Magazinrundschau - Archiv

La vie des idees

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Magazinrundschau vom 17.10.2017 - La vie des idees

Matthieu Ferry stellt eine amerikanische Studie vor, die sich einem soziologischen Vergleich des praktischen und ethischen Umgangs mit Lebensmitteln in Frankreich und den USA widmet: "Contested Tastes: Foie Gras and the Politics of Food" von Michaela DeSoucey. Denn während in Frankreich die Gänseleber das Zentrum eines mächtigen gastronomischen Nationalismus bildet, ruft dieses Danaergeschenk in den USA Tierschützer auf den Plan. So ist sie in Chicago inzwischen verboten, was natürlich an ihren grausamen Produktionsbedingungen liegt: "Über Grausamkeit zu befinden, heißt, ein moralisches Urteil zu äußern. Für die Kultursoziologie hat ein solches Urteil zwei Ebenen: Zum einen verweisen unsere moralischen Standpunkte auf die Matrix von Objekten, die wir gemäß unseren eigenen ethischen Prinzipien für gut oder schlecht erachten. Zum anderen sind unsere Entscheidungen mit unserer sozialen Identität verknüpft und damit mit sozialen Gruppen, denen wir angehören; demnach ziehen sie auch symbolische Grenzen zu jenen Gruppen, deren Prinzipien wir nicht teilen. Die durch die Gänseleber ausgelöste Kontroverse aus soziologischer Perspektive zu betrachten, bedeutet deshalb, sich mit dem Konflikt zu befassen, indem man die kulturellen Identitäten der Beteiligten berücksichtigt und den Begriff der 'Gastropolitik' von Arjun Appadurai heranzieht, mit dem dieser Konflikte beschreibt, in denen richtige Ernährung ein Auffangbecken für moralische, kulturelle und politische Auseinandersetzungen ist."

Magazinrundschau vom 18.07.2017 - La vie des idees

Gerade vor dem Hintergrund des Tods von Liu Xiaobo und dem Umgang der chinesischen Zentralmacht damit (Auslöschung qua Verbrennung und anschließender Seebestattung) liest sich der manchmal etwas umständlich daherkommende Artikel David Bartels sehr faszinierend. Bartel erzählt unter dem Titel "Was hat man mit der chinesischen Aufklärung gemacht?", wie der Bürger- und Studentenaufstand vom 4. Mai 1919, der Wege in ein modernes China zu weisen schien, von der Kommunistischen Partei gekapert wurde und heute als Feiertag eher eine Peinlichkeit darstellt: unter anderem auch deshalb, weil die Abkehr von der Tradition im Namen der Aufklärung, als die die Partei den 4. Mai ursprünglich inszenierte, heute in mehrfacher Hinsicht vergiftet ist. Zum einen bezieht sich die Partei heute wieder positiv auf den einst einst verhassten Konfuzianismus, zum anderen erinnert der 4. Mai an etwas, das heute sowohl im Westen wie im China mit postmodernem Besteck dekonstruiert wird: Und "dieses Etwas ist die Idee der unveräußerlichen Menschenrechte, das Recht auf die Freiheit, in Würde zu leben und zu atmen. Ein Tyrann, eine Clique oder ein Priester können diese Rechte natürlich stets begrenzen, behindern oder auf eine hypothetische Zukunft verschieben, aber sie können sie nicht zerstören. Da sie unveräußerlich und unauslöschlich sind, hängen sie weder vom menschlichen Willen noch von politischen Entscheidungen ab. Ihr Genuss kann bedroht werden, die Rechte selbst nicht. Hier sieht man, wie der universale Sockel der Aufklärung ein radikales Potenzial der Infragestellung für Regimes darstellt, die sich wenig um demokratische Legitimität scheren." Die KP arbeite also zusammen mit postkolonialen Vertretern der westlichen Linken daran, so Bartel, die Idee universaler Werte als "kulturelle Maske des westlichen Kapitalismus und Ursprung der Totalitarismen und ihrer 'rationalen' Massaker'" darzustellen.

