Essay

Stakkato der Infamie

Von Thierry Chervel
18.12.2017. Lamya Kaddor hat die religionskritische Autorin Necla Kelek über Jahre mit einem verfälschten Zitat desavouiert. Eine ganze Kohorte bekannter Autoren und Autorinnen von Hilal Sezgin über Wolfgang Benz, Cem Özdemir, Klaus Jürgen Bade bis hin zu Jakob Augstein hat das Gerücht bis zum Überdruss wiederholt. Nein, Kelek behauptet nicht "frei von der Leber weg", dass muslimische Männer es zur Not mit Tieren treiben. Kaddor behauptet, dass Kelek das behauptet.
Lamya Kaddor hat die religionskritische Autorin Necla Kelek über Jahre mit einer falschen Behauptung desavouiert. Eine ganze Kohorte bekannter Autoren und Autorinnen von Hilal Sezgin über Wolfgang Benz, Cem Özdemir, Klaus Jürgen Bade bis hin zu Jakob Augstein hat das Gerücht bis zum Überdruss wiederholt. Es ist eine Verleumdungskampagne. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass viele Autoren das Gerücht "guten Glaubens" beziehungsweise verblendet von Hass weitergetragen haben. Von Journalisten und Wissenschaftlern darf man erwarten, dass sie derart heikle Ausagen überprüfen. Auch die seriösesten Medien  - FAZ, Deutschlandfunk, Zeit, taz - sahen sich zu keinem "Faktencheck" veranlasst, bevor sie das Gerücht verbreiteten.

Jörg Metes hat für diese Geschichte, die er gestern bei den Ruhrbaronen publizierte, monatelang recherchiert und macht sie mit Dutzenden von Belegen unabweisbar. Ihm verdanke ich die meisten Fundstellen, auf die ich hier eingehe. Einige Details kann ich noch ergänzen.


Religionskritik oder Rassismus?

Es ist eine Geschichte über eine Religionslehrerin und eine Religionskritikerin. Kaddor forschte zuletzt mit Mitteln der Mercator-Stiftung über "Islamfeindlichkeit unter Jugendlichen". Kelek arbeitet gerade an einer Recherche über Islam-Unterricht an den Schulen. Kaddor verkörpert gewissermaßen jenen Wunsch-Islam, "der zu Deutschland gehört" und keine Probleme bereitet. Kaddor sieht zwar einerseits eine "Bringschuld" der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Muslimen, die hier leben, aber sie meint es sicher auch ernst mit ihrem "liberalen" Islam - jüngst organisierte sie etwa eine Demonstration von Muslimen gegen den Terror. Nur bei Diskursgegnerinnen kennt sie keine Gnade.

Lügt sie oder ist es die Feindseligkeit, die blind macht? Kaddors Waffe ist ein falsches Zitat. Um es also von vornherein festzuhalten: Es ist nicht die "sogenannte Islamkritikerin Necla Kelek", die "gerne mal im Interview mit dem ZDF allen muslimischen Männern pauschal eine Neigung zur Sodomie unterstellt". Kelek hat so etwas nie behauptet. Sondern Kaddor behauptet, dass Kelek das behauptet.


Der Weg des Gerüchts

Den Vorwurf machte Kaddor ihrer Diskurgegnerin zum ersten Mal am 21. Juli 2010 in einer Pressemitteilung des gerade von ihr gegründeten Liberal-Islamischen Bundes: Es "sei nur eine Äußerung aus einem Interview (Keleks) mit dem ZDF genannt: 'Der muslimische Mann muss ständig der Sexualität nachgehen. Er muss sich entleeren, heißt es, und wenn er keine Frau findet, dann eben ein Tier… Das hat sich im Volk durchgesetzt, das ist Konsens.'" Mit dieser Pressemitteilung protestierte Kaddor gegen die geplante Verleihung des Freiheitspreises der Naumann-Stiftung an Necla Kelek.

In der Folge werde ich - immer mit dem Artikel von Metes als Wegweiser - den Weg dieses versuchten kollektiven Rufmords nachzeichnen.

Kaddor bezieht sich mit ihrem gefälschten Zitat auf ein Interview, das Kamran Safiarian für die ZDF-Sendung "Forum am Freitag" am 16. Juli 2010 mit Necla Kelek führte. Das Interview dauert in der gesendeten Fassung eine Viertelstunde - unterhalten haben sich Kelek und Safiarian laut Kelek etwa eine Stunde lang. Im Interview gibt es also Schnitte. Safiarian befragt Kelek über ihr gerade erschienenes Buch "Die Himmelsreise". Kelek schildert den Islam darin und im Interview als "System", das sich nicht in einer spirituellen Botschaft erschöpft, sondern einen umfassenden Zugriff auf das Individuum und die Gesellschaft beansprucht.

