9punkt - Die Debattenrundschau

Hundertprozentige Tochter

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.10.2018. Putin fängt an Fehler zu machen, aber vorher hat er sein Volk an den Abgrund geführt, schreibt ein zorniger Viktor Jerofejew in der FAZRussland versucht, mit einigen Medien Einfluss auf die linke Szene in Deutschland zu gewinnen, berichtet t-online.de. In der FAZ versuchen zwei Lobbyisten den Gegnern der EU-Urheberrechtsreform nachzuweisen, dass sie Lobbyisten sind.  Deutschland und EU zahlen Geld an die palästinensische Autonomiebehörde. Die palästinensische Autonomiebehörde zahlt Attentätern mit ihrem Geld stattliche Renten, berichtet die Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.10.2018 finden Sie hier

Europa

Bisher wurde im Kreml laut und dreckig gelacht über die Annexion der Krim, den Nervengiftanschlag von Salisbury und die Kritik des Westens, schreibt der russische Schriftsteller Viktor Jerofjew in der FAZ. Aber Putin beginne Fehler zu machen, meint er: "Die groteske Logik der Autokratie wird zur Karikatur, der gebrochene Damm überflutet unser Land mit Lügen, ans Licht gekommene himmelschreiende Fälle von Folter in Gefängnissen verdichten sich unvermeidlich zu einer Kette sadistischer Begegnungen des Staates mit dem Volk. Spionageexistenzen platzen wie Seifenblasen, Homosexualität, hierzulande eigentlich eine Schande, wird in ihrem Fall zum schützenden Feigenblatt. Archaische Formen wie Vergiftung tauchen wieder auf als Beruhigungsmittel zur Rettung der Autokratie. Das Volk schwankt hierhin und dorthin auf der Suche nach einer nicht allzu beschissenen Obrigkeit. Aber wo soll man die hernehmen, so eine Obrigkeit? Putin zerreißt die Beziehungen zur ganzen Welt wie ein Sklave seine Ketten, um vor sich selbst zu fliehen. Aber wohin?"

Timothy Garton Ash hat definitiv die Nase voll von de Brexit-Verhandlungen. "Es ist jetzt glasklar, dass es keine Vereinbarung mit dem Rest der Europäischen Union gibt, die auch nur einen Bruchteil der von Brexit genannten Ziele verwirklichen kann", schreibt er im Guardian. "Der einzig gute Weg nach vorn ist, dass das Parlament die Frage an die Bürger zurückgibt und dass die Bürger entscheiden, dass Großbritannien in der EU bleiben soll."

Weitere Artikel: Ebenfalls in der FAZ schildert Bülent Mumay in seiner Kolumne, wie der wirtschaftliche Druck Erdogan dazu veranlasste, Deniz Yücel und den amerikanischen Pastor Brunson frei zu lassen.
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Urheberrecht

Während die FAZ selbst in Urheberrechtsdingen strikt objektiv berichtet (obwohl Perlentaucher-Autor Martin Vogel, den die FAZ im VG-Wort-Streit persönlich anging, eine Richtigstellung gegen sie durchsetzen konnte, mehr hier), wirft sie Gegnern der EU-Urheberrechtsreform Lobbyismus vor. Die Autoren Volker Rieck (Geschäftsführer eines "Content-Protection-Dienstleisters" ) und Jörg Weinrich (Geschäftsführer des Interessenverbands des Video- und Medienfachhandels in Deutschland) versuchen, der Kampagne #saveyourintenet und anderen "Gegners des Urheberrechts" nachzuweisen, dass sie von Google finanziert seien, auch wenn sie bedauern, dass der Nachweis wegen angeblich lückenhafter EU-Transparenzregister nicht gelingt: "Allerdings ist die Transparenz durch das Register arg begrenzt. Es werden Mitgliedschaften der Google Inc. angegeben, aber es gibt Tochterfirmen wie die Google Germany GmbH, deren Mitgliedschaften nicht angegeben werden", heißt es in ihrem Artikel. Wenn Beweise fehlen, kann man ja immerhin noch über theoretische Möglichkeiten berichten!
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Religion

