Magazinrundschau - Archiv

The New Yorker

787 Presseschau-Absätze - Seite 8 von 79

Magazinrundschau vom 26.04.2022 - New Yorker

Kommerzielle Spionagesoftware ist ein riesiger, um die 12 Milliarden Dollar schwerer Markt. Für die Produkte, etwa der israelischen NSO Group, interessieren sich vor allem Regierungen. Ausspioniert werden neben Verbrechern und Terroristen katalanische Separatisten, saudische Frauenrechtsaktivistinnen, rumänische Staatsanwälte für Korruptionsbekämpfung, amerikanische ITler und ganz normale Apple-, Facebook- oder Googlenutzer. Die amerikanischen Techgiganten haben jetzt begonnen, sich mit Klagen dagegen zu wehren. Die Regierungen auch westlicher Staaten sind über die Spionage immer nur dann empört, wenn es sie selbst trifft. In der Regel genehmigen sie den Einsatz im eigenen Land jedoch. Und das ist die Krux, lernt man aus einer umfangreichen Reportage von Ronan Farrow. "'Fast alle Regierungen in Europa nutzen unsere Tools', sagte mir Shalev Hulio, Geschäftsführer von NSO. Ein ehemaliger hochrangiger israelischer Geheimdienstmitarbeiter fügte hinzu: 'NSO hat ein Monopol in Europa.' Deutsche, polnische und ungarische Behörden haben zugegeben, dass sie Pegasus nutzen. Auch die belgischen Strafverfolgungsbehörden verwenden es, obwohl sie es nicht zugeben wollen. (Ein Sprecher der belgischen föderalen Polizei sagte, dass sie 'den rechtlichen Rahmen für den Einsatz eingreifender Methoden im Privatleben' respektiert). Ein hochrangiger europäischer Strafverfolgungsbeamter, dessen Behörde Pegasus nutzt, sagte, dass es einen Einblick in kriminelle Organisationen gebe: 'Wann wollen sie das Gas lagern, wann wollen sie den Sprengstoff anbringen?' Er sagte, dass seine Behörde Pegasus nur als letztes Mittel und mit gerichtlicher Genehmigung einsetzt, räumte aber ein: 'Es ist wie eine Waffe. . . . Es kann immer passieren, dass eine Person sie falsch einsetzt.' Die Vereinigten Staaten sind sowohl Nutzer als auch Opfer dieser Technologie. Obwohl die National Security Agency und die C.I.A. über eigene Überwachungstechnologie verfügen, haben andere Regierungsstellen, einschließlich des Militärs und des Justizministeriums, nach Angaben von Personen, die an diesen Transaktionen beteiligt waren, Spionagesoftware von privaten Unternehmen gekauft." Als WhatsApp mit NSO-Tools gehackt wurde, beschloss Facebook die Sache selbst zu untersuchen und "die Strafverfolgungsbehörden nicht sofort zu benachrichtigen, da es befürchtete, dass die US-Beamten die Hacker informieren könnten. (Ihre Bedenken waren berechtigt: Wie die Times berichtet, empfing das FBI Wochen später NSO-Ingenieure in einer Einrichtung in New Jersey, wo die Behörde die gekaufte Pegasus-Software testete)."

Weiteres: Matthew Hutson denkt über erneuerbare Speicher für erneuerbare Energie nach. Kelefa Sanneh porträtiert den Rapper Fivio. Rebecca Mead berichtet über ökologischen Städtebau in Skandinavien. Lauren Michele Jackson liest die Tagebücher Alice Walkers. Keith Gessen bespricht einen neuen Roman des ukrainischen Autors Andrej Kurkow. Amanda Petrusich hört die neue CD von Arcade Fire. Und Anthony Lane sah im Kino Roger Michells "The Duke".

