Magazinrundschau

Wie ein kaukasischer Dolch

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
03.12.2013. Vladimir Lenin oder Louis Vuitton - das ist heute keine Wahl mehr, meint der argentinische Schriftsteller Martín Kohan in Perfil. The Nation widerspricht indirekt mit einem Porträt des demokratischen Sozialisten Victor Serge. In Lapham's Quarterly berichtet der Autor Simon Winchester von einem fatalen Fehler, den er als Assistent eines Bestattungsunternehmers machte. Die LRB staunt über eine Bezos-Spende. Humanities porträtiert den Darwin-Antipoden Louis Agassiz. Die NYRB stellt sich dem Lenny-Problem.

Perfil (Argentinien), 30.11.2013

Der argentinische Schriftsteller Martín Kohan beobachtet den Moskauer Streit um den Louis-Vuitton-Riesenkoffer auf dem Roten Platz: "Jahrelang wurde an der Fassade eines Gebäudes in der vornehmen Avenida Callao in Buenos Aires auf einzigartige Weise symbolisch der zu jener Zeit die Welt bestimmende ideologische Konflikt ausgetragen: Die Abkürzung PC war dort gleich zweimal zu sehen, unmittelbar übereinander und in einzigartiger Spannung. Oben, im ersten Stock, standesgemäß verziert mit Hammer und Sichel, dem Graphem der proletarischen Revolution, verwies sie auf ein Büro der PC, der Kommunistischen Partei Argentiniens; genau darunter zeigten die beiden elegant geschwungen Buchstaben P und C an, dass sich dort eine Pierre Cardin-Filiale befand, die Quintessenz des gehobenen bürgerlichen Konsums. Im Moskau von heute gibt es keinen solchen Echo-Effekt mehr; dafür ergibt sich hier eine Spiegelung: VL/LV, Vladimir Lenin/Louis Vuitton - jeder möge sich selbst fragen, wen von beiden er ansteuern würde, ließe man ihm in diesem Augenblick auf dem Roten Platz die Wahl."
Archiv: Perfil

The Nation (USA), 09.12.2013

Sophie Pinkham porträtiert anlässlich einiger neuer Bücher den russischen Revolutionär und Schriftsteller Victor Serge, der zur Zeit von einer Linken wiederentdeckt wird, die am Sozialismus festhalten will, aber nicht an Stalin oder Trotzki: "Aus einer sozialistischen Perspektive gesehen, repräsentierte Serge den Weg, der nicht gegangen wurde, die demokratische Revolution, die es nicht gab. Nicht die Meinungsfreiheit und Widerspruch verteidigt zu haben, war seiner Ansicht nach der zentrale Fehler der Bolschewiken und der Hauptgrund für ihr Absinken in den Totalitarismus. Er stand Stalin, den er als 'furchterregend und banal wie ein kaukasischer Dolch' beschrieb, kritisch gegenüber, aber auch Trotzki, mit dem er nach der Veröffentlichung eines Artikels über die Fehler der Partei und Forderung nach Etablierung von Menschenrechten brach (Trotzki nannte den Essay eine 'Ausstellung kleinbürgerlicher Demoralisierung')."

Online ist jetzt Miriam Markowitz' kritischer Blick auf den amerikanischen Literaturbetrieb. Unter anderem stellt sie fest, dass in den führenden Literaturzeitschriften kaum Romane von Frauen besprochen werden. Deren Erfolg oder Sichtbarkeit beschränkt sich auf das kommerzielle Genre: "Eine Publikumsverlegerin erklärte mir, dass viele Autorinnen zunächst literarische Ambitionen pflegen, sich dann aber mit der Kategorie 'gehobene Preisklasse' zufrieden geben, zum Teil auch, weil das lukrativer ist. 'Wenn man in der Erfolgssparte Kasse machen will, wird man kein Prestige bekommen. Für viele Autorinnen ist das okay.' Nur wenige Autorinnen haben die Kontrolle über ihre Cover, ganz zu schweigen vom Marketing; aber wenn ihnen der Agent oder Verlag sagt, dieses Spitzenkleid oder jener zarte Schleier könnte Leser anlocken - wie können sie da nein sagen? Leser anspruchsvoller Romane, vor allem Frauen, werden immer auch kommerzielle Titel kaufen. Doch der phänomenale Erfolg von 'Fifty Shades of Grey', der Twilight-Serie oder Nora Roberts bei Frauen, die nicht unbedingt als Leserinnen gelten, legt nahe, dass es umgekehrt nicht genauso funktioniert. Man kann Frauen kaum vorwerfen, dass sie es auf dem kommerziellen Markt versuchen, wenn der literarische so ungastlich ist."

