9punkt - Die Debattenrundschau

Der Fall ist interessant

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2017. Zwei Artikel bei den Ruhrbaronen und beim Perlentaucher erzählen, wie Lamya Kaddor ihre Diskursgegnerin Necla Kelek über Jahre mit einem verfäschten Zitat verfolgte. In der Welt erzählt die Künstlerin Parastou Forouhar,  warum sie im Iran wegen Blasphemie vor Gericht steht. In der taz wenden sich die Genderforscherinnen Mona Motakef und Jana Cattien gegen "aufklärerische Ideale", die ja doch nur "auf kolonialistischen, rassistischen und sexistischen Ausschlüssen" beruhen. Und die New York Times deckt auf, wer das angebliche Leonardo-da-Vinci-Gemälde "Salvator Mundi" tatsächlich gekauft hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.12.2017 finden Sie hier

Europa

Der Autor Jörg Metes hat monatelang recherchiert, um einem von Lamya Kaddor vefälschten Zitat Necla Keleks auf die Spur zu kommen und die Wirkungen des Gifts zu untersuchen. Er publiziert seine Recherche bei den Ruhrbaronen: "Wie ist das Gerücht, Necla Kelek würde 'muslimischen Männern einen grundsätzlichen Hang zur Sodomie unterstellen' (Lamya Kaddor, 2016) in die Welt gekommen? Wie konnte es sich verbreiten? - Der Fall ist interessant. Die Übertragungswege sind interessant. Das Gerücht kursiert in Kreisen, die man für klüger gehalten hätte. Journalisten, Politiker und selbst Wissenschaftler zitieren Kelek seit nunmehr sieben Jahren mit etwas, das sie gar nicht gesagt hat."

Zu denen, die das Gerücht verbreiteten, gehören etwa Hilal Sezgin, Wolfgang Benz, Cem Özdemir, Klaus Jürgen Bade, Daniel Bax, Jakob Augstein. Nicht eines der Medien, in denen sie publizierten - das Whoiswho der deutschen  Qualitätsmedien von FAZ, Welt, taz, Zeit bis Deutschlandfunk und 3sat -  fühlten sich, das Gerücht betreffend, zu einem "Faktencheck" bemüßigt. Auch Thierry Chervel greift das Gerücht auf, geht ihm im Perlentaucher nach und findet manche weitere Belege. Mit Blick auf Keleks Diskusgegnerinnnen schreibt er: "Zu notieren ist also, dass ausgerechnet jene Fraktion, die von sich behauptet, für ein friedliches Zusammenleben einzustehen, mit fratzenhaftem Hass auf eine einzelne Autorin einschlägt, die sich erlaubt, eine andere Meinung zu vertreten. Der liebe Friede, den diese Autoren predigen, erweist sich als Vorderseite eines Fanatismus, der zubeißt, sobald sich die Gelegenheit bietet."

Paul Ingendaay klingt fast verzweifelt, wenn er in der FAS die Lage in Katalonien schildert, wo am Donnerstag Wahlen stattfinden - die Region ist heillos zerstritten: "Katalonien ist auf lange Sicht in zwei Lager gespalten, die sich innerhalb der Familien, in Freundes- und Kollegenkreisen wiederholen. Diese beiden Lager sprechen nicht dieselbe Sprache, lesen nicht dieselben Medien und hören einander nicht zu. Sie meinen auch nicht dasselbe, wenn sie von 'Demokratie' oder 'europäischen Werten' sprechen. 'Es sind keine Parallelwelten mehr', schrieb jetzt ein Kommentator in El Pais düster. 'Sondern Welten, die sich voneinander entfernen, immer weiter und einander immer unverständlicher.'"

"Unfassbare Gefühllosigkeiten" habe sich die Politik gegenüber den Opfern des Weihtnachtsmarktsattentats zuschulden kommen lassen, schreibt Regina Mönch in der FAZ: "In Berlin .. brauchte der Regierende Bürgermeister fast zwei Monate, um endlich Kondolenzschreiben und Briefe an die Verletzten zu schicken. Es sei schwierig gewesen, hieß es im Roten Rathaus, die Adressaten zu ermitteln. Und der Bürgermeister, paternalistisch gesonnen, wie er halt ist, schrieb, er wolle die Gesten der Anteilnahme, die ihn (!) aus aller Welt erreicht hätten, nun weitergeben."

