Magazinrundschau - Archiv

The New Yorker

787 Presseschau-Absätze - Seite 7 von 79

Magazinrundschau vom 09.08.2022 - New Yorker

So richtig versteht man auch bei der Lektüre von Jane Mayers Reportage zwar immer noch nicht, wie Gerrymandering in den USA funktioniert, aber die Folgen werden sehr klar: Es geht grob gesagt um das willkürliche Zuschneiden von Wahlbezirken, dass dazu führen kann, dass Extremisten, die in fairen Wahlen nie eine Chance hätten, Gesetze gegen die eigentliche Mehrheit in einem Bundesstaates durchsetzen können. Mayers Beispiel ist der Bundesstaat Ohio. Hier haben religiöse Fundamentalisten und Waffenfanatiker durchgesetzt, dass nicht einmal vergewaltigte Kinder abtreiben können und Waffen praktisch ohne Kontrolle erworben und besessen werden dürfen: "Wie konnte das passieren, wo doch die meisten Wähler in Ohio keine Ultrakonservativen sind? 'Es geht um Gerrymandering', sagte mir David Niven, Professor an der Universität von Cincinnati. Die Karten der Wahlbezirke in Ohio wurden absichtlich so gezeichnet, dass viele Republikaner praktisch nicht verlieren können, was der Partei eine vetosichere Supermajorität sichert. Infolgedessen sind die einzigen Wettbewerbe, um die sich die meisten republikanischen Amtsinhaber sorgen müssen, die Vorwahlen - und da Hardcore-Parteianhänger die Wahl in diesen Wettbewerben dominieren, besteht die einzige Bedrohung für die meisten republikanischen Amtsinhaber in der Möglichkeit, von einem Rivalen überflügelt zu werden, der noch weiter rechts steht."

Weiteres: Gideon Lewis-Kraus porträtiert den Philosophen William MacAskill, Mitbegründer einer von Peter Singer inspirierten Bewegung namens "effektiver Altruismus". Susan B. Glasser und Peter Baker geben in einem Brief aus Washington Einblicke in den Krieg Donald Trumps gegen seine Generäle. Klar, Billy Wilder ist großartig, aber Ernst Lubitsch war noch besser, findet Alex Ross. Carrie Battan hört Beyoncés neues Album. Lauren Michele Jackson liest ein Buch über Josephine Baker. Und Anthony Lane sah im Kino David Leitchs Actionthriller "Bullet Train".

Magazinrundschau vom 02.08.2022 - New Yorker

E-Autos mögen gut für die Umwelt sein, aber für Menschen kann ihre Lautlosigkeit tödlich sein. Seit 2010 fordert in den USA ein Gesetz, dass diese Fahrzeuge ihre Umwelt warnen. Aber wie? Das Ircam in Paris forscht genau auf diesem Gebiet, erzählt John Seabrook, "z. B. ob die Klänge von E.V. klangliche Metaphern für Verbrennungsgeräusche sein sollten, ähnlich dem synthetischen Klingeln eines Mobiltelefons oder dem beruhigenden Knistern von Papier, das anzeigt, dass man ein Dokument auf seinem MacBook abgelegt hat - eine Form des akustischen Designs, die als Skeuomorphismus bekannt ist. Eine andere Möglichkeit war die Verwendung von 'Ohr-Cons' - hörbare Symbole, wie das abstrakte Klicken eines Geigerzählers, das jeder als Zeichen für Radioaktivität kennt. Das Team von Misdariis entwickelte und testete Optionen in beiden Kategorien. Sie entdeckten, so Misdariis, dass 'Metaphern leicht zu verstehen, aber schwer zu merken sind, während Symbole schwerer zu verstehen, aber leichter einzuprägen sind". Das IRCAM-Team arbeitete mit Andrea Cera zusammen, einem italienischen Musikproduzenten und Komponisten. Cera sagte, dass er die Elektrifizierung der Mobilität als eine Chance sieht, die chaotische Akustik einer Stadt grundlegend zu überdenken. Er stellt sich eine urbane Klanglandschaft nach dem Vorbild des Vogelgezwitschers in der Natur vor, in der die verschiedenen Klänge nicht miteinander konkurrieren, sondern sich in ein übergreifendes akustisches Ökosystem einfügen. Durch die Analyse von Klanglandschaften auf der ganzen Welt hat Cera, wie er mir erzählte, 'diese kleinen Nischen ausfindig gemacht, in denen man einen kleinen Klang platzieren kann, so dass man präsent ist, ohne laut zu sein. Nur ein Ton, keine Melodie'. Die Klänge, die er und das IRCAM-Team für Renault entwickelt haben, sollen diese Nischen ergänzen. Er fügte hinzu: 'Wenn die Geräuschkulisse sehr chaotisch ist - Autos, Telefone, Hupen, Radios - kann man am besten wahrgenommen werden, wenn man still ist.'"