Magazinrundschau vom 12.04.2022 - New Yorker

45 Jahre lang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zensierte die Sowjetunion jede Dokumentation über den Holocaust, und untergrub jeden Versuch, in Babyn Jar ein Denkmal zu setzen für die 34.000 ukrainischen Juden, die dort 1941 innerhalb von zwei Tagen von den Deutschen erschossen worden waren. Gedenkfeiern und Pläne zur Errichtung eines Denkmals gab es erst ab 2016, nachdem der russlandtreue ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch abgesetzt worden war. Der neue Präsident Poroschenko verkündete bald darauf, die vier jüdischen ukrainischen Geschäftsleute Mikhail Fridman, Pavel Fuks, German Khan und Victor Pinchuk würden ein Holocaust-Mahnmal für Babyn Jar finanzieren. Zum künstlerischen Leiter ernannte der Stiftungsrat Ilya Khrzhanovsky, Regisseur des berühmt-berüchtigten "Dau"-Projekts. Um diese Konstellation gab es von Anfang an Streit, berichtet Masha Gessen im New Yorker. Denn alle vier Geschäftsleute hatten ihre Millionen in Russland verdient. Gessen, die das - noch nicht fertig gestellte - Mahnmal 2021 besucht hatte, erzählt, dass "Bekannte in Kiew, denen ich von meinem Plan erzählte, über das Projekt in Babyn Yar zu schreiben, seufzten, die Augen verdrehten oder unbehaglich lachten. Niemand, so schien es, vertraute dem Projekt - zum Teil, weil es privat finanziert wurde, zum Teil, weil es von Khrzhanovsky geleitet wurde, aber vor allem wegen Russland. Der schärfste Gegner des Projekts war Josef Zissels, ein 75-jähriger ehemaliger Dissident und Vorstand der jüdischen Gemeinde der Ukraine. Ich traf ihn im Januar in der Kiew-Mohyla-Akademie, einer der größten und ältesten Universitäten der Ukraine, wo er das Zentrum für jüdische Studien leitet. Sein Haupteinwand gegen das Projekt, so sagte er, rührt von dem Gefühl her, dass Putin und seine imperialen Pläne dahinter stehen. Obwohl alle vier reichen Männer, die das Mahnmal finanzieren, in der Ukraine geborene Juden sind, haben sie von ihren Verbindungen zu Russland profitiert, und drei von ihnen hatten irgendwann einmal einen russischen Pass. 'Das ist hybride Kriegsführung', sagte Zissels. 'Sie versuchen, uns eine Erinnerung unterzuschieben, die nicht unsere Erinnerung ist.' Ich verbrachte viele Tage damit, mit Team-Mitgliedern des Babyn Yar Holocaust Memorial Center zu sprechen und die von ihnen erstellten Materialien zu durchforsten. Gelegentlich stieß ich auf Wissenslücken, vor allem in Bezug auf die sowjetisch-jüdische Geschichte, aber ich konnte keine Anzeichen dafür erkennen, dass das Projekt oder seine Geldgeber eine russlandzentrierte, geschweige denn eine Putin-nahe Darstellung propagieren würden. Nur wenige Mitglieder des Teams waren in Russland ausgebildet worden oder hatten dort längere Zeit gelebt. Khrzhanovsky hatte den Großteil der letzten zwei Jahrzehnte in Charkiw und London verbracht. Fridman sagte mir: 'Ich hatte erwartet, dass wir auf Widerstand stoßen würden, aber ich hätte nie gedacht, dass man uns als Agenten des Kremls bezeichnen würde.' Er wurde in Lwiw geboren. Seine beiden Großmütter stammten aus Kiew und hatten das Glück, die Ukraine 1941 mit ihren Kindern verlassen zu können. Fridmans Urgroßeltern kamen im Holocaust um; auch Fuks, Khan und Pinchuk hatten Verwandte verloren. Mindestens sieben von Khans Familienmitgliedern wurden in Babyn Yar getötet. (Auch Khrzhanovskys Großmutter mütterlicherseits floh 1941 aus der Ukraine.) Sicher, die Geldgeber der Gedenkstätte hatten ihr Geld in Russland verdient - es war ein guter Ort, um Geschäfte zu machen -, aber sie hatten komplizierte Beziehungen zu dem Land. Vor einigen Jahren verzichtete Fuks auf seine russische Staatsbürgerschaft. Ich fragte Zissels, welche Aspekte von Khrzhanovskys Projekt das historische Narrativ des Kremls widerspiegeln. 'Ich kann es nicht beweisen', sagte er. 'Aber ich kann es spüren.' Die Befürchtung, so scheint es, war die Angst vor Ansteckung. Das Problem mit Putins Geschichtsrevisionismus ist nicht nur die zentrale Rolle der Sowjetunion und des sowjetischen militärischen Ruhms, sondern auch, dass sie, wie alle russische Propaganda, absichtlich Chaos sät. Das Ergebnis ist eine gefärbte Geschichtsdarstellung und ein Gefühl des Nihilismus - ein Konsens darüber, dass Gut und Böse ununterscheidbar sind, dass nichts wahr und alles möglich ist. Aus diesem Grund fiel es vielen Ukrainern schwer, einem Projekt zu vertrauen, das von Leuten finanziert wurde, die immer noch in Russland Geschäfte machten."