Am 22. September ist eine "provisorische Übereinkunft" zwischen dem Vatikan und China unterzeichnet worden, die vorsieht, dass China den Papst als "geistliches Oberhaupt der rund 13 Millionen Katholiken im Land akzeptiert, der Papst acht von der staatlich kontrollierten Kirche ohne päpstliche Genehmigung ernannte Bischöfe nachträglich anerkennt und er bei Bischofswahlen ein Veto gegen bestimmte Personen einlegen kann, um einen neuen Findungsprozess einzuleiten", meldet Malte Lehming im Tagesspiegel. Bisher verbat sich China päpstliche Einmischungen in innere Angelegenheiten, Untergrundkirchen entstanden, die sich der Kontrolle durch den Staat entzogen. Auch jetzt sind Chinas Machthaber nervös, gelten Christen doch als "subversiv", so Lehming, aber: "China gewinnt den Papst als Komplizen im Kampf gegen die katholische Untergrundkirche, der außerdem darauf verzichtet, chinesische Menschenrechtsverstöße und Verletzungen des Rechts auf Religionsfreiheit öffentlich anzuprangern. Der Papst wiederum weicht das chinesische Prinzip auf, sich nicht in die inneren Angelegenheiten einmischen zu dürfen. Er leitet einen Prozess ein, von dem er sich eine Überwindung des Schismas der katholischen Kirche in China erhofft, und er ebnet den Weg, um die spirituelle Dynamik im Land mit beeinflussen zu können."
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Medien

Die taz bildet mit mehreren europäischen Zeitungen (etwa der Libération, der ungarischen HVG und der Gazeta Wyborcza) einen  Rechercheverbund, um den Aktivitäten europäischer Rechtspopulisten vor der als entscheidend geltenden Europawahl im Mai 2019 zu beobachten. Im Editorial heißt es: "Europa ist RechtspopulistInnen dabei negativer und positiver Bezugspunkt zugleich: Sie dämonisieren die EU als Angriff auf die nationale Souveränität - und bilden gleichzeitig auf europäischer Ebene Allianzen. Eine Internationale der NationalistInnen mag in der Vergangenheit selten gut funktioniert haben. Heute aber gibt es mehr als nur Parallelen unter den rechten Parteien Europas: Es gibt Synergien, Kooperationen, Koordination. Teils ist dies erst in Ansätzen spürbar, wie bei der Verbindung zwischen AfD und dem französischen Rassemblement National, der früher Front National hieß. Teils haben sich schon klare Achsen gebildet, wie jene zwischen der FPÖ in Österreich und Fidesz in Ungarn." Ein ausführlicher Artikel des Dossiers widmet sich der Medienpolitik dieser Parteien, die etwa die öffentlich-rechtlichen Sender gleichschalten und Zeitungen schließen oder mit Staatsanzeigen gefügig machen.

(Via turi2) Russland versucht mit einigen Medien Einfluss auf die linke Szene in Deutschland zu gewinnen, berichtet Jan-Henrik Wiebe bei t-online.de. Unter anderem erregte ein Medium namens Redfish jüngst Aufsehen mit der Dokumentation eines Polizeieinsatzes gegen einen Schwarzen, der sich der Festnahme widersetzte und dessen Festnahme zu Flaschenwürfen des umstehenden Kreuzberger Publikums führte: "Was nur wenige User, die auf den Clip reagieren, ihn kommentieren und weiterverbreiten, wissen dürften: Redfish ist Teil des staatlichen russischen Medienbetriebs Rossija Sewodnja. Nach Aussage der Chefin Lizzie Phelan gegenüber t-online.de ist es eine hunderprozentige Tochter der Videoagentur Ruptly, die wiederum zu RT, ehemals Russia Today, gehört. Sender und Agentur gehören dem staatlichen russischen Rundfunk. Weder im Impressum noch in der Selbstbeschreibung wird diese Verbindung öffentlich gemacht."

Der schöne Sommer war Gift für die Medien, berichtet Dirk Stascheit bei turi2 mit Blick auf die neuesten IVW-Zahlen (mit denen die Auflage einigermaßen objektiv gemessen wird): Die Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland bluten bei der verkauften Auflage auch im 3. Quartal mehrheitlich rote Tinte. Die Platzhirsche an der Spitze leiden am meisten: Bild verliert fast 10 Prozent und verkauft mit 1,52 Millionen Zeitungen 166.000 weniger. Fußball Bild, die eigentlich die Auflage steigern sollte, ist da schon eingerechnet. Die Bild am Sonntag rutscht sogar um fast 11 Prozent auf 831.717 ab. Nicht besser ergeht es den aktuellen Magazinen: Der Spiegel sackt um 6,7 Prozent auf 716.663 verkaufte Exemplare ab, der Stern büßt 12,8 Prozent ein und verkauft nur noch 514.889 Hefte."
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Gesellschaft