Große Zustimmung bei Marko Martin in der Welt für den Vorschlag der Grünen, einen sogenannten "atmenden Rahmen" für die Aufnahme von Flüchtlingen zu schaffen. Im Klartext heißt das: der Zuzug kann beschränkt werden. "Wer darin eine konservative Kehre beklagt oder bejubelt, geht allerdings in die Irre, denn es ist liberales Denken, das sich nun langsam Bahn bricht. Ob dies unter dem Konkurrenzeinfluss von Lindners FDP geschah, ist eher zweitrangig. Ungleich wichtiger ist die reale Chance, dass ab nun Grüne wie der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer in der eigenen Partei nicht länger als abgedrehte Querulanten gelten, sondern endlich ernst genommen werden in ihrer Analyse-Genauigkeit und Visionskraft."

Ebenfalls in der Welt plädiert Seyran Ates dafür, Familiennachzug bei Flüchtlingen nur zu genehmigen, wenn die bereits hier lebenden Familienmitglieder erfolgreich Integrationskurse abgeschlossen haben: "Sich generell gegen den Familiennachzug auszusprechen wie Necla Kelek greift meines Erachtens zu kurz. Denn die Trennung von Familien und die Isolation in der Fremde haben fatale psychische Folgen für beide Geschlechter. Die Männer werden aggressiver, die Frauen depressiver. Gleichzeitig ist mir die Integrationspolitik in den vergangenen Jahren oft zu blind gewesen gegenüber dem politischen Islam sowie importierten antisemitischen und frauenfeindlichen Einstellungen. Da erwarte ich mehr klare Kante."
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Geschichte

Amerikanische Museen fangen langsam an, die Sklaverei und den Rassismus in Amerika aufzuarbeiten, berichtet Marc Neumann in der NZZ. Als Beispiel nennt er eine Ausstellung in Mount Vernon über die "Gutsherrenfamilie" George Washingtons und ihrer 500 Sklaven: "Greifbar in der Ausstellung ist das Bemühen nach Balance zwischen der bald brutalen, bald banalen Lebenswelt der versklavten Menschen und Washingtons eigener Entwicklung vom jungen Mann, der ohne große Bedenken Sklaven hielt, zum Gegner der Sklaverei. 1799 besiegelte er in seinem Testament die Freilassung aller Sklaven, die sich in seinem Besitz befanden. Der Spagat gelingt. Die Ausstellung ist zuweilen geschönt und weitgehend sicher vor Schockrisiken. ... Trotzdem ist sie für die Mehrheit der Besucher nicht leicht verdaulich. So manchem der patriotischen Touristen, die aus allen Landesteilen nach Mount Vernon pilgern, ist die Bestürzung angesichts der noch nie gesehenen Zeugnisse der Sklaverei ins Gesicht geschrieben."
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Politik

Die eigentlich in Deutschland lebende iranische Künstlerin Parastou Forouhar, Tochter zweier ermordeter Oppositionspolitiker, steht derzeit in Teheran wegen angeblicher Blasphemie und Propaganda vor Gericht. Im Interview mit der Welt erzählt sie, welche Kunstwerke der Anlass sind: "Es geht um zwei Kunstwerke aus den Jahren 2003 und 2008 mit dem Namen 'Countdown'. Eins davon bestand aus Installationen, die wie Stühle aussehen und mit traditionellen Aschura-Tüchern bezogen sind, wie sie zu bestimmten schiitischen Trauerzeremonien benutzt werden. Aber das ist nichts Heiliges, diese Tücher findet man auch in Taxis oder auf Lastwagen. ... Die zweite Arbeit besteht aus einer Art von Hippiesitzsäcken, die ebenfalls mit den Aschura-Tüchern bedeckt sind. Man hat Anstoß daran genommen, dass man sich auf die Tücher setzen und sie so angeblich entweihen kann. Ich wollte einfach nur die Schläfrigkeit des Klerus im Iran darstellen, die Bequemlichkeit, die von religiöser Seite herrscht, das sture Auf-der-Stelle-Bleiben."

Hm, Neuigkeiten über den "Salvator Mundi". Nicholas Kulish und Michaewl Forsythe gehen für die New York Times einigen spektakulären Neuerwerbungen nach, die offenbar alle vom saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman getätigt wurden, darunter ein Schloss in Frankreich für schlappe 300 Millionen Dollar und angeblich auch das angebliche Leonardo-da-Vinci-Gemälde, das neulich versteigert wurde: "Letzten Monat wurde wurde Leonardo da Vincis Gemälde 'Salvator Mundi' für 450,3 Millionen Dollar an einen anonymen Käufer versteigert, den höchsten Preis, der je auf eine Auktion für ein Kunstwerk bezahlt wurde. Der Käufer war, wie die Times herausgefunden hat, ein obskurer saudischer Prinz mit engen Verbindungen zum Kronprinzen Mohammed. Personen, die mit dem Verkauf befasst waren und amerikanische Geheimdienstoffizielle sagten, dass er auf Geheiß des Kronprinzen gehandelt habe."
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Religion

