Vorworte

Afrika ist überall. Auch in der Zukunft

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
28.07.2022. Ein alter Mann, der eine Schutzmauer um sein ödes Inselreich zieht. Eine Frau, die das Trauma des kongolesischen Bürgerkriegs in fast lyrische Sprache bannt. Ein schwarzes Kind, dem die blonde Barbie Maß aller Dinge ist. Das sind nur drei der Figuren, denen man in der ungewöhnlichen Anthologie "Timescapes - aller-retour" begegnen kann.
In loser Folge stellt Angela Schader wichtige Neuerscheinungen vor - immer einige Zeit, bevor sie herauskommen." D.Red.

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Olumide Popoola. Foto: Naomi Woddis
Es gibt Bücher, die es kaum je ins mediale Rampenlicht oder in die Schaufenster der Buchhandlungen schaffen - obwohl sie zeitgemäß, überraschend und spannend konzipiert sind. Zu diesen zählt der Band "Timescapes - aller-retour", dessen fremdsprachiger Titel nicht Koketterie ist, sondern Programm - und obendrein eines, das in wenigen Worten viel mitteilt. Dass es um Zeiten und Orte geht, ums Hin und Her zwischen ihnen und damit auch um Verbindungen und Kontraste, lässt sich der Überschrift entnehmen; dass wir zudem zwischen mehreren Sprachen unterwegs sind, deutet sich ebenfalls an. Der Untertitel dagegen garantiert den Zugang fürs deutschsprachige Publikum und erschließt den Inhalt des Buches: "Erzählungen aus afrikanischen Kontexten" werden hier geboten, und erneut verweist die Wortwahl auf Räume, die über das rein Geografische hinausgehen. Aktuelle Fragen wie Migration, Gender und Digitalisierung werden hier verhandelt, aber auch das Fortleben verzerrter Wertvorstellungen oder die Suche nach einer Sprache, die das Erinnern erlittener Gewalt möglich macht. Was bei einem Buch, das sich so explizit in den Dienst von Diversität und Offenheit stellt, allenfalls verwundern mag, ist die frappante Geschlechterungleichheit: Unter den zwei Dutzend an der Publikation Beteiligten ist mit dem Schriftsteller Sinzo Aanza ein einziger Mann vertreten.

Hinter dem Buch stehen zwei Institutionen, die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und das Kölner Projekt "stimmen afrikas". Vorgestellt werden darin sechs Literaturschaffende aus afrikanischen Ländern und der Diaspora, die hier alle erstmals auf Deutsch zu lesen sind; sie steuern je zwei Kurzgeschichten bei, von denen die eine in die Vergangenheit, die andere in die Zukunft weist. Die jeweils Seite an Seite mit dem Original abgedruckten Übertragungen besorgten 13 Studentinnen des Masterstudiengangs Literaturübersetzen an der HHU in direkter Zusammenarbeit mit dem Autor oder der Autorin. Ergänzt wird der Band durch ein Nachwort der Herausgeberinnen, das vertiefte Einblicke in das Übersetzungsprojekt und seine besonderen Herausforderungen gibt.

So lässt sich das Buch unter ganz unterschiedlichen Aspekten lesen. Wie werden die Erzählungen in Vergangenheit und Zukunft verortet, welche Zeitspanne messen sie aus? Wo sind sie angesiedelt, in welchem Verhältnis stehen Kulturspezifisches und globale Dimensionen? In welcher Tonalität sind die Originaltexte gehalten, und wie wird sie im Deutschen gespiegelt?

Sinzo Aanza. Foto: Rainer Wolfsberger
Beim Ausstecken der Zeiträume wagt Sinzo Aanza den größten Sprung. Der 1990 in der Demokratischen Republik Kongo geborene Autor, der sich mittlerweile auch als Fotograf und bildender Künstler profiliert, lokalisiert seine erste Erzählung zwar nicht explizit, hat aber zweifellos die Gewaltgeschichte seines seit Jahrzehnten von inneren Konflikten zerrissenen Landes im Blick; die zweite entwirft eine 700 Jahre entfernte Dystopie, in der die Menschheit, digital voll vernetzt, aber körperlich zu Mollusken regrediert, auf der wüsten Oberfläche des ausgebeuteten Planeten vegetiert. Die beiden Texte der Südafrikanerin Karen Jennings wiederum greifen zwar auf aktuelle Themen - Migration, Abschottung, andeutungsweise sogar die Pandemie - zurück; doch die subtil verfremdende Gestaltung hebt ihre Szenarien über den zeitlichen Kontext hinaus und erinnert in dieser Hinsicht an Werke von Jennings' illustrem Landsmann J. M. Coetzee.

