Bücherbrief

Außenstationen der Gesellschaft

08.08.2022. Georgi Gospodinov nimmt in "Zeitzuflucht" scharfsinnig und burlesk populistische Sehnsüchte aufs Korn, Ralf Rothmann fordert uns in "Die Nacht unterm Schnee" moralisch und stilistisch heraus, Louise Nealon blickt mit ungefiltertem Witz auf die Scham in der irischen Kultur und Michael Krüger schreibt eine poetische Hommage auf den Maler Giovanni Segantini. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats August.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Georgi Gospodinov
Zeitzuflucht
Roman
Aufbau Verlag. 342 Seiten. 24 Euro

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Nur hymnische Besprechungen für diesen Roman des bulgarischen Schriftstellers Georgi Gospodinov. FAZ-Kritikerin Sabine Berking hält den Autor gleich für eine der eigensinnigsten und "scharfsinnigsten" Stimmen der europäischen Gegenwartsliteratur, sein neues Buch findet sie schlicht virtuos. Erzählt wird die Geschichte des melancholischen Flaneurs Gaustine, der eine Klinik für Demenzkranke eröffnet und dort zwecks Anregung der Erinnerung Zimmer im Stile vergangener Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts einrichtet. Die Idee breitet sich in Europa schnell wie ein Virus aus: Attrappen von Mausoleen, Diktatoren und Revolutionen werden errichtet, resümiert Berking, die sich fasziniert auf den Mix aus bewegenden Biografien, philosophischen Reflexionen und "burlesken" Szenen einlässt. Nicht zuletzt bewundert sie Gospodinos sprachliche Akrobatik - und Alexander Sitzmanns Übersetzung - und liest den Roman als beunruhigend aktuellen Kommentar über die "Sucht nach Geschichtsklitterung". Hochaktuell, auch mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, und wie eine humorvolle Dekonstruktion populistischer Sehnsüchte, erscheint auch Jörg Plath in der NZZ der Roman. Wie Gospodinov zudem mit gewitzten Kniffen die Vorhersehbarkeit der Ereignisse unterläuft, findet er brillant. In der Zeit ist auch Volker Weidermann verblüfft angesichts der schockierenden Aktualität. In der 3sat-Buchzeit wird der Roman kurz vorgestellt.

Ralf Rothmann
Die Nacht unterm Schnee
Roman
Suhrkamp Verlag. 304 Seiten. 24 Euro

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Eines versichern die KritikerInnen vorab: Der letzte Teil von Ralf Rothmanns Weltkriegs-Trilogie lässt sich auch ohne Kenntnis der beiden Vorgänger lesen. Und auch in ihrer Begeisterung für den Roman sind sich die Zeitungen weitgehend einig - allen voran Adam Soboczynski, der den Autor in der Zeit nicht nur für einen "einsamen Meister der Gegenwartsliteratur" hält, sondern den Roman auch als "Ereignis" preist, das die Leser "moralisch und stilistisch" herausfordere. Kaum einem Autor gelinge es, das Grauen deutscher Kriegsverbrechen in so exakte wie elegante Worte zu fassen wie Rothmann, staunt er. Wir begegnen hier einmal mehr dem Melkerpaar Elisabeth und Walter, angelehnt sind die beiden an Rothmanns Eltern. Vor allem die Vorgeschichte von Elisabeth steht im Zentrum des Romans: Ihre Flucht aus dem Osten, auf der sie Opfer einer derart brutalen Vergewaltigung wurde - eine Szene, die Rothmann gnadenlos, detailreich "übersachlich und kalt" schildert, - dass Soboczynski der Atem stockt. Wenn Elisabeth in Folge suizidal wird, ihre Kinder schlägt, sich aber auch in Tanz und Sucht stürzt, erkennt der der SZ-Kritiker Hilmar Klute einmal mehr Rothmanns Thema der "Leidvererbung". Bestechend findet Klute auch, wie der Autor geschichtliche Wahrheiten "wagemutig poetisch" einkreist und seine Idee von der erlösenden Kraft der Sprache und Literatur in den Text einarbeitet, inhaltlich wie formal. In der FR bewundert Judith von Sternburg immer wieder Rothmanns Gabe, so zu erzählen, dass sich beim Lesen das Gefühl einstellt, man hätte Einzelheiten selbst erlebt. Für eine "klugen Schachzug" des Autors hält sie auch die Idee, die Geschichte von einer nicht direkt involvierten, sondern der Familie nur nahestehenden Person erzählen zu lassen. Und in der taz nimmt Carsten Otte Rothmann in Schutz gegen Kritiker, die ihm Gefühlskitsch vorwerfen: Er liest einen vielschichtigen Text, autobiografisch, gesellschaftspolitisch und literarisch.