In der neuen Ausgabe von The Nation stellt Vivian Gornick Berel Langs neue Primo-Levi-Biografie vor, die sie aber in ihrer theoretischen Abgehobenheit nicht wirklich überzeugt hat.
Archiv: The Nation

Elet es Irodalom (Ungarn), 29.11.2013

Eszter Rádai sprach mit dem Medienrechtler Gábor Polyák, der unter anderem auch als möglichen Kandidat für die Leitung der neuen ungarischen Medienbehörde im Gespräch stand, über die Entwicklung der Medienlandschaft in Ungarn seit 2010. Besonders regimefreundlich äußert er sich nicht: "Man kann von einer Balkanisierung oder Berlusconisierung, vielleicht Putinisierung sprechen. Der Medienmarkt hat sich völlig verändert. Es tauchen zunehmend Unternehmen auf, die offen mit der Regierungspartei in Verbindung stehen. Vor allem auf jenen Kanälen, die Massen erreichen. (...) Als Beispiel gilt der landesweite Radiomarkt. Hier gibt es ein regierungsnahes Unternehmen mit Monopolstellung, das auch andere Medien in seinem Portfolio hat. Die Radiosender spielen Musik, Politik spielt keine Rolle, sie sind aber hervorragend dazu geeignet, mit den staatlichen und nichtstaatlichen Einnahmen die politischen Teile des Medienimperiums ungehindert zu finanzieren."

Lapham's Quarterly (USA), 25.11.2013

Der amerikanische Autor Simon Winchester erzählt die amüsant-makabre Anekdote, wie er mit 18 Jahren als Assistent des Leichenbestatters im Whittington Hospital in London anheuerte - als einziger Bewerber auf eine Zeitungsannonce, weshalb er auch ohne Vorkenntnisse sofort eingestellt wurde. Als er das schlaffe Bein eines toten alten Mann mit einem rostigen Abflussrohr aus dem Hof stabilisierte, kam es bei der Einäscherung zu einer unangenehmen Überraschung: "Vor meinem inneren Auge entfaltete sich das grausige Unheil, Sekunde um Sekunde. Die trauernde Versammlung im Krematorium. Die tröstenden Worte des schwarz-gekleideten Ministers. Der mit Blumen bedeckte Sarg auf Rollen. Der Vikar, der, nachdem aller Trost gespendet ist, einen versteckten Knopf auf seiner Kanzel drückt. Zwei zur Seite schwingende Samtvorhänge. Der Sarg, der beginnt, sich in den langen, dunklen Tunnel des Ofens hinab zu bewegen, ein Donner blauer Flammen, das rasche Schließen der Stahltüren, und dann die Kirchengemeinde, die herumsteht und Plattitüden murmelt, die Wichtigen danken dem Priester, während die anderen langsam aus den Kirchenbänken heraustreten. Und dann, laut, wie aus einem mysteriösen Nirgendwo - ein gut hörbares Geräusch. Ein scharfer, metallischer, dumpfer Schlag."
Stichwörter: Versammlung

Telerama (Frankreich), 30.11.2013

Jean-Baptiste Roch zeigt an fünf Beispielen aus Frankreich - darunter Filmen (zum Beispiel "Chasing Bonnie & Clyde" von Thomas Salva und Olivier Lambert), aber auch einer Supermarkt-Kooperative in Paris - wie der Schneeballeffekt des Crowdfunding im Internet funktioniert. Immerhin konnte sich Irma Pany, nachdem sie einen Youtube-Erfolg hatte, dieses Video finanzieren: "Sie sammelte 70.000 Euro in 48 Stunden ein. Damals versprach das Label My Major Company den Spendern ein Return on Investment. 'Mit diesem System war es doch sicher, dass man den dritten Kreis, den des großen Publikums, erreicht', sagt Michael Goldman. Angesichts der Enttäuschung der Spender, die sich beklagten, dass sie keinen Gewinn gemacht hatten, wurde das System aufgegeben."