Masha Gessen erzählt in einem Brief aus der Ukraine, warum es so schwierig ist, russische Soldaten wegen Kriegsverbrechen anzuklagen, aber trotzdem notwendig: "'Westliche Politiker sagen immer wieder, dass wir einen Teil unseres Territoriums an Putin abtreten sollten', sagt Matwitschuk vom Center for Civil Liberties. 'Wir müssen sie daran erinnern, dass sie damit die Menschen den Schrecken ausliefern, die wir dokumentiert haben.'"

Außerdem: Calvin Tomkins porträtiert den schwulen Maler Salman Toor. Nikhil Krishnan fragt, wie universal unsere Emotionen sind. Zoe Heller liest neue feministische Romane.

Magazinrundschau vom 26.07.2022 - New Yorker

In einer bewundernswerten Reportage voll wirklicher Erfahrung berichtet Luke Mogelson vom Kriegsgeschehen im Donbass. Sehr eindrücklich zeigt er, dass die gezielten russischen Angriffe auf Zivilisten ebenso deren Moral unterminieren sollen wie die unaufhörlichen Bombardements, die Lärm, Chaos, Angst und Tod verbreiten. Mogelson hat vor dem Fall von Lyssytschansk mehrere Wochen in der Industriestadt verbrachtet, deren wirtschaftlicher Niedergang mit der russischen Invasion im Donbas 2014 begonnen hatte: "Der außergewöhnliche Zusammenhalt, der die ukrainischen Kämpfer während der Verteidigung von Kiew getragen hat, ist im Donbass deutlich schwächer. Mein Übersetzer und ich übernachteten im letzten noch offenen Hotel in Bachmut. Als wir eines Abends aus Lyssytschanks zurückkehrten, kamen vier Männer in Zivil auf uns zu. Es waren Soldaten aus der Westukraine, die zur Verstärkung nach Osten entsandt worden waren. In Bachmut wurde jedem von ihnen eine Kalaschnikow, vier Magazine sowie zwei Handgranaten ausgehändigt, dann wurden sie an die Front geschickt. Den Soldaten zufolge war die einzige Anweisung, die sie erhielten, nicht zurückzuweichen. Ihnen wurde nicht gesagt, zu welcher Einheit sie gehörten oder unter wessen Kommando sie stünden. Kurz darauf wurden drei ihrer Kameraden unter russischem Granatenbeschuss verwundet. Sie brachten sie zum nächsten Checkpoint, dann wussten sie nicht mehr, was sie tun sollten: Zu ihrer Position zurückzukehren, wäre Selbstmord. Aber von wem könnten sie sich Anweisungen holen? Schließlich nahm sie ein Militärlaster mit nach Bachmut, jetzt haben sie Angst, als Deserteure verhaftet zu werden. Sie erzählten uns das alles, weil sie unseren Rat wollten. Ich hatte keinen, konnte ihnen nur Zigaretten anbieten… Auch die normalen Büger beteiligen sich hier in keiner Weise so an den Kriegsanstrengungen wie in Kiew. Während die Hauptstadt angegriffen wurde, fanden viele Bewohner, die nicht zum Militär gehörten, andere Arten der Unterstützung: Sie knüpften Camouflage-Netze, füllten Sandsäcke, kochten und lieferten Essen, sammelten ausländische Spenden für Ausrüstung und Medizin. Diese Freiwilligen waren oft Studenten, Künstler, Unternehmer und Akademiker, die alle zusammen eine erstaunliche Fähigkeit bewiesen, zu netzwerken und Ressourcen zu mobilisieren. Für die Bergleute, Bauern und Fabrikarbeiter im Donbass überschatte das eigene Überleben alle anderen Belange."