Louise Nealon
Snowflake
Roman
Mare Verlag. 352 Seiten. 24 Euro

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Louise Nealons Debütroman wurde für einen sechsstelligen Betrag verkauft, auch die Fernseh- und Filmrechte sind schon vergeben, informiert uns Edel Coffey, die für die Irish Times mit der jungen Irin über Depressionen, die Scham in der irischen Kultur und die Empfindlichkeit der Generation der Snowflakes gesprochen hat. Es ist vermutlich die nicht nur thematische Nähe zu Sally Rooney, die Nealon die Vorschusslorbeeren gesichert hat. Dabei ist der Roman mehr Rijneveld als Rooney, atmet in der FAS Susanne Romanowski auf. Zwar erinnert sie Nealons von einem irischen Kaff nach Dublin ans renommierte Trinity College ziehende Heldin Debbie auch an Rooneys Figuren, das Milieu ist ebenfalls ein ähnliches. Aber zum einen schreibe Nealon mit viel "ungefiltertem" Witz über ihren Frust in der College-Welt, amüsiert sich die Kritikerin. Vor allem aber blicke die Autorin in das Leben in ihrem irischen Heimatdorf, in dem der Pub Dreh- und Angelpunkt der Dorfgemeinschaft und Debbies Familie wie eigentlich das ganze Dorf dem Alkohol verfallen ist. Wie hier düster, aber auch "lakonisch" von Debbies Resilienz und ihrem Wunsch nach Anerkennung, auch ihrer Depression, erzählt werde, lässt Romanowski über ein paar sprachliche Schwächen hinwegsehen. Und im irischen Independent überzeugt Meadhh McGrath der Roman als "Studie über psychische Gesundheit, insbesondere in der Art und Weise, wie er das Schweigen und die Scham in Bezug auf Depressionen, Sucht und Selbstmord in der irischen Kultur anspricht. Oder wie Debbie es ausdrückt: 'In unserer Gemeinde ist es gesellschaftlich akzeptabel, Alkoholiker zu sein, solange man keine Behandlung dafür bekommt.'" Ebenfalls nach Irland führt uns Claire Keegans Kurzroman "Kleine Dinge wie diese" (Bestellen), der von dem Skandal um die unmenschliche Behandlung junger Frauen in den Magdalenen-Wäschereien erzählt: Im Dlf entdeckt Julia Schröder hier gar Anklänge an Charles Dickens.

Ilse Molzahn
Der schwarze Storch
Roman
Wallstein Verlag. 376 Seiten. 28 Euro

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Mit Ilse Molzahns Roman "Der schwarze Storch" gibt es mal wieder eine besondere Wiederentdeckung zu annoncieren. Geschrieben hat die Ende des 19. Jahrhunderts in Posen geborene Autorin ihren autobiografisch grundierten Debütroman bereits in den 1930er Jahren, veröffentlicht wurde er 1936, eine zweite Auflage von den Nazis allerdings wegen "Herabsetzung des deutschen Junkertums" verhindert, wie uns der Klappentext informiert. Nun liegt der Roman erneut in Originalfassung vor, herausgegeben und kommentiert von Thomas Ehrsam, und Molzahn entführt uns in die Welt eines Posener Gutshofs um 1900. In der FAZ staunt Lerke von Saalfeld, wie die Autorin aus der von Neugier und kindlicher Fantasie geprägten Perspektive der sechsjährigen Gutshofstochter Katharina, die von allen Kater genannt wird, das raue, von Gewalt geprägte, entbehrungsreiche Milieu schildert. Wir lesen vom Aufwachsen in bigotter Frommheit, von Katharinas einziger Verbündeter, der Magd Helene, die nach einer Vergewaltigung und heimlichen Abtreibung verblutet, aber auch von den titelgebenden Störchen. Bei aller Rohheit ist es aber gerade das staunend Naive und die kunstvolle Verbindung zwischen "ostpreußischer Realität" und der Fantasie des Kindes, die Dlf-Kritikerin Bettina Baltschev für den Roman einnehmen. Sie vergleicht das Buch mit Irmgard Keuns "Kind aller Länder" und wird Molzahns Kater sicher nicht mehr vergessen.

