Außer Atem: Das Berlinale Blog

"Ein Film, den es besser nie gegeben hätte" - der Berlinale-Pressespiegel

Von Thomas Groh
10.02.2019. Faith Akins Strunk-Verfilmung "Der goldene Handschuh" spaltet die Kritik: Von "richtig Scheiße" bis "ziemlich großartig" reicht das Spektrum. Ansonsten wird im Wettbewerb viel gegähnt, filmkünstlerische Sensationen finden sich im Forum. Der dritte Festival-Tag im Rückblick.
Kaputte Seele: Jonas Dassler als Fritz Honka
"Ein Film, den es besser nie gegeben hätte", schimpft Ekkehard Knörer, "richtig Scheiße", meint Hannah Pilarczyk (beide im Cargo-SMS-Archiv). "Respekt! Ich finde ihn ziemlich großartig", schreibt derweil Silvia Szymanski auf critic.de und Sonja Hartl freut sich auf Kino-Zeit.de, dass mit diesem Film endlich einmal das "Glamouröse", das das Kino Serienkillern gerne andichtet, hier einmal gebrochen wird: Fatih Akins Verfilmung von Heinz Strunks Kritiker- und Publikumserfolg "Der Goldene Handschuh" spaltet die Kritik und beschert der Berlinale damit seine erste wirkliche Kontroverse.

Im Mittelpunkt von Buch und Film steht Fritz Honka, der in den 70ern im Kneipenmilieu von St. Pauli vier Frauen ermordet und deren Leichen in seiner kargen Dachbodenwohnung versteckt hat. Dass man einem verwahrlosten Mann in einem verwahrlosten Milieu ungern dabei zusieht, wie er verwahrloste Frauen umbringt, versteht sich von selbst. Was aber schreiben die Befürworterinnen des Films? Szymanski sieht in dem Film "eine mitfühlende Liebeserklärung an ein Hamburger Milieu", sie mochte "die dichte, kenntnisreiche Ausstattung, das Casting, das temperamentvolle, leidenschaftliche Schauspiel. Die Thekenmänner. Die rettungslos betrunkenen Frauen, die weinen, wenn Heintje aus der Musikbox 'Du sollst nicht weinen' singt."



Ähnlich schreibt Hartl: "Akin erzählt zwar von abstoßenden Menschen, sein Film blickt auf die aber nicht mit Verachtung, Zynismus oder Ironie", sondern mit "Zuneigung. ... Es ist einfach, mit individuellen Figuren in Filmen Mitleid zu haben - aber mit dem offensichtlich Betrunkenen, der jede Woche in der Kneipe am Eck sitzt, haben das nur wenige." Und beide loben die dreckige Verranztheit der 70er-Jahre-BRD, die hier nochmal von der Leinwand runterschimmelt. Zweifel laut macht Wenke Husmann auf ZeitOnline: "Das Milieu bleibt vor allem Staffage, eine bis zum letzten Pin-Up-Poster perfekte Kulisse für Akins Horrorfilm." Thekla Dannenberg dazu im Perlentaucher: Akin "nimmt St. Pauli den Glamour, und gibt ihm das Entsetzen über seine kaputten Seelen zurück."

Bevor es weitergeht und weil es so schön passt: Auf ihrem gerade frisch veröffentlichten neuen Album singen die Goldenen Zitronen von der alten BRD.



Auch Rüdiger Suchland artikuliert auf Artechock, trotz Wohlwollen, einige Einwände: Jonas Dasslers von der Maske noch zugerichteter Honka ist "ein bis zur Lächerlichkeit monströses Wesen" und "aus einer Vorlage, die eigentlich von der deutschen Nachkriegszeit handelt, vom verdrängten Krieg und Faschismus, von den schwarzen Seiten des Wiederaufbaus, und von einem allgegenwärtigen Unterschicht-Milieu, von Männern die soviel saufen und rauchen, dass man nicht versteht, wie sie das auch nur fünf Jahre überleben, von alten Frauen und SS-Kämpfern, die bei Heintje weinen, und von Leichenteilen in leeren Hinterhöfen, wird in diesem Film eine Freakshow. Nur selten geht's tiefer, meist bleibt alles äußerlich."