Kelek hat zum Zeitpunkt des Gesprächs schon manche Attacken hinter sich, die der Interviewer anspricht. SZ-Feuilletonchef Thomas Steinfeld etwa zählte sie im Januar des Jahres 2010 neben anderen Autoren zu "Unseren Hasspredigern". Claudius Seidl, Feuilletonchef der FAS, reihte sie ebenfalls im Januar 2010 bei "Unseren heiligen Kriegern" ein. Hilal Sezgin hatte Kelek im März des Jahres als "Meisterin der unbelegten Behauptung'" verunglimpft - und so weiter.

Safiarian konfrontiert Kelek in dem ZDF-Interview mit diesen Attacken, auf die sie mit großer Geduld repliziert. Am Ende des Interviews plädiert Kelek für eine offene, konstruktive Debatte - eine Hoffnung, die sich für sie nicht erfüllen wird. Ihre Gegner werden allein darauf setzen, ihr zu schaden.

Das Zitat, das Kaddor für die Skandalisierung umbauen wird, fällt etwa in Minute 10 des Interviews - Schnitte sind innerhalb dieser Passage nicht auszumachen. Wörtlich abgeschrieben klingt Keleks Zitat wie ins Unreine gesprochen - die Art Zitat, die man bei einem Printinterview erst in Fasson bringen und dann autorisieren lassen würde.

"Da gibt es", sagt Kelek also in wörtlicher Transkription, "ein Menschenbild, was konstruiert ist: Die Menschen haben nicht die Fähigkeit, ihre Sexualität zu kontrollieren, und besonders der Mann nicht. Und der ist ständig eigentlich herausgefordert und muss auch der Sexualität nachgehen. Er muss sich 'entleeren', heißt es, und wenn er keine Frau findet, eben dann ein Tier, oder eine andere Möglichkeit, wo er auch dem nachgehen muss. Und das hat sich im Volk so durchgesetzt, das ist ein Konsens, wo auch die älteren Damen, und Frauen, immer davon sprechen: 'wenn du dich jetzt so kleidest, er muss ja, er kann nicht anders'."

So chaotisch sich das Zitat liest, so klar ist doch: Kelek spricht über eine Ideologie, nicht über Menschen einer bestimmten Religion. Es geht um die islamische Idee von Sexualität. Männliche Sexualität wird demnach im Islam als unbeherrschbar angesehen. Falls die männliche Sexualität nicht eingehegt wird - so das Bild des Islams und die  weit verbreitete Ansicht in muslimischen Gesellschaften nach Kelek - entlädt sie sich, wo sie kann. So ist auch das Wort "Konsens" in Keleks Äußerung zu verstehen: Ein bestimmtes Bild der Sexualität von Männern (gleich welcher Religion) sei in den muslimischen Gesellschaften Konsens.

In ihrer Lust auf Diffamierung machen Keleks Gegnerinnen daraus einen Konsens darüber, dass muslimische Männer es zur Not mit Tieren treiben. Aber nein! Der Islam meint nach Kelek, dass alle Männer es zur Not mit Tieren treiben. Und er meint, dass er allein die richtigen Vorkehrungen dagegen trifft.

Man kann Keleks Ansicht über den Islam kritisieren - aber Kaddor macht etwas ganz anderes. Sie schiebt einige Puzzle-Steinchen hin und her, baut das Zitat um und ändert damit die gesamte Aussage Keleks.

Kaddor zitiert: "Der muslimische Mann muss ständig der Sexualität nachgehen. Er muss sich entleeren, heißt es, und wenn er keine Frau findet, dann eben ein Tier…"

Aus einer von Kelek skizzierten Aussage des Islams über Sexualität macht Kaddor ein rassistisches Vorurteil Keleks über muslimische Männer. Kaddor ist es, die das Adjektiv "muslimisch" vor den "Mann" setzt. Kaddor ist es, die Kritik an Religion zu einer Form des Rassismus umbaut. Mit dieser Verfälschung schafft sie eine Munition, die im Diskurs gegen Kelek bis heute von den verschiedensten Autoren gegen sie eingesetzt wird. Es erwies sich als eine äußerst wirksame Waffe. Nichts eignet sich besser zur Diffamierung einer Person als eine angeblich belegte rassistische Behauptung.

Vergessen wir nicht: Erst durch diese aktive Verfälschung einer ursprünglich religonskritischen Äußerung durch Kaddor kursiert ein Gerücht über muslimische Männer und ihre angebliche Neigung zur Sodomie. Keleks Feinde sind die Urheber des Gerüchts.