Sergej Gerassimow
Feuerpanorama
Ein ukrainisches Kriegstagebuch
dtv. 256 Seiten. 22 Euro.

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Von Kriegsbeginn bis zum 18. Mai führte der ukrainische Schriftsteller Sergej Gerassimow für die NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw, im Buch enthalten sind die Einträge bis zum 18. April. Mit angehaltenem Atem liest der Dlf-Kultur-Kritiker Jörg Plath die meist zwei bis drei Seiten langen Aufzeichnungen, die in der Form von Berichten, Beobachtungen, Anekdoten und Erinnerungen gehalten sind. Mit Diskretion und Knappheit, weitgehend auf Nachrichten von der Front verzichtend, erzählt ihm der in Charkiw lebende Autor von Menschen, die tagelang vor Apotheken und Supermärkten warten, bis die Zehen abgefroren sind, von Zerstörung und Angst. Zugleich zeugen die "intelligenten" Texte von einer Auseinandersetzung mit der Politik der Ukrainer, von Nationalismus und Patriotismus, meint Plath. Für die FAZ hat Sascha Feuchert das von Herbert Schäfer eingelesene Hörbuch besprochen: Für ihn liegt hier ein künftiger Klassiker der Antikriegsliteratur vor. Schneller und näher dran geht nicht, meint Feuchert und sieht Gerassimow Inkonsistenzen und Unkorrektheiten angesichts der Direktheit seiner Aufzeichnungen und der Brillanz seiner Reflexionen und Beobachtungen nach. Auch unbequeme Fragen, etwa nach dem Nationalismus der Ukrainer, lässt der Autor nicht aus, stellt Feuchert bewundernd fest. "Eindringlich-erschreckend" nennt Gerrit Bartels im Tagesspiegel das Buch, das er als "schillerndes Panorama, ein aus Beschreibungen, Reflexionen und Erinnerungen bestehendes Tableau" empfiehlt und mit Serhij Zhadans Roman "Mesopotamien" (bestellen) vergleicht.


Sachbuch

Olivette Otele
Afrikanische Europäer
Eine unerzählte Geschichte
Klaus Wagenbach Verlag. 300 Seiten. 28 Euro

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Die in Kamerun geborene und in Bristol lehrende Historikerin Olivette Otele widmet sich in diesem Buch der historischen Präsenz von Schwarzen in Europa. Dlf-Kultur-Kritiker Jens Balzer lernt interessiert, wie afroeuropäische Lebensgeschichten und Legenden wie die des Gelehrten Juan Latino in Granada, des schwarzen Märtyrers Mauritius oder auch die heutiger Rapperinnen europäische Kultur und Geschichte geprägt haben. In einer gelungenen Verbindung aus Exzeptionellem und Exemplarischen kann ihm Otele auch vermitteln, wie sich allmählich Ideen eines rassischen Unterschieds durchsetzten. In der SZ liest Peter Burschel das Buch auch als Appell für die politische Teilhabe von Afroeuropäern. Die chronologisch geordneten Geschichten im Band erschließen dem Rezensenten das "außergewöhnliche Normale", die "Selbstwahrnehmung von 'Schwarzsein'" zu unterschiedlichen Zeiten und einen differenzierten Blick auf Fragen zum Körper, zum Geschlecht und zur Religion. Und in der FAZ erkennt der Afrikanist Andreas Eckert einen Schwerpunkt der Arbeit in der Wandelbarkeit sozialer Hierarchien, die die Autorin laut Eckert anhand von Englands Sklavenhandel, aktuellem Rassismus und Persönlichkeiten wie dem afroniederländischen Geistlichen Jacobus Capitein exemplifiziert. Viel und gut besprochen wurde auch  Saidiya Hartmans Band "Aufsässige Leben, schöne Experimente" (Bestellen), in dem die Professorin für afroamerikanische Literatur und Kulturgeschichte schwarze und queere Frauen der zweiten und dritten Generation nach der Sklaverei porträtiert. Vor allem die in der FAS rezensierende Kulturwissenschaftlerin Novina Göhlsdorf war ganz hingerissen von der Beweglichkeit der Texte. Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf Angela Schaders "Vorwort" über die außergewöhnliche Anthologie "Timescapes - aller-retour. Erzählungen aus afrikanischen Kontexten" (Bestellen).

