinnert sich in seiner Serie "68er im Wartestand" daran, "wie wir als Teenies Jack Kerouac und Sartre nachspielten". Rudolf Walther gratuliert der sozialistischen Schweizer Halbjahresschrift Widerspruch zum 20. Geburtstag. Und Heike Endter bespricht eine Arbeit des polnischen Künstlers Piotr Nathan im Münchner Haus der Kunst.

Schließlich Tom.

NZZ, 30.05.2001

Architekten denken an alles, wie Marc Zitzmann bei der Ausstellung "ArchiLab" in Orleans in Erfahrung brachte. Ein Beispiel: "Jede zweite Ehe wird heute in Frankreich geschieden. Bei denen, die im Zustand der Verliebtheit gemeinsam eine Wohnung oder ein Haus gekauft haben, kann die Trennung leicht zum Massaker mit der Kettensäge ausarten. Um solchem Ungemach vorzubeugen, hat das französische Büro Archi media eine 'Maison du divorce' konzipiert, deren eine Hälfte sich abkoppeln und in sichere Distanz zur anderen bringen lässt; die Verbindung mit einem neuen Hauspartner samt dazugehörigem Partnerhaus ist vorgesehen, ja erwünscht."

Besprochen werden Castorfs "Erniedrigte und Beleidigte" in Wien, eine Ausstellung über "Basilea" (eine weibliche Verkörperung der Stadt Basel) in Basel, eine Ausstellung von Noriyuki Haraguchi im Münchner Lenbachhaus und einige Bücher, darunter: "Die große Täuschung" von Gabriel Gorodetsky, der die Vorgeschichte von Hitlers Überfall auf Russland erzählt.
Stichwörter: Frankreich, Lenbachhaus, Russland, Wien

FR, 30.05.2001

Anders als Joachim Kaiser, der neulich in einem Spiegel-Interview bewegte Klage führte, sieht Ursula März keinen Niedergang der Literaturkritik in Deutschland: "Die journalistischen und feuilletonistischen Erfindungen eines Helmut Markwort haben die Anerkennung Gustav Seibts als einem der wichtigsten Kritiker des vergangenen Jahrzehnts nicht verhindert, der schrecklich ernst genommene Saisonwitz vom 'Fräuleinwunder' nicht die Rezeption und den Erfolg von Durs Grünbein und Ingo Schulze. Und nach wie vor bemisst sich der Umfang der Kritiken zu den Romanen Claude Simons weder an der Winzigkeit seiner Lesergemeinde noch an der Unverträglichkeit seiner sperrigen Literatur mit Bestsellerlisten, sondern allein an der schieren literarischen Bedeutung des Nobelpreisträgers. Die Niveaunorm, die sich darin ausdrückt, wird von der äußerlichen Verwandlung des Literatur- und Kritikbetriebs in ein Dauerfestival erstaunlich wenig beschädigt."

Eva Schweitzer schildert das Multiplex-Sterben in den USA: "Um die 37 000 Kinosäle gibt es inzwischen in den USA, 13 000 mehr als noch vor sieben Jahren - aber schon 3000 weniger als im Vorjahr. Während die Zahl der Leinwände um 40 Prozent wuchs, nahm die der Besucher nur um 13 Prozent zu. In New Orleans etwa hatten in den letzten Monaten bereits mehr als ein Drittel der insgesamt 175 Kinosäle dicht gemacht... Zu viele Multiplexe waren vor allen in den Großstädten im ganzen Land hochgezogen worden, nun erlebt das Kino selbst sein Pearl Harbor... Sechs der zehn großen Ketten der USA meldeten inzwischen Konkurs an. Und kein rettender Engel für Charlie ist in Sicht."

Weitere Artikel: Jochen Stöckmann berichtet über eine Potsdamer Tagung zum "Wilkomirski-Syndrom". Helmut Höge schreibt über die Basarwirtschaft in Osteuropa und Berlin als Fluchtpunkt für osteuropäische Emigranten. Hans Wolfgang Hoffmann stellt die von Michael Christl und Joachim Bruchhäuser entworfene hauptstädtische Landesvertretung Hessens vor. Besprochen werden Castorfs "Erniedrigte und Beleidigte" in Wien und eine CD der Cowboy Junkies.