Archiv: Telerama
Stichwörter: Bonnier, Crowdfunding, Youtube, Roche

Medium (USA), 20.11.2013

Dass sich Keime langfristig gegen Antibiotika immunisieren würden, hatte bereits ihr Entdecker Alexander Fleming vorhergesehen, doch Unterdosierungen bei Patienten und großflächiger Einsatz in der Tierzucht haben diesen Prozess dramatisch beschleunigt. Maryn McKenna zeichnet ein düsteres Bild des "post-antibiotischen Zeitalters", in dem Menschen wieder an Kratzern und Insektenstichen sterben und große Teile der modernen Medizin wieder unkalkulierbar riskant wird: "Bei vielen Behandlungsmethoden herrscht hohe Infektionsgefahr, wenn keine Antibiotika zum Einsatz kommen. Kanäle in die Blutbahn geben Bakterien einen direkten Zugang zum Herz und Hirn. Damit ist die Intensivmedizin mit ihren Beatmungsgeräten und Kathetern ausgeschlossen, aber auch etwas so prosaisches wie die Nierendialyse, bei der das Blut mechanisch gefiltert wird. Ebenfalls betroffen sind Operationen, besonders an bakterienreichen Stellen wie dem Darm oder den Harnwegen. Diese Bakterien sind harmlos an ihrem Wirkungsort, aber wenn sie ins Blut gelangen, wie es bei einer Operation passieren kann, sind Infektionen garantiert."
Archiv: Medium
Stichwörter: Tierzucht

Bloomberg Businessweek (USA), 21.11.2013

Der Inselstaat Kiribati besteht aus 32 Atollen, die kaum zwei Meter weit aus dem Pazifik ragen. Seine Bewohner bereiten sich darauf vor, dass ihr Lebensraum in absehbarer Zeit dem Klimawandel zum Opfer fallen wird, berichtet Jeffrey Goldberg: In den Kirchen predigen Pfarrer die Arche Noah, und Präsident Anote Tong verhandelt mit Fidschi und anderen Staaten über die Aufnahme seiner Bevölkerung: "Im Augenblick ist eine Massenauswanderung nur eine theoretische Option, weil es noch keinen Ort gibt, wo man hingehen könnte. Einige der Jüngeren lassen sich zu Matrosen ausbilden, in der Hoffnung, auf asiatischen Fischdampfern zu arbeiten, oder zu Krankenschwestern, um in neuseeländischen Altersheimen Anstellung zu finden. Tong nennt das 'Migration mit Würde': die Bürger Kiribatis nützlich zu machen für die Länder, die ihnen Zuflucht gewähren könnten. Doch die meisten Einwohner sind durch Blutsbande und Klanstrukturen eng miteinander verbunden und hängen so sehr an ihrem Land, dass der Gedanke ihre Zerstreuung unerträglich für sie ist."
Stichwörter: Klimawandel, Arch+

Wired (USA), 01.12.2013

"Dies ist der Mann, von dem Bill Gates meint, dass Sie ihn unbedingt lesen sollten." So kündigt Wired das Interview mit Vaclav Smil an, einem Sachbuchautor, dessen Auflagen nach einem dicken Lob von Bill Gates nach oben schossen. In einem seiner letzten Bücher wirft er den USA vor, die industrielle Produktion weithin aufgegeben zu haben. Aber Industrialisierung "schafft erst die unterere Mittelschicht", erläutert er im Gespräch mit Clive Thompson: "Wenn Sie den industriellen Sektor aufgeben, enden Sie mit Habenichtsen und Superreichen, mit sozialer Polarisierung." Im übrigen komme auch Innovation großenteils aus der Industrie - "aus Unternehmen, die ihre Produktreichweite, Profite und Kosten optimieren wollen. Sehr wichtig ist firmeninterne Forschung... Nur zwei Länder haben das richtig gemacht: Deutschland und die Schweiz. Sie haben beide starke Industriesektoren behalten und haben etwas Entscheidendes gemeinsam: Kinder gehen mit 15 in die Lehre. Ein paar Jahre, je nach Begabung, und du weißt, wie man BMWs macht. Und da du jung angefangen und von Älteren gelernt hast, können deine Produkte qualitativ nicht überboten werden. So beginnt es."
Archiv: Wired