Weiteres: Wird es den Tories gelingen, die BBC zu demontieren, fragt Sam Knight. Claudia Roth Pierpont sah im Met Museum eine Ausstellung des afroamerikanischen Malers Winslow Homer (1836-1910). Louis Menand denkt darüber nach, wie Geschichtsschreibung Geschichte erst macht. Alex Ross hört den Los Angeles Master Chorale. Amanda Petrusich hört neue Countrymusik von Orville Peck, und Anthony Lane sah Jacques Audiards Film "Wo in Paris die Sonne aufgeht".

Magazinrundschau vom 05.04.2022 - New Yorker

Rebecca Belmore: "ishkode (fire), 2021

Kaum Malerei, viele Videoarbeiten und Installationen entdeckt Peter Schjedahl auf der Whitney Biennale für amerikanische Gegenwartskunst und erkennt nicht nur eine Emazipation vom Kunstmarkt, wie er im New Yorker schreibt, sondern auch einen Trend weg vom persönlichen Gefühl hin zu einer gemeinsamen Erfahrung: "Erwarte nur niemand, auf den ersten Blick viel zu verstehen. Im Mittelpunkt der Arbeit 'ishkode (fire)' von Rebecca Belmore, einer Anishinaabe-Künstlerin aus Kanada, steht die Darstellung eines in Ton gegossenen Schlafsacks, der sich aufgenscheinlich um eine stehende Figur hüllt, die selbst nicht zu sehen ist. Um sie herum auf dem Boden liegen Tausende von kleinkalibrigen Patronenhülsen, vermischt mit Kupferdraht. Die Arbeit ist wunderschön, bevor man darüber spekuliert, was sie beabsichtigt, aber auch danach. Die Arbeit zeichnet sich durch eine sorgfältige Gestaltung aus, die für zahlreiche Werke der Ausstellung typisch ist. Ich kann mir vorstellen, dass die pandemische Isolation, die Künstler gleichzeitig ihrer Karriezwänge beraubt und befreit hat, eine einsame Kultivierung von Perfektion begünstigt hat."

Magazinrundschau vom 29.03.2022 - New Yorker

Dass Belgier, Deutsche und Niederländer in ihren Kolonien unmenschlich grausam gehaust hatten, ist bekannt. Aber waren die Briten wirklich die besseren Kolonialherren? Sunil Khilnani hat ein Buch gelesen, dass diese These rundheraus ablehnt: Caroline Elkins hat in "Legacy of Violence" einige der gruseligsten britischen Kolonialverbrechen beschrieben, darunter die Niederschlagung des Mau-Mau-Aufstands in den 1950er Jahren, bei dem wohl um die 300.000 Menschen getötet wurden, die Niederschlagung eines Aufstands von Palästinensern in den späten 1930er Jahren oder die Unterdrückung der Iren. Dabei fiel ihr ein Muster auf: Während britische Politiker von Zivilisation und Recht sprachen, setzten Militärs und Polizisten im ganzen Reich Unterdrückungstechniken ein, gegen die höhere Stellen fast nie einschritten. Elkins zeigt, wie diese Taktiken in der Kampftruppe von Churchill-Freund Henry Hugh Tudor zusammenliefen, so Khilnani: "Aus Irland kamen paramilitärische Techniken und der Einsatz gepanzerter Fahrzeuge, aus Mesopotamien die Erfahrung mit Luftangriffen und dem Beschuss von Dörfern, aus Südafrika der Einsatz von Dobermännern zum Aufspüren und Angreifen von Verdächtigen, aus Indien Verhörmethoden und der systematische Einsatz von Einzelhaft und aus der Nordwestgrenze des Raj der Einsatz von menschlichen Schutzschilden zum Räumen von Landminen. Ein Soldat erinnerte sich an den Einsatz von arabischen Gefangenen: 'Wenn es Landminen gab, dann waren sie es, die sie gelegt hatten. Ein ziemlich schmutziger Trick, aber es hat uns Spaß gemacht.' Andere Praktiken scheinen von den Briten in Palästina selbst entwickelt worden zu sein: nächtliche Überfälle auf verdächtige Gemeinden, ölgetränkter Sand, der Eingeborenen in den Hals gestopft wurde, Käfige unter freiem Himmel, in denen Dorfbewohner festgehalten wurden, Massenabrisse von Häusern. Während sie solche Taktiken an den Palästinensern perfektionierten, so Elkins, eigneten sich die Offiziere Fähigkeiten an, die sie später in Aden (im Süden des heutigen Jemen), an der Goldküste, in Nordrhodesien, in Kenia und auf Zypern einsetzten. Palästina war, kurz gesagt, das führende Atelier des Empires für Zwangsunterdrückung."