Noch einmal Necla Kelek. In einer Kolumne, die das Redaktionsnetzwer Deutschland der Madsack-Gruppe publiziert, attackiert sie den Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, Jesuitenpater Tobias Zimmermann, der erklärt hat, eigens eine muslimische Lehrerin mit Kopftuch einzustellen, um gegen das Berliner Neutralitätsgesetz zu protestieren, das eine Trennung von Staat und Religion und keine religiösen Symbole an staatlichen Schulen will. "Der deutsche Staat hat der Kirche das Wohlverhalten durch eine Jahrhundertrente und Gewährung von Privilegien abgekauft. Dass ein katholischer Pater meint, er könne für seine Schule diesen Vertrag aufkündigen und sich dafür mit dem politischen Islam gemein macht, ist einfach reaktionär. Dass er die ihm anvertrauten Schüler für eine politische Demonstration benutzt, ein Fall von politischem Missbrauch."
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Kulturpolitik

Stefan Locke schildert im politische Teil der FAS die erstaunlichen Umstände am Militärhistorischen Museum in Dresden, das in Querelen untergeht und wo das aufwendige und vielversprechende Ausstellungsprojekt über "Gewalt und Geschlecht" kurz vor Eröffnung  schlicht und einfach abgesagt wurde: "Das alles verwunderte auch externe Beteiligte, Katalogautoren ebenso wie private Leihgeber und internationale Museen wie die Eremitage in Sankt Petersburg, das Veterans Museum in Chicago oder das Spielemuseum im amerikanischen Rochester. Einige zogen ihre Ausstellungsobjekte auch aufgrund anderer Verpflichtungen bereits zurück, der Ruf des Hauses in der Branche ist nun zumindest ramponiert."
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Medien

Gerhard Gnauck erzält in der Sonntags-FAZ, wie die polnische Regierung private Medien behindert - etwa durch juristische Verfolgung. Aber "das erste Mittel, Kritikern das Leben schwerzumachen, war nach dem Regierungswechsel der Entzug der Anzeigen von Staatsfirmen. Er hat vor allem der liberalen Gazeta Wyborcza, der größten seriösen Tageszeitung, schwer geschadet und zu Entlassungen geführt."
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Stichwörter: Polen, Behinderte

Ideen

In der taz erklären die beiden Gender-Forscherinnen Mona Motakef und Jana Cattien im Gespräch mit Peter Weissenburger, dass sie sich mit ihren Gender Studies vor allem von "Rechten" verfolgt fühlen. Es gebe einen Diskurs der Anti-Political-Correctness. Die beiden kritisieren auch, dass ein Reporterpreis jüngst an den Zeit-Journalisten Hanno Rauterberg ging, der die Debatte um Dana Schutz und um "kulturelle Aneignung" kritisiert hatte: "Er beruft sich auf aufklärerische Ideale von Kunstfreiheit - die basierten aber von Anfang an auf kolonialistischen, rassistischen und sexistischen Ausschlüssen. Es ist interessant, wie die Anti-Political-Correctness versucht, den Westen als Zentrum von Kultur und Werten zu verteidigen; 'Vor 30 Jahren, bevor die People of Color und die Frauen uns alles kaputtgemacht haben, haben wir so tolle Kunst produziert.' Ich finde diese Rhetorik problematisch."
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Überwachung

In den Flüchtlingscamps von Jordanien müssen sich die Flüchtlinge per Iris-Scan registrieren lassen, berichten Christina zur Nedden und Ariana Dongus auf Zeit online. Das EyeHood genannte biometrische Erkennungssystem sorgt für lückenlose Überwachung, auch in der Zukunft, denn die Iris ändert sich bei Erwachsenen nicht mehr. Eingesetzt wird der Scanner vom Betreiber der Flüchtlingscamps, dem Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR): "Wenn Millionen von Menschen ihre Iris digital scannen lassen, entstehen entsprechend viele Daten. Das WFP kann dadurch feststellen, welche Produkte Flüchtlinge in den Supermärkten am häufigsten kaufen und sie entsprechend nachbestellen. Zudem kann es die Preise kontrollieren und zum Beispiel sicherstellen, dass die von ihm selbst betriebenen Läden nicht teurer oder günstiger sind als andere. Das WFP überprüft anhand der Daten auch, ob sich die Flüchtlinge ausgewogen ernähren. Wehren können die sich gegen die Überwachung ihrer Konsumgewohnheiten nicht."
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