9punkt - Die Debattenrundschau
Wer weiß denn sowas XXL
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Politik
Während Israels Abwehrkrieg gegen die Hamas im Zentrum einer empörten Weltöffentlichkeit stand, war weitgehend aus dem Blick geraten, "dass der Auslöser für die gegenwärtige Eskalation die größte antijüdische Mordaktion seit dem Holocaust war, begangen von der Hamas mit - mindestens - der Rückendeckung des iranischen Regimes", schreibt Richard Herzinger in seinem Blog: "Dieses steht überdies in einer engen, strategischen Allianz mit Russland - weswegen der mörderische Terrorangriff der Hamas und der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine nicht isoliert voneinander betrachtet werden dürfen."
Vor zehn Jahren wurden 276 überwiegend christliche Mädchen aus einer weiterführenden Schule in Chibok in Borno, Nigeria, entführt. Täter war eine Terrorgruppe, die "westliche Bildung" (Boko) "verboten" (haram) findet. Für kurze Zeit war die Welt auch hier empört. Bis heute sind viele dieser Mädchen verschwunden, viele wohl ermordet berichtet die Westafrika-Korrespondentin der taz, Katrin Gänsler, die über das Wüten des Islamismus in dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas aber sonst wenig mitteilt. Nur soviel: "Einen Boom erlebt das Entführungsbusiness seit 2020. Nach Angaben der Sicherheitsfirma Beacon Consulting mit Sitz in Abuja wurden alleine vergangenes Jahr mehr als 4.000 Menschen entführt und knapp 10.000 ermordet. So wurden Anfang März im Bundesstaat Kaduna mehr als 280 Schüler:innen vom Hof der dortigen staatlichen Schule verschleppt. Die Motivation dafür ist längst nicht mehr eine ideologische, sondern eine wirtschaftliche. Der Naira ist abgestürzt, die Inflation liegt bei knapp 32 Prozent, und nach Angaben der Weltbank wird die Wirtschaft 2024 gerade einmal um 3,4 Prozent wachsen. Die Bevölkerung nimmt hingegen jährlich um rund fünf Millionen zu."
Vor einem Jahr brach der Krieg im Sudan aus, der schon lange keine Medienaufmerksamkeit mehr bekommt. Dabei wurden hier 8,5 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben, eine große Hungerkatastrophe bahnt sich an, konstatiert eine Gruppe von UN-Funktionären im Tagesspiegel. "Die Gewalt hat Tausende von Menschen getötet, Millionen entwurzelt und eine humanitäre Katastrophe ausgelöst. Der Zusammenbruch im Sudan trägt zu den Aufständen in den Nachbarländern der Sahelzone bei und droht, die Region zu destabilisieren. Die erschreckenden Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind alarmierend. Dazu gehören Hunger, wahllose und ethnisch motivierte Tötungen in Darfur und sexualisierte Gewalt. All das hat zur weltweit am schnellsten wachsenden Vertreibungskrise geführt." Letztlich fordern die Autoren eine diplomatische Lösung, die das Leid in der Region beendet.
Außerdem: Frauke Steffens wirft für die FAZ einen Blick auf die politischen Stiftungen und Thinktanks der Republikaner in den USA, die immer offener einem Wahlsieg Trumps zuarbeiten und das gemäßigte Erbe der Republikaner fallen lassen. Zu den prominentesten Stiftungen, die das "Projekt 2025" fördern, gehören die einst renommierte Heritage Foundation und das Claremont Institut, "und auch die etablierten Thinktanks in Washington sehen zu, dass sie ihre politischen Vorschläge auf Trump zuschneiden".
Medien
"Es muss den Verantwortlichen in Israel sehr klar gewesen sein, dass dieser Zwischenfall nicht ohne Folgen bleiben würde."