Die Cembalistin Christine Schornsheim, seit 2002 Professorin und seit Juli 2015 Vizepräsidentin an der Hochschule für Musik und Theater München, hat Siegfried Mauser, bis 2014 deren Präsident, wegen sexueller Nötigung verklagt, der daraufhin zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde (ein zweiter Prozess wegen Vergewaltigung gegen Mauser ist anhängig). In einem ganzseitigen FAZ-Interview schildert Schornsheim den Vorfall und die Reaktionen darauf - von den Beschwichtigungs-Strategien Mausers bis zur Komplizenschaft männlicher Vorgesetzter mit Mauser und den Versuch eines SZ-Musikkritikers und Mauser-Freundes, ihre Stasi-Akte einzusehen. Und sie erklärt, warum ihr Anschluss, den Fall zu Anzeige zu bringen, sechs Jahre dauerte: Das war 2016, als die Münchner Staatsanwaltschaft Anklage gegen Hans-Jürgen von Bose, Professor für Komposition, erhob. "Als ich mitbekam, dass Mauser über Bose Bescheid wusste, war das für mich der entscheidende Trigger. Da habe ich gesagt: Nee, das reicht mir jetzt. Wenn Mauser Hauptzeuge im Bose-Verfahren wird, will ich der Polizei erklären, dass ich meine Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Mauser habe. Das war der Auslöser für meine Anzeige sechs Jahre nach dem Vorfall. Wahrscheinlich kamen mütterliche Instinkte in mir hoch. In dem Moment, da es Studentinnen traf und nicht nur mich, war ich plötzlich stark genug, zur Polizei zu gehen."

Jonathan Liew schildert im Independent die Vorliebe vieler rechtspopulistischer Politiker wie Viktor Orban, Jair Bolsonaro  oder Matteo Salvini für den Fußball, dessen Hooliganismus oft ihr Ursprung war und dessen Potenziale sie nun zur Erlangung von Macht nutzen: "Es ist eine ernüchternde Erinnerung an die Macht des Fußballs: ein Sport mit tief verankertem Stammescharakter und einem großen, gebannten Publikum voller abgehängter proletarischer Männer und damit in vielerlei Hinsicht die perfekte Arena für den skrupellosen Populisten und seine machistisch nativistischen Fantasien."
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Politik

Deutschland und die EU zahlen Geld an die palästinensische Autonomiebehörde. Und diese zahlt Geld an Terroristen, die Israel angreifen, auch Zivilpersonen, berichtet Martin Niewendick in der Welt unter Bezug auf eine Studien des Berliner "Mideast Freedom Forum Berlin" (MFFB): "Dabei wird deutlich: Je schwerer eine entsprechende Straftat, desto höher die Zahlung. Das Kriterium für inhaftierte Attentäter ist dabei die Dauer der Haftstrafe. Eine Haft von bis zu drei Jahren bringt demnach umgerechnet 329 Euro monatlich. Bei zehn bis 15 Jahren werden 1.412 Euro gezahlt. Und wer 30 Jahre und mehr verbüßen muss, bekommt 2.823 Euro. Dazu kommen Zuschläge für Ehefrauen, Kinder und den Wohnort (Ostjerusalem oder Israel). Außerdem wird bei der Entlassung eine Prämie gezahlt."

In den Zeitungen werden die Rufe nach rückhaltloser Aufklärung nach dem kaltblütigen Mord an Jamal Khashoggi lauter. Im Tagesspiegel versuchen Christian Böhme, Christoph von Marshall und Juliane Schäuble die unterschiedlichen Interessen der USA, Deutschlands und der Türkei zu beleuchten, die im Fall Khashoggi bisher zurückhaltend reagieren: "Kein Aufschrei geht durch Deutschland wie seinerzeit bei der Verurteilung des Bloggers Raif Badawi zu lebensbedrohlichen Stockhieben. Wo ist die SPD, die die letzten drei Außenminister stellte? Deutschland muss lernen, wie eine Politik, wenn sie die Balance zwischen Werten und Pragmatismus aus den Augen verliert, Gefahr läuft, beim Korrekturversuch neue Fehler zu begehen. Berlin kann Riad nicht ignorieren." Auf Zeit Online fordert Michael Thumann: Die UN muss den Fall untersuchen. Im Guardian kommentiert Richard Wolffe.
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