Magazinrundschau vom 11.07.2017 - La vie des idees

Vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingswelle unterhält sich Ivan Jablonka mit Aline Angoustures und Dzovinar Kevonian, zwei der drei Herausgeber der Studie "Réfugiés et apatrides - Administrer l'asile en France (1920-1960)". Die Autoren analysieren darin anhand unveröffentlichter Archivdokumente die französische Asylpolitik bis zum Beginn des Kalten Kriegs, darunter etwa die Konstruktion der Kategorisierung von "Flüchtling" und "Staatenlosem", aber auch die Art des Umgangs mit ihnen sowie ihrer "Verwaltung". Auf die Frage nach Vergleichsmöglichkeiten zu heute antworten sie: "Seit den 1920er-Jahren war der Schutz von Flüchtlingen ein europäisches und internationales Thema, insbesondere nach den Restriktionen, die die Vereinigten Staaten dann nach 1947-1948 aufgrund der Bipolarisierung des Kontinents einführten. Das ist auch heute noch so, trotz der Probleme und Unstimmigkeiten innerhalb der europäischen Gemeinschaft. Man kann außerdem feststellen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen immer politische und soziale Diskrepanzen erzeugt und ans Licht bringt. Die jeweilige Politik ist Ergebnis eines Kräfteverhältnisses und des Kompromisses zwischen den unterschiedlichen Konstellationen (Brüderlichkeit, Gleichgültigkeit, Andersartigkeit) und den Projektionen (Krieg, Elend oder auch Beschäftigungsschutz), deren Repräsentanten beziehungsweise Sündenböcke die Flüchtlinge sind."

Magazinrundschau vom 04.07.2017 - La vie des idees

Es ist schon vielfach thematisiert worden, dass die Vereinigten Staaten dem Holocaust mehr oder weniger tatenlos zusahen. Nun, so schreibt Laura Hobson Faure, sei die pragmatischere Frage zu stellen, welche Initiativen es denn eigentlich gegeben habe, um die europäischen Juden zu retten. Mit großem Nachdruck empfiehlt sie Catherine Collomps Studie "Résister au Nazisme - Le Jewish Labor Committee, New York, 1934-45". Das Jewish Labor Committee stand der bundistischen Bewegung, also der jüdischen, nicht kommunistischen Arbeiterbewegung in Osteuropa nahe, und versuchte, die Arbeiterorganisationen der USA in ihren Kampf einzubeziehen. Aber "es war schwierig, die amerikanische Arbeiterbewegung, die von der American Federation of Labor (AFL) und dem Congress of Industrial Organizations verkörpert wurde, zu überzeugen. Seit dem Ersten Weltkrieg verlangte eine immer stärkere isolationistische Bewegung Einwanderungsquoten. Das 1921 geschaffene und 1924 verschärfte Quotensystem begrenzte sehr strikt die Einwanderung aus Süd- und Osteuropa, um eine Barriere für nicht-protestantische Bevölkerungsgrupppen zu schaffen. Die AFL unterstützte diese Quoten, die sie als ein Mittel ansah, die Arbeitsbedingungen in den USA zu verbessern."

Magazinrundschau vom 20.06.2017 - La vie des idees

Kahlid Lyamlahi stellt eine Textsammlung zum arabischen Frühling vor: "Écrire l'inattendu : Les 'Printemps arabes' entre fictions et histoire". Darin wird versucht, mithilfe fiktiver Texte, Augenzeugenberichten sowie literarischer und künstlerischer Analysen das Unerwartete der Revolutionen zu denken. Möglicherweise mit dem Risiko, die politischen und soziokulturellen Disparitäten der betroffenen Länder außer Acht zu lassen. Obwohl Lyamlahi den neuen interdisziplinären Ansatz des Buchs lobt, hat er doch auch einige Kritikpunkte. "Warum wurden Kino und Theater nicht in den Blick genommen… und sich darauf beschränkt, den arabischen Frühling in den diversen Ländern ausschließlich im Bereich der Literatur und des schriftlichen Kommentars zu analysieren? Neben dieser berechtigten Frage wäre hinzuzufügen, dass das Buch, das in Frankreich verfasst wurde und in Europa veröffentlicht wird, auch in der arabischen Welt verbreitet wird. Diese Rückmeldung ist umso notwendiger, als es die Verfasser, die auf beiden Seiten des Mittelmeers schreiben, verdienten, jenseits der damit verknüpften geografischen und akademischen Grenzen gelesen und kommentiert zu werden, um diese abzutragen und zu überwinden."