Kaddor kümmerte sich nach dem ersten Falschzitat sehr aktiv darum, dass sich das Gerücht verbreitet. Auch sie selbst platziert es immer wieder bis ins aktuelle Jahr 2017, wie Metes zeigt.

Die erste Pressemitteilung ihres gerade gegründeten Liberal-Islamischen Bundes erzeugte den erwünschten Aufruhr zwar zunächst nicht. Die Presse reagierte im Juli 2010 so gut wie gar nicht, die Friedrich-Naumann-Stiftung ließ sich von ihrem Vorhaben, Necla Kelek im November des Jahres den Freiheitspreis zu verleihen, nicht abbringen.

Aber immerhin regte sich etwas beim ZDF. Das "Forum am Freitag" entschuldigte sich noch im Juli 2010 quasi bei den Autoren des Blogs Dontyoubelievethehype: "Wir haben Verständnis dafür, dass die Aussagen von Frau Kelek über die Sexualität des Mannes verärgern. Sie geben auch nicht die Meinung der Redaktion wieder… Dennoch wäre eine deutlichere Distanzierung in diesem speziellen Fall sicher wünschenswert gewesen." Auch die Autoren des inzwischen nicht mehr aktiven Blogs dontyoubelievethehype.com sprachen - entgegen dem Titel ihres Mediums! - schon von dem "Vorwurf, dass es Konsens ist, dass muslimische Maenner auch mit Tieren Sex haben duerfen".


Stakkato der Infamie

Hier nun in chronologischer Reihenfolge nur einige Äußerungen mehr oder weniger prominenter Autoren und Autorinnen, die das Gerücht wissentlich oder ungeprüft, aber stets böswillig weiter trugen. Es ist eine Auswahl - den gesamten Überblick gibt Metes in seinem Text. Die Aufzählung mag ermüden, aber es ist wichtig, die falschen Zitate aufzuführen und ihre Autoren namhaft zu machen.

Die nächste, die nach Kaddor das Gerücht verbreitete, war die Publizistin und Tierrechtlerin Hilal Sezgin. Befragt von Tina Mendelsohn sagte sie am 30. August 2010 in der 3sat-Sendung "Kulturzeit" zum Stichwort Necla Kelek: "Sie hat auch neulich im ZDF etwas über die allgemeine Haltung der Muslime zur Sodomie gesagt, dass die Männer sich entleeren müssten, und dass das auch in der ganzen muslimischen Gesellschaft weithin anerkannt sei. Die redet in einer gehässigen Weise über Muslime, Türken, Araber, wen auch immer, das ist schon ziemlich schrecklich."

Schon am 20. August hatte der Youtube-Nutzer "clearproof" den Interview-Auszug online gestellt. Seine Überschrift: "Hasspredigerin Necla Keleks absurdes Gedankengut: Sodomie ist mit ihrem Glauben vereinbar." Immerhin wird das Zitat durch diese Youtube-Präsenz nachvollziehbar. In der ZDF-Mediathek ist längst jede Spur von dem Interview verschwunden. Nur eine umständliche Nachfrage bei Pressestelle und Archiv ermöglichte es mir, das ganze Interview zu sehen - aber nicht fürs Publikum zur Verfügung zu stellen.

Es folgte der Journalist Christoph Heinlein, damals beim Netzportal news.de, heute bei der Süddeutschen Zeitung. Am 2. September erschien bei news.de sein Artikel über die angebliche Äußerung Keleks - Überschrift und Unterzeile: "Muslime müssen Sex haben - notfalls mit Tieren? Äußerungen der Sarrazin-Unterstützerin Necla Kelek sorgen für Ärger. Die liberale Naumann-Stiftung will ihr trotzdem den 'Freiheitspreis' verleihen. FDP-Integrationspolitiker Serkan Tören ist sauer." Hintergrund war also immer noch, dass Kelek am 6. November 2010 der Preis der Naumann-Stiftung überreicht werden sollte. Heinlein spricht für seinen Artikel mit Lamya Kaddor, die erklärt, dass der Preis für Kelek "ein Schlag ins Gesicht aller Muslime und Musliminnen sei". Als nächstes spricht er den FDP-Politiker Serkan Tören an, der bei Heinlein wie folgt zitiert wird: "Was Kelek im 'Forum am Freitag' gesagt hat, sei allerdings wirklich schlimm. 'Das geht schon in Rassismus über', sagt der FDP-Politiker zu news.de. 'Das zeigt, welchen Geistes sie ist.' Angesichts solcher Angriffe auf jeden einzelnen Muslim - auch er selbst fühlt sich da angesprochen - dürfe man Kelek auch als Soziologin nicht mehr ernst nehmen, sagt Tören."