- ÖRR Antisemitismus Watch (@Antisemiticblog) April 13, 2024
Mit diesem Satz beginnt Ingo Zamperoni in den Tagesthemen die Berichterstattung über den iranischen Angriff auf Israel und setzt damit gleich zu Beginn für… pic.twitter.com/1euwraBjdq
Doch nicht nur Ingo Zamperoni steht nun massiv in der Kritik, schreibt Kurt Sagatz im Tagesspiegel. Auch ARD und ZDF werden dafür kritisiert, nicht von ihrem normalen Programm, "Wer weiß denn sowas XXL" und "Das aktuelle Sportstudio", abgewichen zu sein, hieß es Samstagabend laut Sagatz bei X. "'Deutsche Nachrichtenlandschaft geht weiter nach Plan, weder ntv, Welt24 noch ARD/ZDF interessieren sich für den Angriff des Iran. Bestenfalls unten im Ticker. Man muss BBC oder CNN schauen, um über die aktuelle Lage Infos zu bekommen', bemängelt ein anderer Nutzer, der mit seiner Kritik nicht allein dasteht."
Europa
Es gibt auch in Russland neben den verheizten Soldaten ein paar Kriegsopfer, nämlich in Belgorod, nahe der ukrainischen Grenze, schreibt Irina Rastorgujewa in der FAZ. Dabei galt Belgorod in Russland als grünes und klimatisch begünstigtes Rentnerparadies! "Die Belgoroder Raketenabwehranlagen stehen nördlich der Stadt, wo vor dem Krieg 340.000 Menschen lebten. Von dort werden auch Raketen nach Charkiw abgeschossen. Alles, was nach Charkiw fliegt, fliegt also über Belgorod, und auf dem Weg fällt öfter etwas runter. Die Propaganda nennt das 'anormalen Munitionsausfall'. Und alles, was nach Belgorod fliegt, wird nicht vor der Stadt abgeschossen, sondern direkt über ihr. Für die russische Armee ist das bequemer, die Bewohner müssen es ertragen. Wer sich dagegen wehrt, gilt als 'Komplize der Faschisten' und Volksfeind."
Der türkische Staatsislam profitiert vom europäischen Grundsatz der Glaubens- und Gewissensfreiheit, konstatiert der Jurist Emrah Erken in der NZZ. So kann die türkische Religionsbehörde Diyanet ohne Probleme in Europa Moscheen bauen, in denen Wahlkampf für Erdogan gemacht wird: "Das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit wurde geschaffen, um zwischen verfeindeten christlichen Religionsgemeinschaften eine Friedensordnung herzustellen - und sicher nicht, um einem muslimisch geprägten Staat die Kontrolle über seinen Staatsislam auf europäischem Boden zu gewährleisten. ... Wenn Tariq Ramadan sagt, dass sich die Ziele der Islamisten im Westen besser erfüllen ließen als in vielen islamischen Ländern, meint er genau dies. In einem muslimisch geprägten Staat wäre es nicht möglich, weil sie Herren im eigenen Haus sind. Sie lassen ausländische Prediger grundsätzlich nicht zu und kontrollieren die Ausübung des Islam in ihrem Land. Tariq Ramadan hat leider recht. Die westliche Glaubens- und Gewissensfreiheit gibt den Islamisten eine Narrenfreiheit, von der sie in muslimisch geprägten Staaten nur träumen könnten.".
Der Observer-Kolumnist Kenan Malik empfiehlt eine Dokuserie bei Channel 4: "Defiance - Fighting the Far Right". Sie schildert in drei Folgen die antirassistischen Kämpfe in Großbritannien um 1980. Der brutale Rassismus jener Zeit ist fast vergessen, aber auch der Antirassismus stand unter ganz anderen Vorzeichen als heute, denn "wenige Aktivisten der "Asian Youth Movements" (AYM) sahen sich selbst als 'muslimisch' oder als 'Sikh'. ... Sie betrachteten sich als 'schwarz', was in diesen Tagen ebensosehr ein politisches wie ethnisches Label war." Die Politik reagierte auf die Unruhen, indem sie Repräsentanten der "Communities" mit Geldern und ein bisschen Macht ausstatteten - und halfen damit, die heute überall grassierende Identitätspolitik zu installieren: Dabei hatten AYM-Aktivisten "versucht, nicht nur den Rassismus, sondern auch die Hierarchien innerhalb der Minderheitengemeinschaften in Frage zu stellen, indem sie Traditionalisten in Fragen wie der Rolle der Frau und der Dominanz der Moschee kritisierten. Doch jetzt wurden viele dieser Traditionalisten vom Staat als die 'Guten' und 'Gemäßigten' unterstützt."