Magazinrundschau vom 06.06.2017 - La vie des idees

Vincent Tiberj beschäftigt sich mit der Einstellung der Franzosen gegenüber Fremden. Nach den islamistischen Anschlägen könnte man meinen, dass diese der Wahl der extremen Rechten Vorschub leisten und fremdenfeindliche und autoritäre Tendenzen in der Bevölkerung verstärken. Meinungsumfragen ergeben jedoch ein differenzierteres Bild: "Die kollektive Erzählung ist ausschlaggebend, wenn man die Meinungs- und Wahldynamik im Lauf des Jahres 2015 verstehen will. Nach den Attentaten im Januar (auf Charlie Hebdo) verdankt sich die Beruhigung der Lage insbesondere den Demonstranten vom 11. Januar. Diese Bürger demonstrierten für Toleranz und Meinungsfreiheit und nicht gegen den Islam und Immigranten. Der Toleranz-Index der französischen Bevölkerung ist damals innerhalb von drei Monaten um zwei Prozentpunkte gestiegen. Das hat zwar nicht die beträchtlichen Ergebnisse des Front National bei den Departement- oder Regionalwahlen 2015 verhindert, insgesamt ist jedoch der Wille zum Ausdruck gekommen, gemeinsam Demokratie zu schaffen, und einen Diskurs und ein Projekt vorzulegen, die etwas anderes beinhalten als Misstrauen."

Magazinrundschau vom 23.05.2017 - La vie des idees

In einem Gespräch mit der englischen Soziologin Linsey McGoey geht es um die Motive und Hintergründe der Philanthropie. McGoe hinterfragt die Aktivitäten von Organisationen wie der Bill & Melinda Gates Foundation oder der Chan Zuckerberg Initiative. Jenseits der problematischen Aspekte des "Philanthrokapitalismus" fokussiert sie sich auf die zunehmende Intransparenz dieser Stiftungen. Und sie beschreibt ein weiteres Phänomen: "Interessant an diesen neuen Philanthrokapitalisten ist,wie sie ihre eigene Neuartigkeit betonen. Diese Hochnäsigkeit ist problematisch, vor allem, weil sie wie noch nie zuvor darauf bestehen, den Erfolg ihrer Schenkungen und Subventionen zu messen. Darüber hinaus glauben sie, ihre Fortschritte in der Verknüpfung des privaten mit dem Nonprofit-Sektor wäre irgendwie revolutionär oder avantardistisch. Das stimmt historisch beides nicht … Schon John D. Rockefeller und Andrew Carnegie waren buchstäblich besessen von dem Wunsch, die Wirkung ihrer philanthropischen Aktivitäten herauszustellen. Sie wollten ihr eigenes karitatives Handeln peinlich genau vom Begriff des Almosens abgrenzen, der an die christliche Auffassung von Wohltätigkeit geknüpft ist, derzufolge Großzügigkeit und Verdienst im Akt des Gebens bestehen, unabhängig von dessen konkreter Auswirkung."