Am 27. Oktober 2010 startete der Grünen-Politiker Ali Bas, heute Abgeordneter im NRW-Landtag, eine Petition gegen die Vergabe des Freiheitspreises an Necla Kelek: "So hat sie kürzlich in einem Interview muslimischen Männern einen gesteigerten Sexualtrieb, der im schlimmsten Fall zu Sodomie führt, unterstellt", heißt es im Text des Aufrufs.

Am 6. November 2010 überreichte die Naumann-Stiftung den Preis an Kelek. Am selben Tag veröffentlicht der Zentralrat der Muslime eine Erklärung, in der er die Preisverleihung verurteilt. Kelek habe, so heißt es, "erst kürzlich in einem ZDF 'Forum am Freitag'-Interview den angeblich gesteigerten Sexualtrieb von muslimischen Männern und die Sodomie als islamische Handlung deklariert". Zwei Tage später teilt der Vorsitzende des Zentrarats, Aiman Mazyek, mit, dass er deshalb seine Mitgliedschaft in der FDP ruhen lasse (mehr hier bei Metes).

Am 14. November 2010 erschien in der Welt am Sonntag ein Interview, das der Journalist Till-Reimer Stoldt mit Lamya Kaddor geführt hat (mehr bei Metes). Kaddor wiederholt noch einmal wörtlich ihr Falschzitat: "Ich zitiere mal eine Aussage von ihr: 'Der muslimische Mann muss ständig der Sexualität nachgehen. Er muss sich entleeren, heißt es, und wenn er keine Frau findet, dann eben ein Tier ... Das hat sich im Volk durchgesetzt, das ist Konsens'." Till-Reimer Stoldt bestätigt: "Klingt arg zugespitzt." Und Lamya Kaddor gab zurück: "Zugespitzt? Das ist jenseits von Gut und Böse! Abgesehen davon gilt Sodomie im Islam als streng verboten. Es ist doch nicht jeder Mann unter 1,3 Milliarden Muslimen weltweit ein Sodomit!"

Am 27. Mai 2011 zeigte Cem Özdemir in einem Artikel für die FAZ, die sich ebenfalls nicht herabließ, den Wahrheitsgehalt der Behauptung zu verifizieren, wie man das Zitat verfälschen kann, indem man schlicht behauptet, es sei von "muslimischen Männern", statt von Männern ganz allgemein die Rede, und es dann Necla Kelek als eigene Meinung in den Mund legt: "Man stelle sich auch einmal vor, welcher Sturm der Entrüstung durchs Land gehen würde, wenn er Folgendes über Christen behaupten würde: 'Die Menschen haben nicht die Fähigkeit, ihre Sexualität zu kontrollieren, und besonders der Mann nicht. Der ist ständig eigentlich herausgefordert und muss auch der Sexualität nachgehen, er muss sich entleeren, heißt es, und wenn er keine Frau findet, dann eben ein Tier oder eine andere Möglichkeit. Das hat sich im Volk so durchgesetzt, das ist so Konsens.' Mit diesen Worten hat Necla Kelek 2010 in einem ZDF-Interview die Sexualität des muslimischen Mannes beschrieben."

Nein, nochmal, das hat sie nicht. Kelek trifft eine Aussage über den Islam, der ihrer Ansicht nach ein Bild von der Sexualität aller Männer hat. Kelek unterscheidet nicht zwischen christlichen, blonden, kurzen, langen, schwarzen, weißen, muslimischen, adipösen, klugen, faulen, atheistischen Männern. Der Islam unterstellt nach Keleks Aussage durchweg allen Männern, dass sie ihre Sexualität nicht beherrschen können. Darum muss Zwang auferlegt werden, von der Religion, von der Familie, von der Gesellschaft. Und Frauen sollen sich möglichst bescheiden kleiden, um nicht der entfesselten Gier der Männer gleich welcher Religion zum Opfer zu fallen.


Lamya Kaddor und Thorsten Gerald Schneiders

Metes zeigt sehr schön, wie sich in der Folge Kaddor und ihr Ehemann Thorsten Gerald Schneiders als das perfekte  Power Couple erweisen, um dem Gerücht einen instutionellen Rückhalt zu geben. Denn nicht nur Kaddor wiederholte es, wo sie nur konnte - etwa in der Zeit, aber auch in pädagogischen Publikationen - auch Thorsten Gerald Schneiders zog an allen Strippen, die ihm als Redakteur des Deutschlandfunk zur Verfügung stehen. Seit 2015 leitet er die Sendung "Koran erklärt". Laut einem Artikel Raphael Rauchs in der in der medienethischen Zeitschrift Communicatio socialis handelt es sich dabei um die reichweitenstärkste islamische Sendung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Die Sendung komme auf etwa 250.000 Hörer, gegenüber nur 40.000 Zuschauern beim "Forum am Freitag" in ZDFinfo.

