Magazinrundschau
Wie ein kaukasischer Dolch
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
03.12.2013. Vladimir Lenin oder Louis Vuitton - das ist heute keine Wahl mehr, meint der argentinische Schriftsteller Martín Kohan in Perfil. The Nation widerspricht indirekt mit einem Porträt des demokratischen Sozialisten Victor Serge. In Lapham's Quarterly berichtet der Autor Simon Winchester von einem fatalen Fehler, den er als Assistent eines Bestattungsunternehmers machte. Die LRB staunt über eine Bezos-Spende. Humanities porträtiert den Darwin-Antipoden Louis Agassiz. Die NYRB stellt sich dem Lenny-Problem.
Perfil (Argentinien), 30.11.2013
Der argentinische Schriftsteller Martín Kohan beobachtet den Moskauer Streit um den Louis-Vuitton-Riesenkoffer auf dem Roten Platz: "Jahrelang wurde an der Fassade eines Gebäudes in der vornehmen Avenida Callao in Buenos Aires auf einzigartige Weise symbolisch der zu jener Zeit die Welt bestimmende ideologische Konflikt ausgetragen: Die Abkürzung PC war dort gleich zweimal zu sehen, unmittelbar übereinander und in einzigartiger Spannung. Oben, im ersten Stock, standesgemäß verziert mit Hammer und Sichel, dem Graphem der proletarischen Revolution, verwies sie auf ein Büro der PC, der Kommunistischen Partei Argentiniens; genau darunter zeigten die beiden elegant geschwungen Buchstaben P und C an, dass sich dort eine Pierre Cardin-Filiale befand, die Quintessenz des gehobenen bürgerlichen Konsums. Im Moskau von heute gibt es keinen solchen Echo-Effekt mehr; dafür ergibt sich hier eine Spiegelung: VL/LV, Vladimir Lenin/Louis Vuitton - jeder möge sich selbst fragen, wen von beiden er ansteuern würde, ließe man ihm in diesem Augenblick auf dem Roten Platz die Wahl."
The Nation (USA), 09.12.2013

Online ist jetzt Miriam Markowitz' kritischer Blick auf den amerikanischen Literaturbetrieb. Unter anderem stellt sie fest, dass in den führenden Literaturzeitschriften kaum Romane von Frauen besprochen werden. Deren Erfolg oder Sichtbarkeit beschränkt sich auf das kommerzielle Genre: "Eine Publikumsverlegerin erklärte mir, dass viele Autorinnen zunächst literarische Ambitionen pflegen, sich dann aber mit der Kategorie 'gehobene Preisklasse' zufrieden geben, zum Teil auch, weil das lukrativer ist. 'Wenn man in der Erfolgssparte Kasse machen will, wird man kein Prestige bekommen. Für viele Autorinnen ist das okay.' Nur wenige Autorinnen haben die Kontrolle über ihre Cover, ganz zu schweigen vom Marketing; aber wenn ihnen der Agent oder Verlag sagt, dieses Spitzenkleid oder jener zarte Schleier könnte Leser anlocken - wie können sie da nein sagen? Leser anspruchsvoller Romane, vor allem Frauen, werden immer auch kommerzielle Titel kaufen. Doch der phänomenale Erfolg von 'Fifty Shades of Grey', der Twilight-Serie oder Nora Roberts bei Frauen, die nicht unbedingt als Leserinnen gelten, legt nahe, dass es umgekehrt nicht genauso funktioniert. Man kann Frauen kaum vorwerfen, dass sie es auf dem kommerziellen Markt versuchen, wenn der literarische so ungastlich ist."
In der neuen Ausgabe von The Nation stellt Vivian Gornick Berel Langs neue Primo-Levi-Biografie vor, die sie aber in ihrer theoretischen Abgehobenheit nicht wirklich überzeugt hat.
Elet es Irodalom (Ungarn), 29.11.2013

Lapham's Quarterly (USA), 25.11.2013

Telerama (Frankreich), 30.11.2013

Medium (USA), 20.11.2013

Bloomberg Businessweek (USA), 21.11.2013

Wired (USA), 01.12.2013

Humanities (USA), 01.11.2013

Huffington Post (USA), 18.11.2013

HVG (Ungarn), 20.11.2013

London Review of Books (UK), 05.12.2013

Außerdem: Peter Pomerantsev erklärt, wie man sich im russischen Medienbetrieb - und überhaupt in Russland - in angenehme Position schmiert oder, ebenfalls unter reichlichem Einsatz finanzieller Schmiere, dem Wehrdienst entgeht.Julian Barnes liest neue Bücher über Lucian Freud. Thomas Laqueur bespricht Christopher Clarks "atemberaubend gutes Buch" über den Beginn des Ersten Weltkriegs. Michael Wood frischt sich Ernst Lubitschs "Sein oder Nicht-Sein" auf, während Marina Warner die Kara-Walker-Ausstellung im Camden Arts Centre besucht.
Merkur (Deutschland), 01.12.2013

Lothar Müller und Thomas Steinfeld vergewissern sich der anhaltenden Bedeutung der Zeitung, die auch in Zukunft und auf Papier das Schlüsselmedium der Öffentlichkeit sein werde. Aber nur mit gutem Feuilleton: "Es gibt nur eine Art, Autorität zu erwerben: durch Wissen, Klugheit, Verlässlichkeit, durch freie, begründete Urteile, die der Diskussion unterworfen werden und bei denen Wiederholungen nicht schaden. Das bedeutet auch, dass originelle Ideen oder sogar scoops die Autorität einer Zeitung nur stützen, aber nicht garantieren können."
Im Print schreiben Heinz Bude über Jean Amery und Wolfgang Marx über Sartre.
Point of VIew (Kanada), 25.11.2013

Dazu passend: Das Online-Filmmagazin critic.de befasst sich in einem aktuellen Special mit dem Thema Online-Dokumentarfilm und Filmkritik.
New York Review of Books (USA), 19.12.2013

Leider löst die neue Edition der Briefe Leonard Bernsteins das, was Robert Gottlieb das "Lenny problem" nennt, ganz und gar nicht. Das Problem definiert er aber schon mal ganz schön: "Ist er echt oder spielt er nur? Lieben wir ihn oder wollen wir ihn in den Hintern treten? Und reagieren jene, die ihn zum ersten Mal ohne Vorprägungen und Erwartungen erleben, genauso auf ihn wie wir, die ihn in allen seinen Verkleidungen live erlebten?" Aus den Briefen geht für Gottlieb noch mal neu hervor, was wir schon wussten: "Er ist ein Performer. Und seine Briefe sind Performances."
Außerdem: Die Autorin Lorrie Moore bespricht Abdellatif Kechiches Film "Blau ist eine warme Farbe" ("La Vie d'Adèle"), der in Cannes letztes Jahr wegen seiner lesbischen Liesbesszenen Riesenaufsehen erregt: "Sie sind zu lang, emotional belanglos, schauspielerisch unvorteilhaft und trübe anzusehen, wie die meisten langen Sexszenen." Joyce Carol Oates hat sich dagegen ziemlich gut mit der Autobiografie des Boxers Mike Tyson amüsiert, der ein überraschend gesundes Verhältnis zu seiner Karriere zu haben scheint.
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