Magazinrundschau vom 22.03.2022 - New Yorker

Masha Gessen porträtiert russische Freunde, die Russland verlassen haben, es verlassen mussten. Sie gehören zu der guten Viertel Million, die ihr Land seit dem Krieg gegen die Ukraine verlassen haben. Es ist schwierig für sie: Viele Länder nehmen sie nicht auf, jedenfalls nicht auf Dauer. Also gehen viele nach Georgien, wo sie bis zu einem Jahr ohne Visum bleiben können. Für Russland ist es ein schrecklicher Verlust: "Viele derjenigen, die Russland verlassen haben, sind IT-Fachleute; einige von ihnen scheinen, zumindest vorübergehend, in Eriwan, einem regionalen Technologiezentrum, zu bleiben. Andere sind Journalisten, Akademiker und Führungskräfte der NRO, die in Berlin, Tiflis, Tallinn und Vilnius landen. Ihre Ausreise beschleunigt den seit langem andauernden Prozess der Abschaltung der russischen Zivilgesellschaft, ohne dass der Staat die Menschen einzeln verfolgen und inhaftieren muss", erzählt Gessen. Aber auch für die Flüchtlinge, die alles verloren haben und als Russen schief angesehen werden, ist es schwer. "'Ich habe getan, was ich konnte', sagt Primakova. 'Aber ich bin keine Heldin. Ich fühle mich nicht schuldig gegenüber den Ukrainern, denn ich habe nicht das Gefühl, dass das, was in der Ukraine geschieht, in meinem Namen geschieht, aber ich fühle mich schuldig gegenüber den Menschen, die in Moskau zurückgeblieben sind. Und jedes Mal, wenn jemand, der mir wichtig ist, abreist, atme ich erleichtert auf und merke, wie viel Angst ich um ihn hatte. Es ist ein egoistisches Gefühl, diese Erleichterung, denn es bedeutet, dass ich mich etwas weniger schuldig fühlen kann.' Verantwortung, Schuldgefühle, Scham, ob individuell oder kollektiv - die vielen Abstufungen dieser Gefühle sind in jedem der neuen Exilanten nahe an der Oberfläche. 'In den ersten fünf Tagen konnte ich nicht verhindern, dass meine Hände zitterten', sagt Aleshkovsky. 'Ich wäre am liebsten buchstäblich vor Scham verbrannt. Wir alle sind für diesen Krieg verantwortlich. Selbst diejenigen, die viel getan haben, um ihn zu verhindern, haben nicht genug getan - denn der Krieg begann.' ... Wie kann man als Russe leben, während Russland ukrainische Häuser, Schulen und Entbindungsstationen bombardiert? 'Ich weiß nicht, was ich einem Ukrainer sagen kann', sagte Babitsky. 'Ich kann nicht so tun, als sei es Putin, der die Ukraine bombardiert, und ich hätte nichts damit zu tun. Ich kann nicht um Verzeihung bitten, denn Verzeihung kann man nicht geben, während Charkiw bombardiert wird. Was ich also sage, ist, dass ich ein riesiges Loch in mir habe, und ich bitte sie, mir zu sagen, was ich tun kann. Und das ist ihnen gegenüber nicht fair.'"

Patrick Radden Keefe lernt aus den Büchern von Catherine Belton ("Putins Netz") und Tom Burgis ("Kleptopia: How Dirty Money Is Conquering the World") in welchem Ausmaß Britannien russischen Oligarchen hilft, ihr Geld und ihre Reputation wäscht. Wer keine Lust zum Lesen hat, kann sich auch von dem ehemaligen Russland-Korrespondenten Oliver Bullough auf eine "Kleptokratie-Tour" durch London mitnehmen lassen: "Bullough taucht mit einer Busladung Gaffer vor eleganten Villen und Apartmenttürmen aus Stahl und Glas in Knightsbridge und Belgravia auf und zeigt die millionenschweren Residenzen der zwielichtigen Ausländer, die dort Zuflucht gefunden haben. In seinem soeben in Großbritannien erschienenen Buch 'Butler to the World: How Britain Became the Servant of Oligarchs, Tax Dodgers, Kleptocrats, and Criminals' argumentiert er, dass England aktiv um solche korrumpierenden Einflüsse geworben hat, indem es 'einige der schlimmsten Menschen, die es gibt', wissen ließ, dass es für Geschäfte offen ist." Bestätigt werden die Recherchen der drei von der "britischen National Crime Agency, die feststellte, dass jedes Jahr 'viele hundert Milliarden Pfund an internationalem kriminellem Geld' über britische Banken und Tochtergesellschaften gewaschen werden. Und vom Geheimdienstausschuss des Parlaments, der London als 'Waschsalon' für illegales russisches Geld bezeichnet hat. Und vom Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des Unterhauses, der 2018 erklärte, dass die Leichtigkeit, mit der der russische Präsident und seine Verbündeten ihren Reichtum in London verstecken, Putin geholfen hat, seine Agenda in Moskau zu verfolgen."