Im April 2011 veröffentlichte Schneiders den Aufsatz "Grundzüge der Islamfeindlichkeit in Deutschland", wo er Keleks Zitat verkürzt wiedergibt, aber behauptet, es handle sich um eine wortwörtliche Transkription (mehr dazu bei Metes). Im April 2012 veröffentlichte Thorsten Gerald Schneiders einen weiteren "wissenschaftlichen" Aufsatz, in dem er expliziter wird und schreibt: "Um das gewünschte Bild der Muslime zu verdeutlichen, werden Klischees und Vorurteile zum Teil erschreckend unverhohlen breitgetreten. Necla Kelek rückt die muslimischen Männer in den Bereich der Sodomie."

Im Juli 2011 wiederholte Lamya Kaddor in ihrem Blog zu Kelek: "Als eins von vielen Beispielen für ihre oft entwürdigende Art, über muslimische Frauen und Männer zu sprechen, sei nur eine Äußerung aus einem Interview mit dem ZDF genannt: 'Der muslimische Mann muss ständig der Sexualität nachgehen. Er muss sich entleeren, heißt es…'

Im August 2012 schrieb Lamya Kaddor in einem Text für den Deutschlandfunk: "[Kelek] unterstellt Muslimen schon mal pauschal den Hang zur Sodomie."

Danach trat das Gerücht den Marsch durch die Institutionen an: Es wurde in Vorträgen einer Tagung der Deutschen Islam Konferenz (DIK) zum Thema "Muslimfeindlichkeit - Phänomen und Gegenstrategien" untergebracht, also in jenem instituierten Dialog, mit dem das Bundesinnenministerium den Islam an sich heranziehen, um ihn mit dem Versprechen auf Posten, Geld und Einfluss zu domestizieren.

In zwei "wissenschaftlichen" Vorträgen wird die falsche Behauptung über Kelek hier verbreitet. Schneiders sagte in seinem Vortrag über "Islamkritik - Deckmantel für feindliche Bestrebungen und notwendiges Korrektiv": "Warum Kelek so umstritten ist, verdeutlicht beispielsweise eine öffentliche Äußerung, in der sie muslimische Männer pauschal in den Bereich von Sodomie rückt." Schneiders' Kollegin Naime Cakir wiederholte das Falschzitat ebenfalls. Beide Beiträge werden im "Tagungsband Muslimfeindlichkeit" des Bundesinnenministeriums abgedruckt und erhalten so die höheren Weihen eine offiziellen Wahrheit.

Und so geht es weiter: Im Juni 2013 brachte Lamya Kaddor das Gerücht nochmal in der Zeitschrift Christ und Welt unter: "Kelek wird selbst von wissenschaftlicher Seite seit Jahren ein erheblicher Anteil an der Verbreitung von Islamfeindlichkeit beigemessen, etwa weil sie Muslimen schon mal frei von der Leber weg im ZDF pauschal einen Hang zur Sodomie unterstellt." - Lamya Kaddor, Die Heiligen Krieger von Dinslaken, Christ und Welt, Ausgabe 24/2013 (6.6.2013).

Im Januar 2015 veröffentlichte Thorsten Gerald Schneiders eine Broschüre mit dem Titel "Wegbereiter der modernen Islamfeindlichkeit". "Necla Kelek", lesen wir darin erneut, "rückt die muslimischen Männer in den Bereich der Sodomie."

Aus weiteren Äußerungen Kaddors über Necla Kelek sei die in der Zeit am 11. April 2016 zitiert: "Sie durfte sogar muslimischen Männern unkommentiert Sodomie unterstellen. Sie sagte damals, der muslimische Mann kreise ständig um Sexualität und wenn seine Frau seinen Bedürfnissen nicht nachkomme, nehme er eben ein Tier." In ihrem Buch "Die Zerreißprobe" aus dem letzten Jahr wiederholte Kaddor: "Auch in Deutschland reibt man sich die Augen. Die Soziologin Necla Kelek erklärt im öffentlich-rechtlichen ZDF ganz nebenbei alle Männer einer bestimmten Gruppe zu Sodomisten. Großes Aufheben wird darum nicht gemacht." Jörg Metes weist weitere Äußerungen auch im Jahr 2017 nach.