Dhruv Khullar bilanziert die Hitze, die Indien in diesem Jahr traurige Rekorde bescherte und Vögel tot vom Himmel fielen ließ: "Hohe Temperaturen verstärken Unsicherheit und Aggressivität", sagt ihm ein Arzt: "Die Welt wird heißer und gefährlicher."
Stichwörter: Donbass, Ukraine-Krieg 2022

Magazinrundschau vom 19.07.2022 - New Yorker

Als Jacht gilt jedes Boot mit einer Crew an Bord, die Klassifizierungen für Super-, Mega- und Gigajachten variieren allerdings, lernt Evan Osnos in seinem großen Bericht aus der Welt der Superreichen. 2021 wurden 187 Superjachten verkauft, ein Rekord, zweimal mehr als im Jahr davor. Ihre Beliebtheit resultiert aber nicht nur daraus, lernt Osnos, dass sie einfach das Allerteuerste sind, was man derzeit kaufen kann (an Land kann man für ein Anwesen nicht mehr als 250 Millionen Dollar hinlegen), oder daraus, dass sie meist an den Behörden vorbei offshore registriert werden oder dass sie ein Symbol für den "faustischen Kapitalismus" geworden sind, der die Werte der Demokratie gegen kurzfristige Profite verhökert: "Für die Jachtbesitzer  und ihre Gäste bietet ein 'weißes Boot' einen diskreten Marktplatz für den Austausch von Vertrauen, Gunst und Anerkennung. Wie genau die Mechanismen dieses Handels funktionieren - die Regeln und Ängste, Strategien und Beleidigungen - ließ ich mir von Brendan O'Shannassy erklären, einem altgedienten Kapitän und eine Art Kurator für Jachtwissen. O'Shannassy wuchs in Westaustralien auf, ging als junger Mann zur Marine und fand schließlich seinen Weg als Skipper auf einigen der größten Jachten der Welt. Er arbeitete für Paul Allen, den verstorbenen Mitbegründer von Microsoft, sowie für einige andere Milliardäre, deren Namen er nicht nennen möchte. Jetzt, Anfang fünfzig, mit geduldigen grünen Augen und lockigem braunen Haar, hat O'Shannassy einen guten Überblick auf den gesellschaftlichen Verkehr: 'Es ist geht sehr liebenswürdig zu, jeder küsst jeden', sagt er, 'aber im Hintergrund spielt sich eine Menge ab'. O'Shannassy hat einmal für einen Jachtbesitzer gearbeitet, der die Anzahl der Zeitungen an Bord begrenzte, damit er seine Gäste beim Warten und sich Winden beobachten konnte. 'Es war ein Spiel unter Milliardären. Es gab sechs Paare und drei Zeitungen', sagte er und fügte hinzu: 'Sie haben ständig ihre Positionen bewertet.' Auf einigen Schiffen hat O'Shannassy in den unangenehmen Minuten nach der Ankunft der Gäste selbst den Gastgeber gespielt. 'Viele von ihnen sind genial, aber einige sind sehr unsozial", sagt er. 'Sie brauchen jemanden, der für sie das gesellschaftliche übernimmt. Sobald sich alle eingewöhnt haben, so hat es O'Shannassy erlebt, gibt es oft eine subtile Veränderung, wenn ein Mogul, ein Politiker oder ein Popstar anfängt, sich auf eine Art zu entspannen, wie es an Land kaum möglich wäre. 'Die Vorsicht lässt nach', sagt er. 'Man muss sich keine Sorgen wegen der Paparazzi machen. Man hat also all diesen Freiraum, sowohl physisch, aber auch mental.'"