Rebecca Clifford
"Ich gehörte nirgendwohin"
Kinderleben nach dem Holocaust
Suhrkamp Verlag. 447 Seiten. 28 Euro

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Eine bis heute wenig beachtete Opfergruppe sind die Kinder, die den Holocaust überlebte. Die kanadische Historikerin Rebecca Clifford hat im Rahmen einer Studie nun Zeitzeugen unter 12 Jahren aus den Jahren 1935 bis 1945 interviewt. Wie die Autorin Fallstudien, die Darstellung der Arbeit jüdischer Hilfsorganisationen und Überlegungen zur Entwicklung eines genuinen Verständnisses psychologischer Auswirkungen des Krieges auf die Kinder verbindet, findet die SZ-Kritikerin Annette Eberle richtungsweisend. Auch der Blick der Autorin auf die Selbstbehauptung der Kinder erscheint Eberle extrem wichtig, auch mit Blick auf den Umgang mit heutigen Kriegserfahrungen. Eindringlich findet auch Judith Leister in der NZZ den Band, der sie erahnen lässt, was das Leben unter falscher Identität, ohne Eltern bedeutet. Auch über die sogenannten "Wolfskinder" aus Buchenwald und ihr Schicksal nach dem Krieg berichtet Clifford laut Leister. Das Buch könnte zu einem Standardwerk der Holocaustforschung werden, meint Marc Reichwein in der Welt: Cliffords Verweis auf die schwierigen, wechselseitig individuellen und sozialen Aspekte der Erfahrungen und das Aufzeigen emanzipatorischer Wege aus der Opfergruppe heraus machen dieses Buch für den Rezensenten sowohl facettenreich als auch erhellend. "Berührend und differenziert", nennt Wiebke Hiemesch auf hsozkult.de das Buch. Für Pflichtlektüre hält FAZ-Kritiker Thomas Meyer außerdem die von Sander L. Gilman unter dem Titel "Gebannt in diesem magischen Judenkreis" herausgegebenen Essays (Bestellen). Wenn der amerikanische Historiker schildert, was es im 21. Jahrhundert bedeutet, Jude zu sein, erschließen sich dem Kritiker nicht nur die historischen Muster des Judenhasses, sondern er erkennt auch, wie die aktuellen Erscheinungsformen davon berührt werden: Stichwort "Documenta 15".

Jochen Hörisch
Poesie und Politik
Szenen einer riskanten Beziehung
Carl Hanser Verlag. 160 Seiten. 24 Euro

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Eine Weile schien es um den in Debatten eingreifenden Schriftsteller stiller geworden zu sein. Kürzlich wurde allerdings erst die Idee einer Parlamentspoetin diskutiert, auch im Ukrainekrieg positionieren sich Schriftsteller auf verschiedenen Seiten und einer der sicher kontroversesten Kommentare zur Antisemitismusdebatte der Documenta 15 kam von Eva Menasse. (Unser Resümee). Dichterinnen und Schriftsteller liegen mit ihrem politischen Urteil nicht selten daneben, so die These des Mannheimer Literaturwissenschaftlers Jochen Hörisch. Er untersucht das Verhältnis von Poesie und Politik von Wieland über Goethe und Zola bis Amanda Gorman in diesem Essay, den uns bisher nur der Dlf Kultur ans Herz legt: Gut unterhalten folgt er hier den politischen Irrwegen von Dichtern und Dichterinnen: Ob Thomas Mann, Celine, Hauptmann, Becher oder Rinser und ihre "Hitler-Eloge", die Schriftsteller kommen nicht gut weg, wenn sie politisch Partei ergreifen. Wieso auch, fragt der Autor, sie sind auch bloß Menschen und als solche verführbar. Und der Rezensent lernt, sich besser nicht auf Dichters Meinung im Politischen zu verlassen, auch wenn Hörisch Fälle von wichtigem politischem Engagement bei Zola oder Goethe nicht unerwähnt lässt. Eindringlich und scharfsinnig nennt Mladen Gladic in der Welt den Band. Im SWR2 spricht der Autor über das Buch. Welt-Kritiker Marc Reichwein empfahl außerdem Irene Vallejos unter dem Titel "Papyrus" (Bestellen) erschienene, launige Geschichte der Welt in Büchern.