Weiteres: Die Musiker Emily Richmond Pollock und Kira Thurman diskutieren über das Canceln russischer Musiker wie Anna Netrebko oder Alexander Malofeev, die sich nicht ausdrücklich von Putin distanzieren wollen. Becca Rothfeld liest mehrere Bücher zum "Shaming-Industriekomplex". Calvin Tomkins porträtiert die Künstlerin Simone Leigh, die die USA auf der nächsten Kunstbiennale in Venedig vertreten wird. Carrie Battan hört Reggae von Koffee, und Anthony Lane sah im Kino Graham Moores "The Outfit" mit Mark Rylance als Schneider in der Savile Row.

Magazinrundschau vom 15.03.2022 - New Yorker

In einer Reportage schildert Joshua Yaffa sehr eindrücklich das Kriegsgeschehen in der Ukraine aus den verschiedenen Gebieten, in die er sich gewagt hat, vor allem aus der umzingelten Hauptstadt: "Im Lauf der Zeit habe ich Kiew mit seiner vorrevolutionären Architektur, seinen fröhlichen Menschen und fabelhaften Restaurants lieben gelernt, ganz zu schweigen von der Techno-Musikszene, die wohl zu den besten des Kontinents gehört. Jetzt trauten sich nur noch wenige Menschen auf die Straße; wer es nach der Ausgangssperre tat, wurde automatisch als pro-russische Diversanten oder Saboteure betrachtet. 'Wir machen Jagd auf diese Leute', sagt Witali Klitschko, Kiews Bürgermeister und ehemaliger Boxweltmeister im Schwergewicht, und behauptet, in einer einzigen Nacht seien sechs Diversanten getötet worden. Ein ukrainischer Freund scherzte, dass ich in Schwierigkeiten käme, wenn ich an einem Kontrollpunkt der Territorialen Verteidigung angehalten und nach dem Wort gefragt würde, das zu einer Art Code für das Aufspüren feindlicher Agenten geworden war: paljaniza, der Name eines weichen Weißbrots. Das Wort geht ukrainischen Sprechern leicht über die Lippen, ist aber für Russen schwer auszusprechen... An einer Überführung unweit des Kiewer Zoos kam ich zu einer Stelle, an der ukrainische Soldaten in der Nacht zuvor russische Truppen in einen Hinterhalt gelockt hatten, als diese versuchten, in ein Waffenlager tief in der Stadt einzudringen. Zwei ausgebrannte Militärfahrzeuge standen auf der Straße, und Metall- und Glassplitter zogen sich über eine halbe Meile hin. Körperteile lagen verstreut auf der Straße."

Ruth Franklin arbeitet sich noch einmal durch Peter Handkes Werke, kann aber nichts finden, was in ihren Augen zu seinen Gunsten spräche: "Seine Verteidiger argumentieren, dass man einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Sätze leicht missverstehen könne, weil Handke 'dialektisch' schreibe. Als ich anfing 'Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina' zu lesen, war ich genau darauf vorbereitet. Doch das Buch war sogar noch ärgerlicher, als ich mir hätte vorstellen können. Handke behauptet schlichtweg, dass er Menschen, denen er begegnet, selten eine Frage stellt, er verlässt sich stattdessen auf seine Vorstellung und seine Annahmen."