Alice Gregory stellt das Kunstkollektiv Congolese Plantation Workers Art League vor, das mit Schokoladenskulpturen daran arbeitet, die Stadt Lusanga vom ausbeuterischen Erbe der Palmöl-Plantagen zu emanzipieren.

Magazinrundschau vom 28.06.2022 - New Yorker

Im New Yorker macht uns Anna Wiener vertraut mit der Welt der Foley-Künstler (Geräuschemacher), das sind besondere Tonleute, die maßgeschneiderte Soundeffekte für Film, Fernsehen und Videospiele herstellen. "'Ich sage immer, es gibt Soundeffekte, wie Schritte, und dann gibt es Musik', sagte der Regisseur David Lynch, dessen Filme für ihr einfallsreiches, stimmungsvolles Sounddesign bekannt sind. 'Und dann gibt es Soundeffekte, die wie Musik sind. ... Sie beschwören ein Gefühl herauf.' Traditionell umfassen 'harte Effekte' Umgebungsgeräusche wie Verkehr oder Regen oder die mechanischeren, brennenden Geräusche von Explosionen und Schüssen; sie werden normalerweise aus Bibliotheken entnommen oder elektronisch erzeugt. Foley-Effekte sind speziell auf einen Film zugeschnitten und werden mit den Bewegungen der Figuren synchronisiert. Dazu gehören Geräusche, die entstehen, wenn jemand durch einen Raum geht, sich im Bett umdreht, einen Topf umrührt, tippt, kämpft, tanzt, isst, fällt oder küsst. Die Grenze zwischen diesen beiden Arten von Effekten ist fließend: Foley-Künstler nehmen das Geräusch einer Hand auf, die einen Türknauf dreht, aber nicht das Geräusch des Mechanismus, der sich darin dreht. Die Geräusche sind subtil, aber suggestiv, sie fangen Bettfedern aus dem Off ein oder das Schlurfen eines ungeschickten Eindringlings. In den letzten hundert Jahren hat die Technologie die Aufnahme, Bearbeitung und das Engineering von Geräuschen verändert, aber die Techniken der Geräuschkulisse sind hartnäckig analog geblieben. Hinter jedem noch so komplexen Foley-Effekt stehen ein oder zwei Menschen, die in einem schalldichten Raum ihre Körper verrenken. Die Foley-Künstler arbeiten seit jeher zu zweit. (Bestimmte Geräusche sind so komplex, dass sie die Arbeit von vier Händen erfordern.) Roden und Roesch sind zwei der Meister ihres Fachs. Der Regisseur David Fincher sagte mir, dass Foley 'eine sehr seltsame Berufung' ist und 'eine dunkle Kunst', die für das Filmemachen grundlegend ist. 'Man versucht, schöne Geräusche zu machen, die einmal ihren Zweck erfüllen und dann wieder verschwinden', sagte Fincher. 'Die Leute, die das wirklich, wirklich gut können, sind rar gesät.'"

Hier gibt John Roesch eine kleine Einführung in sein Metier:



Das Projekt der Aufklärung begann mit der Trockenlegung von Sümpfen: Bis zum 17. Jahrhundert starben die Menschen in Europa am Sumpffieber wie die Fliegen. Aber vielleicht kann man auch vom Guten zu viel tun. Das glaubt jedenfalls die Schriftstellerin Annie Proulx, die das Verschwinden der Sümpfe auch als ökologische Katastrophe betrachtet: "Viele Menschen haben nur eine vage Vorstellung davon, dass Feuchtgebiete die Erde säubern. Tatsächlich sind sie Kohlenstoffsenken, die CO2 absorbieren, und sie sind unübertroffen im Herausfiltern von menschlichen Abfällen, Material von verrotteten Kadavern, Chemikalien und anderen Schadstoffen. Sie füllen unterirdische Grundwasserspeicher auf und erhalten die regionalen Wasserressourcen, indem sie die Auswirkungen von Dürren und Überschwemmungen abfedern. Insgesamt stabilisieren die wässrigen Teile der Erde ihr Klima. ... In den achtziger Jahren war etwa die Hälfte der amerikanischen Feuchtgebiete ausgerottet worden. ... Die Naval Station Norfolk in der Region Hampton Roads zum Beispiel - ein natürlicher Reedekanal mit tiefem Wasser in der Chesapeake Bay, der von den Flüssen James, Nansemond und Elizabeth gespeist wird - schwillt jetzt in einem noch nie dagewesenen Ausmaß an. Der Umweltjournalist Jeff Goodell besuchte die Station und schrieb: 'Auf der Basis gibt es keinen Hochstand, keinen Rückzugsort. Es fühlt sich an wie ein Sumpf, der ausgebaggert und zugepflastert wurde - und genau das ist es auch.'"

Weiteres: Andrew Marantz geht der Frage nach, ob amerikanische Konservative wirklich ausgerechnet Viktor Orbán als Vorbild sehen. David Remnick porträtiert die Gospelsängerin Mavis Staples. Anthony Lane sah im Kino Baz Luhrmanns Elvis-Biopic. Louis Menand erzählt, wie Picasso sich in Amerika durchsetzte. Und Alex Ross berichtet vom Ojai-Musikfestival.

Magazinrundschau vom 21.06.2022 - New Yorker

Wie zweischneidig das Recht auf Privatsphäre ist, lernt Jeannie Suk Gersen aus zwei Büchern: Amy Gajda beschreibt es in "Seek and Hide: The Tangled History of the Right to Privacy" als ein Recht, das immer vor allem "den Interessen reicher Männer und der Elitegesellschaft" gedient hat. "Gajda weist darauf hin, dass die Begeisterung für die Privatsphäre in der amerikanischen Geschichte immer mit einer Wahrheit verbunden war, die durch die #MeToo-Bewegung bekannt wurde: Die Privatsphäre schützt das Verhalten von Männern gegenüber Frauen" und es kollidiert oft genug mit einem "Recht auf Wissen" der Öffentlichkeit. Brian Hochmans "The Listeners: A History of Wiretapping in the United States" argumentiert laut Gersen dagegen, dass Privatsphäre im Zeitalter unbegrenzter Überwachungsmöglichkeiten so kostbar wie nie ist. "Für Hochman fügt sich die Geschichte des Abhörens letztlich in die größere rassistische Tragödie der Masseninhaftierung und Überkriminalisierung ein. Genauso wie die Bestrafung und die polizeiliche Überwachung einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf schwarze Gemeinschaften hatten, so stellt er fest, dass Schlüsselmomente in der Geschichte des Abhörens die Überwachung schwarzer Individuen beinhalten. Die Bundesregierung hörte schwarze politische Führer und Bürgerrechtsgruppen ab, von Martin Luther King, Jr. und Malcolm X bis zu den Black Panthers und der Nation of Islam. Heute, so schreibt er, ist die elektronische Überwachung 'in Fällen von Drogenhändlern in Baltimore, Einwanderern ohne Papiere in Detroit und Black Lives Matter-Aktivisten in Chicago aufgetaucht'. Es ist auffällig, dass die beiden großen sozialen Bewegungen der letzten fünf Jahre, #MeToo bzw. Black Lives Matter, den Rahmen für Gajdas und Hochmans Projekte bilden: Zu viel Respekt vor der Privatsphäre dient einerseits dem männlichen Anspruch, andererseits dient ein unzureichender Respekt vor der Privatsphäre der weißen Vorherrschaft. Das Schwanken zwischen diesen beiden Gruppen von Anliegen spiegelt nicht nur unsere instabilen moralischen Intuitionen zu sozialer Gerechtigkeit wider, die oft davon abhängen, wer der Verletzer und wer der Verletzte ist, sondern auch die realen Abwägungen zwischen Privatsphäre und konkurrierenden Anliegen."