Brian Fagan, Nadia Durrani
Was im Bett geschah
Eine horizontale Geschichte der Menschheit
Reclam Verlag. 269 Seiten. 24 Euro

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Das klingt doch mal nach einer schönen Kulturgeschichte! Die beiden Archäologen Nadia Durrani und Brian Fagan widmen sich dem Bett und seiner kulturellen Bedeutung und fördern dabei allerhand Kuriositäten zutage. Wir erfahren nicht nur einiges über die Geschichte des Bettes von der Steinzeit bis zum Wasserbett, sondern auch von seiner mitunter außergewöhnlichen Nutzung: Neben Schlafen und Sex diente das Bett auch als Regierungsort oder Prunkstück der Wohnung. taz-Kritikerin Marlen Hobrack wird bestens unterhalten von diesem Buch, in dem sie auch die ein oder andere vergnügliche Anekdote entdeckt, etwa zu den sexuellen Praktiken und Ritualen des alten chinesischen Kaiserhofs oder zur - inzwischen wohl überholten - Tradition im britischen Adel, wonach der Innenminister bei der Geburt des Thronfolgers anwesend sein musste. Die Ausführungen zum Bereich der Geburt findet die Kritikerin besonders interessant - hier vollzogen sich gleich zwei "Bettrevolutionen", liest sie: So hockten oder knieten gebärende Frauen über Jahrtausende hinweg, bevor sich die Geburt erst ins heimische Bett und später ins Krankenhaus verlagerte. Mit Interesse hat auch Dlf-Kultur-Kritikerin Katharina Teutsch das Buch gelesen, in dem sie beispielsweise erfährt, dass die Urmenschen in Baumnestern schliefen. Ihr fehlt allerdings ein übergreifender Zusammenhalt der Anekdoten, um tatsächlich profundes Wissen zu erlangen. Im NZZ-Magazin amüsiert sich Anna Kardos über den "britischen Humor" im Buch.

Michael Krüger
Über Gemälde von Giovanni Segantini
Schirmer und Mosel Verlag. 144 Seiten. 38 Euro

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Selten werden Künstler-Monografien so ausgiebig besprochen wie diese über den Schweizer Hochgebirgsmaler Giovanni Segantini. Aber bei dem Autor handelt es sich auch nicht um irgendwen, sondern um den Schriftsteller und Ex-Hanser-Lektor Michael Krüger. Und so geraten die KritikerInnen vor allem angesichts der intensiven subjektiven Gedanken Krügers zu Maler und Werk reihenweise ins Schwärmen. Die SZ lässt Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, das Buch rezensieren - und der erkennt in Krügers Hommage eine fast philosophische, in jedem Fall poetische Beschäftigung mit Fragen nach dem kreativen Schaffen und dem Lebenssinn. Und wenn der Autor den Bildern und der Bedeutung einzelner Figuren und Motive auf den Grund geht, ist das Buch für Maaz eine erhellende Einladung zum "kontemplativen Schauen" und zur (Wieder-)Entdeckung Segantinis, zumal die Abbildungen im Band so brillant und zahl- und abwechslungsreich sind, wie der Rezensent feststellt. Eine der derzeit "aufregendsten Außenstationen der Gesellschaft" betritt gar NZZ-Kritiker Roman Bucheli mit diesem Band, der ihn auch eine Seelenverwandtschaft zwischen zwei "Melancholikern" erkennen lässt: Wie Segantini sich aus der Gesellschaft zurückzog, um sich völlig der Natur und der Malerei hinzugeben, so war auch Krüger während der Pandemie gezwungen, sich nach einer Krebsbehandlung in ein einsames Haus abseits von München zurückzuziehen. Krügers "unverbrauchter", nüchterne Betrachtung und Ergriffenheit verbindender Blick auf Segantinis zwischen "Apotheose" und "Gefährdung" oszillierendes Werk überträgt sich auch auf den Kritiker. In der FAZ verdankt Rose-Maria Gropp dem Band zudem Einblick in Segantinis Schriften und Lebenswelt.