Magazinrundschau vom 08.03.2022 - New Yorker

Die ecuadorianische Hafenstadt Guayaquil wurde von der Pandemie mit einer unermesslichen Wucht getroffen. Im März und April 2020 starben bis zu siebenhundert Menschen pro Tag, bei 2,6 Millionen Einwohnern: Die staatliche Versorgung war komplett zusammengebrochen, Krankenhäuser, Polizei, Feuerwehr, Behörden, nichts funktionierte mehr, berichtet Daniel Alarcón. Corona wütete so plötzlich und heftig, dass Guayaquil danach quasi herdenimmun war, doch wie Alarcón betont, war dies kein Grund zu Erleichterung. Nach der Pandemie zog eine Welle der Gewalt über die Stadt: "Die offizielle Darstellung der Regierung lautete, dass die Gewalt in den Gefängnissen und auf den Straßen eine Folge des aufblühenden Drogenhandels und des wachsenden Einflusses ausländischer - insbesondere mexikanischer - Kartelle sei. Anfang dieses Jahres wurden in Durán, einer Industriestadt auf der anderen Seite des Flusses von Guayaquil, Leichen an einer Fußgängerbrücke aufgehängt - eine Art von Gewaltspektakel, das für Ecuador neu war. Sicherlich war die Hafenstadt Guayaquil zu einer Drehscheibe für Kokain auf dem Weg nach Norden zu den amerikanischen Konsumenten geworden, aber viele Menschen, mit denen ich sprach, zweifeln an dieser Erklärung. Karol Noroña von der lokalen Zeitschrift GK erklärte mir, dass das Blut auf den Straßen das Ergebnis eines internen Kampfes um die Kontrolle des Drogengeschäfts sei, bei dem ecuadorianische Banden untereinander kämpfen, und nicht etwas, das von ausländischen Kartellen gesteuert wird. In den meisten Berichten über die Straßenkriminalität wurde der makabre Ausdruck 'Begleichen von Rechnungen' verwendet, um der Mittelschicht zu signalisieren, dass die Gewalt nichts mit ihr zu tun hat, dass die Opfer an irgendetwas schuldig sind, aber Noroña sagte mir, dass die Eskalation der letzten Monate diese impliziten Beruhigung bedeutungslos gemacht hat. Für sie ist die Gewalt ein Symptom für eine tiefe soziale Krise. 'Es gibt Stadtteile ohne fließendes Wasser, ohne Grundversorgung, aber mit organisierten Netzwerken der Gewalt', sagte sie. Während sie sprach, erinnerte ich mich an ein Gespräch mit einer Frau in Monte Sinaí, das nur wenige Autominuten vom Krankenhaus entfernt auf dem Hügel liegt. Sie und einige Nachbarn hatten während der Pandemie bei der Versorgung der Kinder vor Ort geholfen, sie gingen von Haus zu Haus und brachten Mahlzeiten. Auf der anderen Straßenseite, so erzählte sie mir, gab es ein leeres Grundstück, auf dem die Kinder gerne spielten. Eines Morgens im April 2020 wurde der Spielplatz eingezäunt. Jetzt war er ein Friedhof."

Magazinrundschau vom 01.03.2022 - New Yorker

Lawrence Wright verfolgt einen erbittert geführten Rechtsstreit, der unter anderem die Frage aufwirft, ob ein Elefant eine Persönlichkeit hat beziehungsweise ist: "Gemäß dem Zivilgesetzbuch des Bundesstaates New York hat jede 'Person', die inhaftiert wurde, ein Recht auf unverzügliche Haftprüfung. In Bronx County kommen die meisten dieser Forderungen im Namen von Gefangenen auf Rikers Island. Habeas-Petitionen werden nicht oft vor Gericht verhandelt, was nur einer der Gründe dafür war, dass der Fall vor der Richterin des Obersten Gerichtshofs von New York, Alison Y. Tuitt - Nonhuman Rights Project gegen James Breheny, et al. - außergewöhnlich war. Gegenstand der Petition war Happy, ein asiatischer Elefant im Bronx Zoo. Das amerikanische Gesetz behandelt alle Tiere als 'Dinge', genau wie Steine oder Rollschuhe. Wenn die Justiz dem Habeas-Antrag stattgeben würde, Happy aus dem Zoo in ein Schutzgebiet zu verlegen, wäre sie in den Augen des Gesetzes eine Person und hätte Rechte … Obwohl die unmittelbare Frage an Richter Tuitt die Zukunft eines einsamen Elefanten betraf, warf der Fall die weitreichendere Frage auf, ob Tiere die neueste Grenzverschiebung im amerikanischen Recht darstellen, eine Entwicklung, die durch das Ende der Sklaverei und die Akzeptanz des Wahlrechts für Frauen und der Ehe Gleichgeschlechtlicher geprägt ist. Diese Meilensteine waren das Ergebnis erbitterter Kämpfe, die sich über Jahre entwickelt haben. Laut einer Gallup-Umfrage im Jahr 2015 war ein Drittel der Amerikaner der Meinung, dass Tiere die gleichen Rechte wie Menschen haben sollten, verglichen mit einem Viertel im Jahr 2008. Aber Tiere auf diese Weise zu schützen, hätte weitreichende Konsequenzen, darunter die Aufgabe der Tierschutzgesetze."