Magazinrundschau vom 14.06.2022 - New Yorker

John Lee Anderson porträtiert Chiles neuen Präsidenten, den gerade mal 36-jährigen Gabriel Boric, als undogmatischen Hoffnungsträger einer neuen lateinamerikanischen Linken. Der in Patagonien aufgewachsene und üppig tätowierte Boric ist im Zuge der Protestbewegung bekannt geworden, die das Referendum für eine Veränderung der alten, noch unter Augusto Pinochet verabschiedete Verfassung in Gang gesetzt hatte: "Trotz Boric' Neigung zu einer kraftvollen Sprache, vermeidet er die Rhetorik der harten Linken. Seiner Ansicht nach 'war der Nullsummen-Diskurs der vergangenen Jahrzehnte eher Gift als Dünger'. Schon bevor Boric geboren wurde, hatte Fidel Castro mit seinem absolutistischen Denken über Macht und Politik einen immensen Einfluss auf Lateinamerikas Linke. Die Politiker, die sich am engsten an Castros Beispiel anlehnten, taten dies mit kläglichem Ergebnis: Hugo Chávez und Nicolás Maduro in Venezuela und Daniel Ortega in Nicaragua. Andere linke Politiker in der Hemisphäre, wie Andrés Manuel López Obrador in Mexiko und Alberto Fernández in Argentinien geben sich revolutionär, doch ihr politisches System scheint vor allem damit beschäftigt zu sein, ihre Macht abzusichern. Von den noch lebenden Löwen der Linken haben nur zwei ihren Nimbus bewahrt: Pepe Mujica, der frühere Guerilla, der bis vor zehn Jahren Präsident von Uruguay war und danach auf seine Finca zurückkehrte, und Lula da Silva in Brasilien, der mit den Wahlen im Oktober an die Macht zurückkehren könnte. Boric sagt: 'Wir haben jetzt die Möglichkeit, die Linke neu zu erfinden.' Und er weiß, dass die entscheidende Grenze in der Region nicht zwischen Links und Rechts verläuft, sondern zwischen Demokratie und populistischem Autoritarismus. Boric - jung und unbelastet von der Vergangenheit - scheint der Politiker zu sein, der am besten die Befreiung von der Ideologie propagieren kann."

Magazinrundschau vom 24.05.2022 - New Yorker

Roses are red, Violets are blue, Sugar is sweet, And so are you. Der Schriftsteller Adam Gopnik ergründet für den New Yorker die Regeln des Reims und nimmt dafür das neue Buch von Daniel Levin Becker zur Hand, der in "What's Good" eine Lanze für den amerikanischen Rap bricht: Rap habe die Sprache amerikanischer Songs revolutioniert, so Becker. Im Gegensatz zu romanischen Sprachen, in denen zahlreiche Wörter eine Endsilbe teilen, ist es im Englischen schwer, reine Reime zu finden, meint Gopnik und vergleicht Lyriker von Shakespeare über W. H. Auden bis hin zu Rappern wie Jay Electronica, die sich dieser Herausforderung stellen, um den tiefen Sinn der Lyrik zu finden: "Near-rhyme (Fast-Reim), half rhyme (halber Reim), off rhyme (kein Reim), unreiner Reim, Assonanzen und Identitäten, schräge Reime und gerade Reime: sie alle haben das Zeug zu überzeugen, doch keiner bietet Zuflucht vor dem Sinn. Was bei Literatur und Lyrik immer auf dem Spiel steht, ist deren Bezug zur Welt. Wir können Wendy Copes Worte lieben wie die von Larry Hart und Kendrick Lamar - für die Reime, die sie offenbaren, aber auch für die traurigen Wahrheiten, die sie aussprechen. Am Ende kann kein Satzrhythmus die Poesie gegen den Realitätstest immunisieren. Wir lieben die Balance und Kontrolle von Reimen, auch wenn sie uns aus dem Gleichgewicht bringen, doch nach der Musik wollen wir Sinn. 'Achte auf den Sinn und die Töne kommen von selbst', rät die 'Herzogin in Alice im Wunderland' in Abwandlung eines britischen Sprichworts über Pence und Pfund, und obwohl es nicht die ganze Wahrheit ist, ist es eine große, die dem einfachsten Geschenk einer Grußkarte folgt. Denn wir kommen nicht umhin, den Reim mit Vernunft zu prüfen. Rosen sind rot. Veilchen sind blau, Zucker ist süß. Und Sie?"