Humanities (USA), 01.11.2013

Sehr anregend schreibt der Kulturhistoriker Christoph Irmscher (mehr hier und hier) über den Darwin-Antipoden Louis Agassiz, der Naturwissenschaften in den USA populär machte, aber anders als Darwin glaubte, dass jede Art für sich nach einem göttlichen Plan geschaffen worden sei. Sein Gegenpart und Darwin-Alliierter war Asa Gray, aber, so Irmscher, es wäre falsch zu glauben, dass hier eine Fortschritts- gegen eine konservative Partei gekämpft hätte, denn Gray, nicht Agassiz war kirchenfromm: "Professor Gray hatte kein Problem damit, Evolution als Beweis für Gottes Kraft anzusehen, ein Umstand, der seinen Freund Darwin bekümmerte, welcher eine ätzende Bemerkung über Gray hinterließ: Während Gray die Regentropfen zähle, die die Erde befruchten, sei er, Darwin, interessierter an jenen Tropfen, die in den Ozean fallen - eine wunderbare Art, Darwins Blick auf die Natur zu fassen, in welchem wenig Trost für die Kümmernisse der Menschheit liegt." Irmscher hat gerade eine Biografie über Agassiz vorgelegt, hier ein Auszug.
Archiv: Humanities

Huffington Post (USA), 18.11.2013

Bianca Bosker stellt uns den britischen Blogger Eliot Higgins vor, der als kommentierende Nervensäge beim Guardian begann und mittlerweile als Brown Moses eine der wichtigsten Informationsquellen für den Bürgerkrieg in Syrien ist. Auf seine Waffenanalysen stützen sich Journalisten ebenso wie Menschenrechtsorganisationen: "Im Gegensatz zu Journalisten, die über ihre Geschichten wachen, arbeitet Higging wie ein Sherlock Holmes der Open Source, stellt Fragen, schickt die Ideen von anderen Leuten weiter, gibt Tipps und denkt laut nach. Die Besessenheit, die ihn sein Leben lang begleitete, hat jetzt einen neuen Kanal. Er verbringt seine Tage mit scheinbar undurchschaubaren Details: Er analysiert die Schweißnähte an Raketenköpfen, rekonstruiert, wie sich das Metall über einen Sprengkopf biegt, stellt unaufhörlich Youtube-Playlisten zusammen und klickt in rasender Folge Start-Pause-Start-Zurück-Start, um in einem der zahllosen Videos den genauen Moment festzuhalten, wenn für ein paar Sekunden eine Rakete unscharf am Himmel über Syrien erscheint. 'Ich liebe es, wenn in der Schlacht eine neue Bombe benutzt wird', sagt Higgins. 'Naja, lieben ist zuviel gesagt. Aber kaum ist da 'ne neue Bombe, dann ich so: Boah, super, was Neues!'"
Archiv: Huffington Post

HVG (Ungarn), 20.11.2013

Ein neues Restitutionsgesetz verpflichtet die ungarischen Museen, ohne Rechtsgrundlage verstaatlichte Kunstwerke zurückzugeben. Wie die neue Regelung die Sammlungen betrifft, weiß heute niemand: Die Liste der Werke ist gegenwärtig nicht öffentlich. Nach dem neuen Verfahren müssen die Erben ihren Anspruch beim Notar beglaubigen lassen. Dann entscheidet die Nationale Vermögensverwaltung über die Herausgabe. Vor ihrer Deportation hatten jüdische Industrielle ihre Privatsammlungen oft an Museen zur Aufbewahrung übergeben. Ähnlich handelten adlige Familien nach dem Krieg. HVG berichtet: "Die Begründung für die Rückgabe vor Gericht hieß oft: emotionale Verbundenheit mit dem Werk, doch in der Praxis tauchten die Kunstwerke kurz darauf bei Auktionen auf. Es spielt dabei auch eine Rolle, dass die Exponate nicht außer Landes gebracht werden können, so lassen die meist im Ausland lebenden Erben die Bilder versteigern. Das passierte etwa mit der Vida-Sammlung - der Großindustrielle Jenö Vida wurde 1944 in Auschwitz ermordet. (...) Nach Laszló Csorba, Direktor des Ungarischen Nationalmuseums ist die Haltung der Museen eindeutig: 'Wenn die MNV feststellt, dass es kein staatliches Eigentumsrecht besteht, dann übergeben wir das Kunstwerk.' So können aber auch Stücke in privaten Sammlungen landen, bei denen es wünschenswert wäre, dass sie im Museum für die Öffentlichkeit zugänglich sind."
Archiv: HVG