Schneiders nutzt auch Twitter um seine Meinung über Necla Kelek zu sagen. Vor einer Talkshow, in der Kelek und der SPD-Politiker Thomas Oppermann auftraten, informierte er diesen per Twitter: "@ThomasOppermann Nur ein Bsp. Kelek verunglimpft muslimische Männer pauschal als Sodomisten - im ZDF"


Benz, Bax und Bade

Kaddor und Schneiders mussten nicht lange nach Komplizen für den von ihnen veranstalteten Spießrutenlauf suchen.

Im Oktober 2012 publizierte der ehemalige Antisemitismusforscher Wolfgang Benz sein Buch "Die Feinde aus dem Morgenland". Hier schreibt er über Kelek "So mutmaßte sie im Zweiten Deutschen Fernsehen im Sommer 2010 über die Sexualität des Menschen und insbesondere über die des Mannes und noch spezieller über die des muslimischen Mannes. Der Mensch habe generell nicht die Fähigkeit, seine Sexualität zu kontrollieren, der männliche Mensch noch weniger. Er sei ständig sexuell gefordert und müsse dem entsprechen. Der Mann müsse sich entleeren, sagte Frau Kelek, und wenn er keine Frau finde, dann nehme er eben ein Tier. Das habe sich im Volk so durchgesetzt, darüber bestehe Konsens."

Im März 2013 erschien der Band "Kritik und Gewalt: Sarrazin-Debatte, 'Islamkritik' und Terror in der Einwanderungsgesellschaft" des prominenten Migrationsforschers Klaus Jürgen Bade, der Kelek "ordinäre Kollektivdenunziationen" und eine "Sexualisierung des muslimischen Mannes zu einer Art Triebwesen" vorwirft.

Im Dezember 2014 entwarf der CDU-Politiker Ruprecht Polenz auf seiner Facebook-Seite ein satirisches Programm einer Pegida-Veranstaltung. Seine Schlusspointe in diesem Veranstaltungsprogramm ist eine Rede der umstandslos dem Umfeld der Pegida zugeordneten Necla Kelek: unter dem Titel "Rettet die Schafe - Islam und Sodomie".

Im August 2015 griff der taz-Redakteur Daniel Bax die Lüge in seinem Buch "Angst ums Abendland" auf: "Echten Ärger", heißt es bei Bax, "gab es nur einmal, als (Kelek) in einem Interview so weit ging, zu behaupten, bei Muslimen habe die Sodomie Tradition. Der muslimische Mann 'müsse sich entleeren, und wenn er keine Frau findet, dann eben ein Tier', erzählte sie einem konsternierten ZDF-Moderator."

Zu allem Überfluss äußerte sich schließlich Jakob Augstein, der seiner Empörung zuerst auf Spiegel online und dann auf Facebook Luft machte: "Dumm und dauergeil, so ist er, der Muslim", paraphrasiert der Sohn Martin Walsers und Rudolf Augsteins die Interviewäußerung Keleks auf Spiegel online, und auf Facebook schrieb er: "Ich empfehle unbedingt, das Originalvideo mit Necla Kelek zu sehen, in dem sie erklärt, dass der Islam Sex mit Tieren lehrt. Ja, das nenne ich Rassismus. Es ist, was man auf US-amerikanisch Hate-Speech nennt. Ein zersetzendes, menschenverachtendes Gift, das die multikulturellen Gesellschaften des Westens gefährdet."

Das ZDF ist dem Gerücht nie entgegengetreten. Im Gegenteil: In Raphael Rauchs bereits zitiertem Artikel in der akademischen Zeitschrift Communicatio socialis ist von Bemühungen des ZDF zu lesen, sich von Kelek zu distanzieren: "Das ZDF bemühte sich um Schadensbegrenzung und betonte, dass der Beitrag unsorgfältig abgenommen worden sei und so nicht hätte ausgestrahlt werden dürfen." Auch Rauch, nach eigener Aussage auf Twitter "Redakteur, u.a. SRF & ZDF", ist übrigens fest überzeugt, dass die "Islam-Kritikerin Necla Kelek muslimische Männer diffamierend in die Nähe von Sodomie" gerückt habe.