Weitere Artikel: Neima Jahromi besucht das Star Wars Space Ship in Disneyland. Lauren Collins macht eine Wasserkur in Frankreich. Jill Lepore überlegt, ob wir uns genauso weiterentwickelt haben wie das Fahrrad. Und Anthony Lane sah im Kino "Top Gun 2".

Magazinrundschau vom 17.05.2022 - New Yorker

Peter Hessler zeichnet in einem Brief aus Chengdu, wo er an der Universität Sichuan englische Literatur unterrichtet hat, ein differenziertes Bild seiner Studenten: Angepasst und gleichzeitig enorm erfinderisch, kritisch und gleichzeitig auf Parteilinie, vorsichtig und dann wieder mutig. Einem mörderischen Konkurrenzkampf ausgesetzt und gleichzeitig - das beeindruckt einen vielleicht am stärksten - oft "brutal ehrlich mit sich selbst": "Meine Studenten an der Universität Sichuan waren alte Seelen. Sie wussten, wie die Dinge funktionierten; sie kannten die Mängel des Systems und auch seine Vorteile. Das Umfeld, in das sie eintraten, war im Wesentlichen dasselbe, in dem ihre Eltern gearbeitet hatten: Zum ersten Mal war China über einen Zeitraum, der länger ist als das Gedächtnis eines Universitätsstudenten, sowohl stabil als auch wohlhabend. Wenn sie über die Generation ihrer Eltern und über die Gesellschaft, die sie eines Tages erben würden, schrieben, konnten sie völlig kaltschnäuzig sein: 'Meine Eltern wurden in den 1970er Jahren geboren, und ich glaube, sie gehören heute zur unteren Mittelschicht in China. Sie zeichnen sich durch einen festen Patriotismus und einen lässigen Zynismus aus. Sie unterstützen die Volksrepublik China nachdrücklich, nicht indem sie die chinesische Regierung loben, sondern indem sie ausländische Regierungen kritisieren. Sie weigern sich, Apple-Produkte zu verwenden, lehnen Reisen nach Japan ab und tun Trump als verrückt und bösartig ab. Dennoch bewundern sie China nur selten mit Leidenschaft. Sie sind Zeugen von Korruption in der chinesischen Bürokratie und von Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, die sie nicht beseitigen können, und sagen daher immer: Es ist eben so. ... Ich glaube, meine Generation, die im Zeitalter des Internets geboren wurde, ist verwirrt und irgendwie deprimiert über den Konflikt zwischen chinesischen und westlichen Überzeugungen. Im Internet herrscht Propaganda über Freiheit und Vernunft, während in den Schulbüchern Propaganda über Patriotismus und Kommunismus vorherrscht. Die Jugendlichen werden meist von Ersterem angezogen, aber wenn sie Prüfungen ablegen und einen Job anstreben, sollten sie das Letztere im Hinterkopf behalten, und in der Praxis funktioniert das Letztere in China meistens besser.' Solche Worte zu lesen, war herzzerreißend, aber auch inspirierend: Schon die Beschreibung einer Situation, für die es keine einfache Lösung gibt, ist eine Art von Handlungsfähigkeit. Trotz des erdrückenden politischen Klimas und der zermürbenden Gaokao-Routine brachte das chinesische Bildungssystem eine nicht geringe Anzahl von Menschen hervor, die beobachten und analysieren, denken und schreiben konnten."