London Review of Books (UK), 05.12.2013

Deborah Friedell stellt Brad Stones Buch "The Everything Store" über Jeff Bezos und die Anfänge von Amazon vor. Im Großen und Ganzen lesen sich die daraus zitierten Anekdoten beinahe wie ein einziges großes Schelmenstück, bei dem einem fast das große Lachen kommen könnte, wenn die zahlreichen Finten des Online-Versandhauses nicht Bestandteil einer knallharten Verdrängungsstrategie wären. "Eine als Triumph für Versandhäuser und Katalogfirmen eingeschätzte Entscheidung des US Supreme Courts hatte zur Folge, dass Unternehmen in Staaten, in denen sie keine 'physische Präsenz' unterhalten, keine Steuern auf Verkäufe abtreten mussten. Alles, was online verkauft würde, konnte damit günstiger angeboten werden als Waren in einem Laden. ... Selbstverständlich konnte Bezos sein Geschäft nicht in New York errichten - hier lebten zuviele potenzielle Kunden, deren Einkäufe er nicht versteuern wollte -, während es sich andererseits in einer Gegend, die zu isoliert lag, schwierig gestalten würde, Personal für die Technik zu finden. Den Kompromiss bildete Seattle: immerhin war Microsoft nicht weit. Auch ist Washington einer der wenigen amerikanischen Staaten, die keine persönliche Einkommenssteuer verlangen (Im Jahr 2010 spendete Bezos einer Kampagne 100.000 Dollar, die mit Erfolg die von Bill Gates unterstützte Initiative 1098 zerschlug, die alle Einkommen oberhalb von 200.000 Dollar pro Jahr besteuern wollte)."

Außerdem: Peter Pomerantsev erklärt, wie man sich im russischen Medienbetrieb - und überhaupt in Russland - in angenehme Position schmiert oder, ebenfalls unter reichlichem Einsatz finanzieller Schmiere, dem Wehrdienst entgeht.Julian Barnes liest neue Bücher über Lucian Freud. Thomas Laqueur bespricht Christopher Clarks "atemberaubend gutes Buch" über den Beginn des Ersten Weltkriegs. Michael Wood frischt sich Ernst Lubitschs "Sein oder Nicht-Sein" auf, während Marina Warner die Kara-Walker-Ausstellung im Camden Arts Centre besucht.

Merkur (Deutschland), 01.12.2013

Sebastian Conrad liest Pankaj Mishras Buch "Aus den Ruinen Europas" als einen Versuch, an eine Kritik am Westen anzuknüpfen, die Gelehrte wie Jamal al-Dinh al-Afghani, Liang Qichao und Rabindranath Tagore Anfang des 20. Jahrhunderts anbrachten, ohne dabei in einen antimodernen Kulturfundamentalismus zu verfallen: "Vor dem Ersten Weltkrieg war die Kritik an Europa mithin meist noch mit dem Ziel verbunden, es ihm nachzutun. Nicht Europas Botschaft wurde hinterfragt, sondern ihr Überbringer; nicht das Versprechen der Moderne, sondern der europäische Imperialismus. Im Kern ging es um Teilhabe, denn schließlich war das Beharren auf radikal alternativen Gesellschaftsentwürfen, auf grundlegender Differenz - angesichts des Machtgefälles der Zeit - mit der Gefahr der Kolonisierung oder mit der Verstetigung von Abhängigkeit verbunden."

Lothar Müller und Thomas Steinfeld vergewissern sich der anhaltenden Bedeutung der Zeitung, die auch in Zukunft und auf Papier das Schlüsselmedium der Öffentlichkeit sein werde. Aber nur mit gutem Feuilleton: "Es gibt nur eine Art, Autorität zu erwerben: durch Wissen, Klugheit, Verlässlichkeit, durch freie, begründete Urteile, die der Diskussion unterworfen werden und bei denen Wiederholungen nicht schaden. Das bedeutet auch, dass originelle Ideen oder sogar scoops die Autorität einer Zeitung nur stützen, aber nicht garantieren können."