FAZ, 30.05.2001

Verena Lueken erzählt den umstrittenen Fall des Professors Bob Kerrey, des Präsidenten der New School University von New York. Er gab zu, im Vietnamkrieg mit seinen Soldaten auf eine Gruppe unbewaffneter Zivilisten geschossen zu haben - 13 Frauen und Kinder kamen ums Leben. "Thanh Phong lag in einer als 'free fire zone' ausgewiesenen Gegend, die alle nicht mit dem Vietcong kooperierenden Bewohner längst verlassen haben sollten. Im Vietnam-Krieg waren die Soldaten angehalten, auch Zivilisten in dieser Zone zu töten. Im Golf-Krieg war es ihnen verboten." Über das Massaker existieren unterschiedliche Versionen. Kerrey behauptet, es sei ein Versehen gewesen. Ein nicht ganz glaubhafter Zeuge sagt allerdings, die Zivilisten seien zusammengetrieben worden. Lueken wundert sich über den schonenden Umgang der New Yorker Presse mit Kerrey: "Thanh Phong ist nicht MyLai. Könnte nicht dennoch ein Kriegsverbrechen vorliegen? Wäre nicht eine Untersuchung anzustellen, um diese Frage zu klären? Sollte Kerrey bis dahin nicht von seinem Amt als Universitätspräsident beurlaubt werden? Kaum einer fragte diese Fragen, kaum einer stellte sie als Forderung. Mit nur wenigen Ausnahmen stürzten die Kommentatoren an Kerreys Seite. Die Trustees der New School ließen trocken verlauten, dass 'Krieg die Hölle' sei: 'Schreckliche Dinge geschehen.' Andere, wie Christopher Hitchens, der jüngst durch ein kritisches Buch über Kissinger und die Menschenrechte hervortrat, sehen bereits die Forderung, auf Zivilisten zu schießen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Gruslige Szenen haben sich in Neu Delhi abgespielt, berichtet Martin Kämpchen: "Die Polizei erhielt Hunderte von Anrufen von Menschen, die die Gestalt nachts gesehen haben wollen. Dutzende zeigten angebliche Kratzwunden von scharfen, metallenen Krallen. Menschen auf der Flucht vor dem Ungeheuer stürzten zu Tode oder brachen sich Bein und Arm." Angeblich ist in der indischen Hauptstadt ein geheimnisvoller Affenmensch gesichtet worden, den die Polizei jetzt aber für nicht existent erklärte. "Der Statesman, der in Neu-Delhi und Kalkutta erscheint, sieht in dem 'Affenmann' ein Ventil für die Armen, um sich von unerträglichen psychischen Spannungen zu entlasten. Im Sommer die Wasserknappheit, die unzureichende Stromversorgung, die grassierenden Krankheiten, hervorgerufen durch Mangelernährung und dürftige hygienische Verhältnisse - alle solche Übel hätten in dem haarigen Phantom Gestalt angenommen."

Edo Reents wundert sich über Günther Jauchs Allgegenwart im deutschen Fernsehen: "Seine Haltung gegenüber dem Medium, in und mit dem er sein Geld verdient, ist die des latent Angewiderten, der alles für einen Sumpf aus Lug und Narretei hält, aus dem er desto glänzender herausragt. Er hält Distanz zum Fernsehen, obwohl er dauernd darin zu sehen ist."

Zur Gentechnik und bioethischen Fragen bietet die FAZ heute vier Artikel: Christian Schwägerl stellt ein großes Potsdamer Projekt vor, durch das der Zusammenhang zwischen genetischer Veranlagung, Errnährung und Gesundheit ergründet werden soll. Andreas Platthaus schildert das Hin und Her in der CDU zum Thema. Michael Thaele vom Bundesverband reproduktionsmedizinischer Zentren plädiert im Interview dafür, dass überzählige eingeforenene Embryonen zur Adoption freigegeben werden. Und ebenso denkt der Rechtsprofessor Christian Starck, für den die Menschenwürdegarantie auch im Reagenzglas gilt.

Weitere Artikel: Joseph Croitoru schildert eine historische Begegnung des rumänischen Staatschefs Ion Iliescu und des Thronprätendenten Michael I. Ekkehard Knoerer stellt den Comic "Berlin" von Jason Lutes vor, der in der Weimarer Zeit spielt und sich an ein erwachsenes Publikum wendet. Michael Krüger schreibt zum Tod der Zürcher Literaturagentin Ruth Liepman. Klaus Ungerer gratuliert dem Sportkommentator Heribert Fassbender zum Sechzigsten.

Besprochen werden Castorfs "Erniedrigte und Beleidigte" nach Dostojewski bei den Wiener Festwochen, eine Kiki-Smith-Ausstellung in New York (mehr hier), die Solothurner Literaturtage, eine Marino-Marini-Ausstellung in München, eine Ausstellung des späten Piet Mondrian im Fogg Art Museum in Boston, ein Pavillon des Architekten Steven Holl in Amsterdam, ein Bach-Ballett von Robert North in Dresden und eine Ausstellung über Bier im Deutschen Verpackungs-Museum Heidelberg.