Stephen Witt stellt den türkischen Waffenproduzenten und Schwiegersohn Erdogans Selçuk Bayraktar vor, dessen Drohnen erfolgreich von der ukrainischen Armee gegen die russische eingesetzt werden, aber auch Kurden töten oder Armenier: "Die TB2 werden nicht nur in der Ukraine und Aserbaidschan eingesetzt, sondern auch von den Regierungen von Nigeria, Äthiopien, Katar, Libyen, Marokko und Polen. Als ich mit Bayraktar sprach, hatte er gerade ein Verkaufsgespräch in Ostasien abgeschlossen, bei dem er seine in Kürze erscheinende TB3-Drohne anpries, die von einem Boot aus gestartet werden kann."

Im neuen Heft erzählt Joshua Yaffa von der russischen Besatzung der ukrainischen Stadt Melitopol. Andrew Marantz beschreibt das Kollaborationstalent des Musikers Jack Antonoff. Ben Taub porträtiert den Fotojournalisten Paolo Pellegrin. Und Alex Ross singt ein Loblied auf das South Dakota Symphony Orchestra.

Magazinrundschau vom 10.05.2022 - New Yorker

Russland geht es nicht einfach um einen militärischen Sieg über die Ukraine, es geht - was auch für eine Kapitulation nichts Gutes hoffen lässt - um die Zerstörung einer ganzen Gesellschaft und ihrer zivilen Einrichtungen. Das zeigt sich auch in Luke Mogelsons Reportage aus einem verwüsteten Land: "Die Lage in Mariupol war einzigartig düster, aber die Russen griffen zivile Gebiete und die Infrastruktur in der gesamten Ukraine an, insbesondere in Charkiw, dreihundert Meilen östlich von Kiew. Am 16. März fuhr ich mit ein paar Fotografen dorthin. Durch den Beschuss wurden mehrere Häuserblocks in der Innenstadt verwüstet. Büros, Geschäfte, Restaurants, Cafés, Universitätsgebäude und eine nach Ernest Hemingway benannte Kneipe lagen in Trümmern, einige waren mit Eis aus gebrochenen Rohren bedeckt. Ein riesiger Krater klaffte vor dem regionalen Verwaltungssitz, einem sechsstöckigen Monolithen, der der Explosion teilweise standgehalten hatte. Eine zweite Rakete hatte eine Küche im Untergeschoss zerstört und mehrere Frauen getötet. Ein Teil eines Schädels lag in der Nähe. Feuerwehrleute mit Schaufeln wühlten noch immer in den Trümmern und suchten nach Leichen. ... Eine Stunde später wurde ein Markt ein paar Kilometer östlich von uns beschossen. Ich ging dorthin und fand Feuerwehrleute vor, die einen brennenden Komplex von Ständen im Freien ablöschten. Es war nichts in Sicht, was als militärisches Ziel hätte missverstanden werden können. Ich filmte gerade die Schäden, als eine weitere Mörsergranate in geringer Entfernung von mir einschlug. Die Explosion und das Schrapnell verletzten eine Frau, die aus dem Unterleib blutete und schnell in einen Krankenwagen gebracht wurde. Solche 'Doppeltreffer' waren in Syrien üblich, wo Russland und das Assad-Regime systematisch Ersthelfer ins Visier genommen hatten, um die Bevölkerung zu demoralisieren und in die Unterwerfung zu treiben. Dieselbe Strategie wurde eindeutig auch in der Ukraine angewandt. An diesem Tag bombardierten die Russen auch ein Theater in Mariupol, in dem Zivilisten Zuflucht gefunden hatten. Auf dem Parkplatz war in großen weißen Buchstaben auf Russisch 'KINDER' aufgemalt worden. Berichten zufolge starben Hunderte. Am nächsten Nachmittag wurde in Charkiw einer der größten Märkte Osteuropas bombardiert. Tausende von Menschen hatten dort vor dem Krieg gearbeitet. Ein wütendes Inferno verzehrte den Komplex, und teerschwarzer Rauch verdunkelte den Himmel."