Widerstand zwecklos
 
Zu notieren ist also, dass ausgerechnet jene Fraktion, die von sich behauptet, für ein friedliches Zusammenleben einzustehen, mit fratzenhaftem Hass auf eine einzelne Autorin einschlägt, die sich erlaubt, eine andere Meinung zu vertreten. Der liebe Friede, den diese Autoren predigen, erweist sich als Vorderseite eines Fanatismus, der zubeißt, sobald sich die Gelegenheit bietet. Kelek mag etwas ungeschützt über ein sehr heikles Thema geredet haben - ihre Äußerung, die bei näherem Hinsehen dennoch glasklar eine über den Islam, nicht über muslimische Männer ist, wird gleich gepackt, gekaut, ausgespuckt und zur Waffe umgebaut. Aus Religionskritik macht man ein rassistisches Vorurteil. Natürlich fühlt sich keiner der Autoren bemüßigt, auf die Aussage Keleks nur im mindesten einzugehen - denn dann müssten sie über die Sexualmoral des Islams sprechen und über die Frage, ob sich da was machen lässt. Der Zweck der konzertierten Verleumdung besteht ja gerade darin, die von Kelek geforderte konstruktive Debatte gar nicht erst zuzulassen. Statt dessen verhöhnt Klaus Jürgen Bade die "dahingestammelten Entgleisungen" und den "holperigen Sprachduktus" einer Autorin, die nicht muttersprachlich deutsch aufgewachsen ist - und zeigt damit, wer hier eigentlich die Vorurteile hat.

Necla Kelek ist eine freie Autorin, institutionell ungebunden. So jemand ist angreifbar. Ihre Gegner haben das stets zu nutzen gewusst. Schon 2006 nahm eine Herde akademisch verankerter Migrationsforscher ihren ganzen Mut zusammen, um der Soziologin in einer Petition die Wissenschaftlichkeit abzusprechen. Die Zeit diente sich als Forum an. Nachdem Kelek 2010 auch noch den Fehler machte, Thilo Sarrazins Buch der Öffentlichkeit vorzustellen, nicht ahnend, welchen Sturm es auslösen würde, wurde es noch leichter, sie in eine Ecke stellen. Patrick Bahners, damals Feuilletonchef der FAZ, wählte in seinem Buch "Die Panikmacher" die klassisch sexistische Variante, um Kelek die Substanz zu nehmen: Sie sei traumatisiert, weil der Vater in frühen Jahren die Familie verlassen hat, schreibt der Donaldist. Damit sind ihre Darlegungen für ihn von vornherein disqualifiziert.

Die von Lamya Kaddor lancierte Schmutzkampagne hat Kelek sehr wohl geschadet.

Sie lebt zum großen Teil von Einladungen zu Vorträgen und Podiumsdiskkussionen, die sich nach 2010 gut und gern halbiert hätten und sich erst jetzt wieder auf das alte Niveau einpendeln, sagt sie im Gespräch. Es ist nicht immer dingfest zu machen, wo überall man nicht eingeladen und nicht in die Talkshow gebeten wird, weil bestens vernetzte Gegnerinnen eine Person zum Tabu erklären. Wer derart angegriffen wird, stößt nicht selten auf eine Mauer des Schweigens.

Dass das Gift bis heute weiter wirkt, zeigt ein wutschäumender Brief des Islamwissenschaftlers Karim Moustafa an den Bürgermeister der Stadt Mülheim, die Kelek am 23. November zu einem Vortrag über Geschlechterbeziehungen im Islam eingeladen hatte. Moustafa, angeblich Mitglied des Zentralrats der Muslime (der Zentralrat gibt keine Auskunft über seine Mitglieder, aber in vielen Zeitungsartikeln wird Moustafa als Mitglied angesprochen), wollte die Veranstaltung in Mülheim verhindern. Und auch er spricht von der "an Absurdität nicht zu übertreffende Behauptung Keleks, dass es für muslimische Männer normal sei, Geschlechtsverkehr mit Tieren zu haben und dass dies durch den Islam vorgegeben sei".  Moustafa schlägt dann gleich vor, die Veranstaltung in "Mülheim a.d. Ruhr - Kelek: Islam erlaubt Sex mit Tieren" umzubenennen und schließt: "Ich hätte nie erwartet, dass meine Stadt eine Rassistin hofiert und dieser Gehör und Publikum mittels eines mit Steuergeldern finanzierten Auftritts verschafft. Aus diesem Grund wende ich mich an Sie und hoffe, dass Sie sich dieser Sache zeitnah annehmen. Rassismus fällt nicht unter freie Meinungsäußerung."

Die Stadt Mühlheim hat sich nicht einschüchtern lassen.