Magazinrundschau vom 18.04.2017 - La vie des idees

Sehr interessant liest sich, wie Korine Amacher die Geschichte des russischen Gedenkens an die Oktoberrevolution seit dem Mauerfall und dem Kollaps der Sowjetunion erzählt. Dem Putin-Regime, das die leiseste Regung gegen die eigene Stabilität gnadenlos verfolgt, muss es ein wahres Kopfzerbrechen bereiten, diesen Bruch mit dem Zarenreich in eine Erzählung der nationalen Größe einzubetten. Laut Amacher geben die Schulbücher Aufschluss darüber, wie der offizielle Diskurs am 7. November lauten könnte: Dort "wird die tragische Dimension des Bürgerkriegs unterstrichen, aber die Bücher  bestehen zugleich darauf, dass Russland aus dieser 'großen Tragödie' noch stärker als zuvor auferstanden sei, indem es zur Sowjetunion wurde. In diesem Schema muss man keine Schuldigen mehr benennen oder sich allzu sehr auf die verschiedenen politischen Visionen einlassen. 'Weiße' wie 'Rote' haben für ein starkes Russland gerungen, das die Weißen als Zarenreich und die Roten als Sowjetunion wollten."

Lesenswert auch Jean Marcous Besprechung von Odile Moreaus Studie über die Türkei im Ersten Weltkrieg, "La Turquie dans la Grande Guerre, de l'Empire ottoman à la République de Turquie".
Stichwörter: Oktoberrevolution, Mauerfall

Magazinrundschau vom 24.01.2017 - La vie des idees

Gleichzeitig schwärmerisch und klug liest sich, was die Romanistin Alice Kaplan, die gerade die Studie "Looking for The Stranger - Albert Camus and the Life of a Literary Classic",  veröffentlicht hat, und der Autor Tobias Wolff im Gespräch mit Marie-Pierre Ulloa über Camus in Amerika erzählen. Kaplan bringt es auf den Punkt: "In den Vereinigten Staaten ist er sicher die am meisten geliebte Figur der jüngeren französischen Literatur - weit mehr als Sartre, Proust und Céline. In Frankreich und der übrigen Welt genoss er sein höchstes Renommee in der Nachkriegszeit, als er die Stimme der Résistance war. Nach 1962 ist er in eine Art Fegefeuer eingetreten, weil er einen gemäßigten algerischen Nationalismus in der Linie Ferhat Abbas' unterstützte. Er hat die Methoden des FLN, der Algerien mit der Unterstützung der französischen Linken zur Unabhängigkeit führte,  kritisiert. Aber Camus' Fegefeuer endete 1994, als der Roman, den man in dem Facel Vega, in dem er gestorben war, gefunden hatte, endlich veröffentlicht wurde. Mit 'Der erste Mensch' wird es möglich, Camus neu zu lesen. Diese autobiografische Erzählung eines Mannes, der weder der Kolonisator noch kolonialer Untertan ist, sondern ein Kind armer Siedler, lässt die instinktive Ablehnung, der Camus zum Opfer fiel, hinfällig erscheinen."

Magazinrundschau vom 03.01.2017 - La vie des idees

In einem Gespräch über "unsere sogenannten Leben" thematisiert der Sozialwissenschaftler und Journalist Sylvain Bourmeau zeitgenössische Vorstellungs- und Erkenntnisformen von gesellschaftlichem Leben und Lebenswelten. Dabei spannt er einen verknüpfenden Bogen von der Literatur über Fotografie und politischen Diskurs bis zur Soziologie. Nach einer veritablen Lobrede auf Michel Houellebecq, für ihn der einzige französische Literat, der sich der "großen Erzählungen der gesellschaftlichen Entwicklung" annimmt, sieht er das Problem bei Soziologen und Ethnologen darin, ihre doch aufschlussreichen Befunde in eine zugängliche, überzeugende Sprache zu übersetzen. Und kommt folgerichtig zu dem Schluss: "Nach meinem Empfinden sind die wirklich großen Soziologen auch große Schriftsteller ... Man hat gelegentlich den Eindruck, das einzig mögliche Modell der Literarisierung von Forschung seien Lévys 'Traurige Tropen'. Was ein Problem ist, denn es ist veraltet ... Wenn Autoren öfter die neueste Literatur läsen, würden sie anders schreiben, auf andere Mittel zurückgreifen … Bei den Historikern ist diese literarische Tradition schon älter, dort sieht man weiterhin, was die offene Stimme Michel Foucaults schaffen und bewirken konnte."