Im Print schreiben Heinz Bude über Jean Amery und Wolfgang Marx über Sartre.
Archiv: Merkur

Point of VIew (Kanada), 25.11.2013

"Selbermachen oder sterben", lautete Thomas Whites Fazit zur finanziellen und arbeitstechnischen Lage der Dokumentarfilmemacher 2010, als die Finanzkrise in vollem Gange war. Seine Bestandsaufnahme des heutigen Status Quo gelangt zu einem ähnlichen Schluss, auch wenn das zwischenzeitig etablierte Crowdfunding-Modell und der Erfolg von Video-on-Demand etwas Linderung geschaffen hat: "Diesen vielversprechenden Innovationen und Möglichkeiten zum Trotz gibt es kaum rosige Aussichten, sich als Vollzeit-Dokumentarfilmemacher auf annehmbare, wenn nicht sogar lukrative Weise zu etablieren. Die Auswertung via Video-on-Demand, ob nun abo-, gebühren- oder werbebasiert, erweist sich mitunter als komplizierter Prozess. ... Hinzu kommt, dass zwar eine imposante Anzahl von Dokus in den vergangenen drei Jahren umsatztechnisch die Millionen-Dollar-Grenze gesprengt hat, wobei es sich zum großen Teil um Werke handelt, die für die große Leinwand konzipiert wurden, was üblicherweise auch ein großes Publikum anzieht. In der Regel bleiben den meisten Filmen aber nur die Festivals als Möglichkeit, sich im Kino zu präsentieren - weshalb Sean Farnel, der frühere Kurator von Hot Docs, vorgeschlagen hat, dass die Festivals damit anfangen sollten, die Filmemacher zu bezahlen."

Dazu passend: Das Online-Filmmagazin critic.de befasst sich in einem aktuellen Special mit dem Thema Online-Dokumentarfilm und Filmkritik.
Archiv: Point of VIew
Stichwörter: Crowdfunding

New York Review of Books (USA), 19.12.2013

Marina Warner stellt zwei Publikationen vor, die sich mit der Darstellung von Seeungeheuern auf historischen Landkarten beschäftigen ("Sea Monsters on Medieval and Renaissance Maps" von Chet Van Duzer und "Sea Monsters: A Voyage Around the World's Most Beguiling Map" von Joseph Nigg), außerdem den Katalog zu einer Ausstellung über Hexen und andere böse Wesen. "Kartografen des Mittelalters und der frühen Neuzeit berufen sich auf Augenzeugen der Gattung, die auch heute noch über Sichtungen des Ungeheuers von Loch Ness berichtet. Es sind frühe Reisende wie Marco Polo, Seefahrer, Pilger, Kuriositätensammler und jene Scharlatane, die bei ihren Darbietungen in Amsterdam, Venedig und London Wunder und Missgeburten zur Schaus stellten. Petrarca ist eine dieser überraschenden Instanzen; er wird von dem Entdecker Sebastian Cabot als Quelle für den Schiffshalter genannt, ein Ungeheuer, das zwar klein ist, sich aber an ein Schiff heftet, es trotz Wind und Strömung zum Stillstand bringt und in die Tiefe zieht. Auf Illustrationen ähnelt es einer gigantischen Assel."

Leider löst die neue Edition der Briefe Leonard Bernsteins das, was Robert Gottlieb das "Lenny problem" nennt, ganz und gar nicht. Das Problem definiert er aber schon mal ganz schön: "Ist er echt oder spielt er nur? Lieben wir ihn oder wollen wir ihn in den Hintern treten? Und reagieren jene, die ihn zum ersten Mal ohne Vorprägungen und Erwartungen erleben, genauso auf ihn wie wir, die ihn in allen seinen Verkleidungen live erlebten?" Aus den Briefen geht für Gottlieb noch mal neu hervor, was wir schon wussten: "Er ist ein Performer. Und seine Briefe sind Performances."

Außerdem: Die Autorin Lorrie Moore bespricht Abdellatif Kechiches Film "Blau ist eine warme Farbe" ("La Vie d'Adèle"), der in Cannes letztes Jahr wegen seiner lesbischen Liesbesszenen Riesenaufsehen erregt: "Sie sind zu lang, emotional belanglos, schauspielerisch unvorteilhaft und trübe anzusehen, wie die meisten langen Sexszenen." Joyce Carol Oates hat sich dagegen ziemlich gut mit der Autobiografie des Boxers Mike Tyson amüsiert, der ein überraschend gesundes Verhältnis zu seiner Karriere zu haben scheint.