Anders lief es im Mai in Hamburg, als Kelek beim "Frauen- und Migrantinnenmarsch" reden sollte. Die Missy-Fraktion störte sich an einem Satz aus dem Aufruf zur Demo: "Wir wollen Frauen, die aus Angst ein Kopftuch tragen, aufklären. Wir sind der Meinung, dass Verschleierung ein Symbol der Ausgrenzung - in allen ihren Formen (ist), vor allem für die Mädchen, die nicht volljährig sind." Die Gender-Feministinnen beschwerten sich in einer breiten Allianz mit Multikulti- und muslimischen Organisationen, dass kopftuchtragende Frauen so "in einem bevormundenden, belehrenden Ton entmündigt" würden. Der Satz gegen das Kopftuch wurde aus dem Aufruf zum Frauenmarsch gestrichen. Und Necla Kelek durfte nicht reden, denn gegen sie hatten die Genderistinnen das stets parat liegende Argument gebracht, sie hätte sich "sich diskriminierend im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur Sexualität von muslimischen Männern geäußert". So soll Kelek mit etwas, das sie nicht gesagt hat, zum Schweigen gebracht werden.


Unsere doppelt vergiftete Öffentlichkeit

Die Demokratie ist umstellt von Feinden, von rechts, von links, von religiöser Seite. Viele Wortführer der öffentlichen Meinung fragen sich in diesen Tagen vor allem, ob man "mit Rechten reden" soll. Hate Speech der Linken, etwa gegen Necla Kelek, aber wird nicht thematisiert, wohl auch deshalb - man kommt nicht drumherum, es zu konstatieren -, weil sie mit den Institutionen, die darüber entscheiden, wer mit wem redet, wesentlich enger verflochten sind.

Die sozialen Medien, die angeblich das Sumpfgebiet der Trolle sind, brauchen diese Leute gar nicht: Es handelt sich ja um "Wissenschaftler" mit renommierten Namen wie Wolfgang Benz und Klaus Jürgen Bade, um Politiker wie Ruprecht Polenz und um Journalisten in Qualitätsmedien wie dem Deutschlandfunk, 3sat, der Zeit, der taz und der FAZ, die allesamt nicht auf die Idee kamen, das Gerücht zu überprüfen. Klassische Medien reichen - wie übrigens auch der Brexit zeigt - völlig aus, um eine Öffentlichkeit zu zerstören. Das Internet ist hier eher ein Korrektiv. In der Wikipedia etwa lassen sich derart einseitige Darstellungen zumindest korrigieren. Diskussionsprozesse werden in der Wikipedia abgebildet. Die "Qualitätspresse" öffnet Stimmen, die sie angreift, in den meisten Fällen nicht mal das Recht zur Gegenrede - und Necla Kelek schon gar nicht.

Dabei ist Kelek eigentlich die "linke" in dieser Debatte. Ihr schwebt eine am Säkularismus geschulte Aufklärung vor - klassischer Weise eine Denkfigur der Linken. Von ihren Diskursgegnern aber wird sie zu einer Weggenossin der "Rechten" erklärt.

Links ist Keleks Forderung - um mit Kenan Malik zu sprechen -, dass "Individuen trotz ihrer Unterschiede gleich" zu behandeln seien. Rechts ist die Antwort ihrer Gegner, Individuen seien "wegen ihrer Unterschiede verschieden" zu behandeln. Links ist Necla Keleks Idee, dass man sich aus einer Kultur lösen können muss, um am Fortschritt der Allgemeinheit teilzuhaben. Rechts ist die Idee, dass Loslösung aus der Herkunft Verrat sei. Links ist Keleks Einladung zum konstruktiven Streit, rechts ist die Idee des "Respekts". Links ist Keleks Idee, dass Religion ein kultureller Hintergrund ist, der die Vielfalt einer Gesellschaft bereichert, solange sie sich nicht als ein neuer Universalismus über sie setzt. Rechts ist Patrick Bahners' Insistieren, dass der Glaube über dem weltlichen Gesetz stehen können soll (oder wie soll man diesen Tweet verstehen?). Links ist die Idee der Emanzipation, bei deren Verwirklichung junge Musliminnen von der Mehrheitsgesellschaft unterstützt werden sollten - etwa indem man Lehrerinnen nicht das Kopftuch tragen lässt und indem man die Mädchen in der Schule über ihre Wahlfreiheit informiert. Rechts ist das Dulden der Differenz, solange die Fremden uns nur dankbar sind. Links ist die Idee der Partizipation, rechts ist die Forderung nach Identifikation. Necla Kelek kommt nicht nur aus der ehemals säkularen Türkei, die sie prägte. Sie hat ihren Weg in Deutschland nicht umsonst in der IG Metall angefangen. Sie verficht Ideen einer säkularen Linken, von der man heute allerdings zurecht behaupten kann, dass sie in ihrem Fundament vergraben sind.

Thierry Chervel