In einem weiteren Beitrag erklärt Peter Schjeldahl, warum es an der Zeit ist, die afroamerikanische Malerin Faith Ringgold zu kanonisieren, deren Gemälde "American People Series #20: Die" das Museum of Modern Art in einem kuratorischen Coup neben Pablo Picasso hängte: "Für ein Museum, das sich seit langem für eine teleologische Darstellung der Entwicklung der Ästhetik des 20. Jahrhunderts einsetzt, ist dies überraschend, insbesondere weil der Ringgold in der Nähe von Picassos 'Les Demoiselles d'Avignon' gezeigt wird, mit dem Picasso das Thema afrikanischer Masken in die europäische Kunst brachte. Die beiden Bilder sind im Abstand von genau sechzig Jahren entstanden: Die 'Demoiselles' 1907, während Picasso in Paris lebte, und 'Die' 1967 in New York, einem Jahr rassistischer und politischer Gewalt in Amerika. Ringgold und Picasso machen sich überraschend gut nebeneinander und erzählen gemeinsam eine komplexe zivilisatorische und stilistische Geschichte. Kontrastierende Energien, geballt in 'Demoiselles', explosiv in 'Die' erzeugen Bedeutungen, die subtiler sind, als der erste Schock nahelegt."

Magazinrundschau vom 08.02.2022 - New Yorker

Jonathan Blitzer zeichnet ein wunderbares Porträt des brasilianischen Musikers Caetano Veloso, der die Militärdiktatur der Siebziger überlebte, heute gegen Bolsonaro kämpft, mit einer 13-Jährigen liiert war, die er später heiratete, und nebenbei immer wieder die brasilianische Musik revolutionierte: 1967, als die Linke gegen den "Imperialismus der E-Gitarre" protestierte, verschmolz er brasilianischen Folk mit britischem Rock. Er arbeitete mit Country-Sängern, Carioca-Rappern und Hip-Hop-DJs zusammen. In den 00er Jahren, nach der Trennung von seiner Frau und einem persönlichen wie künstlerischen Tief erfand er sich in Neapel, wo ihm sein Freund Pedro Sá Musik von Wilco, den Pixies, und einer Funkband aus New Orleans namens The Meters vorspielte, noch einmal neu: "Veloso beschloss, seine Musik radikal zu vereinfachen. Er gab die ausladenden, offenen Arrangements seiner früheren Werke auf, die eine große Anzahl von Begleitern in verschiedenen Stilen erforderten. Stattdessen spielte Sá die E-Gitarre, während Veloso zwischen elektrischer und akustischer Gitarre wechselte. Sie holten einen Schlagzeuger und einen Bassisten hinzu, der auch das Keyboard spielte. Die Gruppe, die Banda Cê genannt wurde, war wie eine ausgeklügelte Garagenband: Sie spielte straffe, kantige Melodien mit Verzerrungen, Rock-Vamps und beschleunigten Rhythmen. 'Eine Samba-Parade hatte sich in eine Schlägerei verwandelt', schrieb ein Kritiker in der Times und fügte hinzu, dass die Musik 'einen kühleren, erwachseneren Epilog zu den Schocks von Tropicália suggerierte'. Im Gegensatz zu Tropicália war Banda Cê jedoch ein Triumph für die Kritiker. 'Das Coolste, was es damals in Brasilien gab, war Banda Cê', sagte mir der Musikjournalist Leonardo Lichote. 'Diese Jungs waren wie die Unberührbaren. Caetano trug eine Jeansjacke und ein lila T-Shirt. Eine jüngere Generation fing an, ihm zuzuhören, und fand dann Gefallen an seiner ganzen Musik'. Veloso war vierundsechzig Jahre alt.

Tanzen kann er übrigens auch:



In einem ebenfalls sehr lesenswerten Artikel stellt Alexis Okeowo die Porträts vor, die die Dichterin Warsan Shire in einer Mischung aus Lyrik und Reportagen von Somalis im Exil gemacht hat: "An einem regnerischen Tag in London um 2013 schaltete die Dichterin Warsan Shire ein Diktiergerät ein, als ihr Onkel über seine Jugend in Somalia, sein Leben als Flüchtling und seine Sucht nach dem bitteren Aufputschmittel Khat sprach. ... Er sagte ihr: 'Wenn du high bist, ist es, als würdest du mit deinen Worten und deinen Träumen diese riesigen Türme bauen, was du morgen tun wirst, wie du dein Leben in Ordnung bringen wirst. Und dann geht die Sonne auf, und die Türme sind umgefallen. Und das machst du jeden Tag und kommst nicht weiter, weil du dich ständig selbst belügst.' ... Ein Großteil von Shires Gedichten befasst sich mit den Erfahrungen von Immigrantinnen. In den letzten Jahren war sie jedoch immer neugieriger auf das Innenleben der Männer in ihrer Familie geworden. 'Es gab immer eine Sache, die ich an einigen der Männer, mit denen ich aufgewachsen bin, besonders traurig fand', sagte sie mir. 'Sie trugen diese Anzüge, die ein bisschen zu groß waren und über die Handgelenke hingen, und sie sahen aus wie kleine Jungs, die sich verkleiden, um zu einem Vorstellungsgespräch zu gehen, bei dem sie niemals angenommen werden würden. Irgendwie erinnerte mich das auch daran, wie sinnlos sich ihr Leben in dieser neuen Welt anfühlen muss. Sie passen nirgendwo hin.'" Shires erster Gedichtband "Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head" wird im März erscheinen. Bei Lyrikline kann man einige ihrer Gedichte lesen und hören.