Pferd, das nicht gestohlen werden will, in "Pferde stehlen"
Außerdem im Wettbewerb: Hans Petter Molands Verfilmung von Per Pettersons Roman "Pferde stehlen", in dem sich Stellan Skarsgård für noch zu drehende Western als Held empfiehlt, schreibt Perlentaucherin Anja Seeliger. In den Bildern des Films verliert sie sich gern, störenderweise wird der Film am Ende jedoch sehr zerlabert. Die literarische Vorlage lebt sehr von der norwegischen Landschaft, doch gerade hier kann der Film nicht punkten, schreibt eine sanft gelangweilte Kerstin Decker im Tagesspiegel: "Die Balance gelingt nicht, die Landschaft beginnt nicht, mit eigener Stimme zu sprechen."

Von Unsicherheitsgefühlen durchflutet: Marie Kreutzers "Der Boden unter den Füßen"
Aus Österreich kommt Marie Kreutzers Wettbewerbsfilm "Der Boden unter den Füßen", der von einer Key-Account-Managerin handelt, die bei all dem Alltagsstress "nicht einmal mehr mit sich selbst verwandt ist", wie Thekla Dannenberg im Perlentaucher beobachtet. Als Idee sei das nicht schlecht, doch "bis zum Schluss erschließt sich nicht, wohin die österreichische Regisseurin mit ihrem Film eigentlich will." Till Kadritzke von critic.de ging es ähnlich: Der Film ist "tadellos, sauber, vor allem fad. Die Figuren tun und sagen voraussehbare Dinge. Die Szenen kommen lieblos mechanisch aneinandergereiht daher." Tagesspiegel-Kritikerin Gunda Bartels sah einen von "Unsicherheitsgefühlen durchfluteten Film", dessen Regisseurin sich allerdings "zu viel vorgenommen" habe.

Monumentale Sensationen: "Heimat ist ein Raum aus Zeit" von Thomas Heise
Moumental, gar sensationell ist Thomas Heises "Heimat ist ein Raum aus Zeit" geworden, schreibt Thekla Dannenberg im Perlentaucher. Der auf die Untergangsgeschichte der DDR (und die Nachwehen daraus) spezialisierte Filmemacher reflektiert hier über die Geschichte seiner eigenen Familie, eine Intellektuellenfamilie, die das deutsche 20. Jahrhundert begleitet und geprägt hat. "Am spannendsten sind die Passagen, die sich mit Wolfgang Heise und seinen Kämpfen gegen die Partei beschäftigen. Als er, der große marxistische Philosoph der DDR, sich 1976 mit Robert Havemann gegen die Ausbürgerung Wolfgang Biermanns stellte, schäumten die SED-Funktionäre über so viel 'kleinbürgerliche Vorbehalte' und 'intellektualistische Rechthaberei' und nehmen ihm seinen Rektorenposten an der Humboldt Universität. Später diskutiert er in seinem Wohnzimmer mit Heiner Müller die Tragödie des modernen Sozialismus mit einer Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit, die einem den Atem rauben."

Weiteres: Wo ist eigentlich Terrence Malicks doch schon vor geraumer Zeit teilweise auch in Babelsberg, also vor den Toren Berlins, gedrehter "Radegund" abgeblieben, fragt sich Bert Rebhandl im FAZ-Blog.

Besprochen werden  Bernd Schochs "Olanda" (Tagesspiegel), Marius Olteanus "Monsters" (Tagesspiegel), Kelly Coopers und Pavol Liskas lose Adaption von Elfriede Jelineks "Die Kinder der Toten" (Tagesspiegel), Maryam Zarees Dokumentarfilm "Born in Evin" (Tagesspiegel, Interview mit der Filmemacherin auf ZeitOnline), Heinrich Breloers "Brecht"-Zweiteiler (Tagesspiegel), Rita Azevedo Gomes' Musil-Adaption "A Portuguesa" (Tagesspiegel) und der Dokumentarfilm "African Mirror" über den Schweizer Filmemacher René Gardi (Tagesspiegel).