Weiteres: Margaret Talbot spürt in einer epischen Reportage nach, ob die konservativ-katholische Amy Coney Barrett, von Trump ernanntes jüngstes Mitglied des Supreme Court, helfen wird Roe vs. Wade zu kippen, das Abtreibungen für legal erklärte. Die Schriftstellerin Miriam Toews erzählt von ihrer Familie in Winnipeg. Parul Sehgal liest Sheila Hetis neuen Roman "Pure Colour". Carrie Battan hört psychedelischen Pop von Beach House. Anthony Lane sieht Joachim Triers Film "The Worst Person in the World" und Peter Schjeldahl besucht eine Ausstellung mit Skulpturen von Charles Ray im Met Museum.

Magazinrundschau vom 01.02.2022 - New Yorker

Ob der Kohleausstieg in der Lausitz glimpflicher ablaufen wird als in West Virginia? Dort arbeiteten in den fünfziger Jahren über hunderttausend Menschen im Kohlebergbau, jetzt sind es nicht einmal mehr fünfzehntausend. Die ökonomischen und politischen Folgen des planlosen Ausstiegs waren verheerend. Alec MacGillis ist in die ostdeutschen Braunkohlegebiete gefahren und stellt dort fest, dass es den Arbeitern vor allem um Anerkennung geht: "'Wenn man Kohlebergleuten bei der Arbeit zusieht, wird einem augenblicklich bewusst, in welch unterschiedlichen Welten die Menschen leben", schrieb George Orwell in 'The Road to Wigan Pier', seinem 1937 erschienenen Bericht aus Nordengland. 'Dort unten, wo nach Kohle gegraben wird, ist eine Welt für sich, man kann ganz leicht durchs Leben gehen kann, ohne je etwas von ihr erfahren zu haben. Wahrscheinlich würde es die Mehrheit der Menschen sogar vorziehen, nichts von ihr zu hören. Und doch ist sie das absolut notwendige Gegenstück zu unserer Welt hier oben... Ihre von Lampen erleuchtete Welt da unten ist für die Welt des Tageslichts da oben so notwendig wie die Wurzel für die Blume.' Diese Eigenschaft, nichts über den Kohleabbau hören zu wollen, die Abneigung der Menschen in den weit entfernten Städten, eine Verbindung zwischen ihrer Welt und der anderen herzustellen, hat einen Großteil des Unmuts in den Fördergebieten der USA hervorgerufen. 'Dieses Land hat davon profitiert, dass es den billigsten Strom der Welt hatte', sagte mir Cecil Roberts, der Präsident der United Mine Workers of America, im Juli in New York nach einer Kundgebung aktiver und ehemaliger Bergleute im Namen der streikenden Arbeiter von Warrior Met Coal in Alabama. 'Was sollen wir mit diesen Gemeinden machen?' Ähnlich äußerten sich auch Bergleute in Deutschland. 'Wenn wir jetzt wirklich dicht machen, dann hat Berlin keinen Strom mehr', sagte mir Toralf Smith, ein führender Vertreter der Kraftwerksarbeiter in der Lausitz. 'Und ich möchte mal sehen, wie es an den Universitäten in Berlin zugeht, wenn die Toiletten nicht funktionieren, die Handys nicht und das Internet. Wenn ihr Leben nicht funktioniert. Das ist ein Mangel an Respekt. Wenn wir aus klimapolitischen Gründen Dinge umstellen müssen, werden wir uns nicht dagegen wehren, aber es kann nicht auf unserem Rücken geschehen. Es muss mit uns gemacht werden.'"

Die Autorin Elif Batuman porträtiert die feministische Regisseurin Céline Sciamma, die mit "Porträt einer jungen Frau in Flammen" zeigte, dass Liebesgeschichten im Kino ganz ohne "Konflikt, Musik und Männer" auskommen können. Für Batuman gilt es jetzt, die ganze Filmgeschichte umzuschreiben: "Der vielleicht verstörendste Aspekt von #MeToo war, dass die meisten Filme,  die ich für den Ausdruck universeller ästehtischer Normen hielt, vielleicht sogar biologischer oder felsenfester Realitäten, die Fantasien einer kleinen Gruppe von Sexualstraftätern waren."