Jennifer Nansubuga Makumbi. Foto: Danny Moran
Einen ganz anderen Ansatz wählen die 1967 geborene Uganderin Jennifer Nansubuga Makumbi und die acht Jahre jüngere Deutsch-Nigerianerin Olumide Popoola. Ihre Textpaare bewegen sich in relativ genau bemessenen Zeiträumen, die zudem jeweils von denselben Figuren bespielt werden. Makumbis Ich-Erzählerin plaudert in ihren von den frühen Sechzigerjahren bis nah an die Gegenwart reichenden Stories Familiengeheimnisse aus, deren teilweise brisantes oder tragisches Potenzial durch den verschmitzt-lässigen Ton geschickt gebrochen wird; so gerät "Sie ist eine von uns" zur unaufdringlichen Hommage an traditionelle, kollektiv orientierte Werte der afrikanischen Gesellschaft, während "Was glaubt ihr wohl?" in keckem Kolorit von weiblicher Emanzipation und (auch sexuellem) Aufbruch erzählt. Popoola siedelt ihre im zeitlichen Abstand von zehn Jahren situierten Texte in ihrer Wahlheimat London an; auch sie setzt eine Ich-Erzählerin ein, die sich zu Beginn bei einem prekären Selbstversuch in die Nähe des Todes driften lässt. Ein junges Paar nimmt sich - mit Verzögerung - ihrer an, und obwohl sie sich danach auf eine längere Dreiecksbeziehung mit den beiden einlässt, kann sich der Mann nicht verzeihen, dass ihm damals die Jogging-Runde zunächst wichtiger war als das im Wasser treibende Mädchen. Doch statt seinen Groll mit sich selbst auszutragen, projiziert er ihn auf die Protagonistin.

Die Senegalesin Nafissatou Dia Diouf, 1973 geboren und für ihr vielseitiges Schaffen schon mehrfach ausgezeichnet, wählt Dakar als Ausgangspunkt ihrer Texte. Einmal geht die Fahrt in die Vergangenheit, mitten in die verzwickten Verwandtschaftsverhältnisse, welche die Protagonistin folgendermaßen ankündigt: "Ich habe zwei Mütter und drei Väter. Ich weiß, das ist eine Menge für eine einzige Person. Aber genau das hat mir die Büchse der Pandora offenbart, kaum dass ich sie geöffnet hatte." Das andere Mal würde die Reise in die Zukunft führen - wenn Frankreich es denn zuließe. Ein senegalesischer Student, mit einem Stipendium für die Universität Reims und Zusicherungen für die Unterkunft bereits in der Tasche, erhält statt des Visums vom Konsulat lediglich den ernüchternden Bescheid: "Antrag abgelehnt."

Jo Güstin schließlich - in Kamerun geboren, lebt sie mittlerweile in Kanada und hat, wie Olumide Popoola, einen besonderen Fokus auf LGBTQ-Themen - nimmt in ihrer ersten Story, "Coucou oder das verhasste Schwarz", das zählebige weiße Schönheitsideal aufs Korn, das leider keineswegs der Vergangenheit angehört. Während hier die Obsession der kleinen dunkelhäutigen Titelheldin mit blonden Barbie-Puppen etwas gar breit ausgewalzt wird, sprengt Güstin in ihrem zweiten Text die Lesererwartungen immer wieder: zunächst, weil man sich bei "Lisa fucking Müller" erst mal auf ein fast ausschließlich weißes Figurenensemble umstellen muss, und zuletzt - nein, das überraschende Ende sei hier nicht verraten.

Nafissatou Dia Diouf. Foto: privat
Wer auch einen Blick in afrikanische Lebenswelten werfen möchte, kommt bei Nafissatou Dia Diouf besonders auf seine Rechnung. Stimmungsvoll schildert sie in ihrer ersten Erzählung die Taxifahrt der Protagonistin durchs eben erst erwachende Dakar zum Bahnhof, die kleine Benimm-Lektion, die ihr der mürrische Schalterbeamte erteilt, das Gewoge und Gelärme im Zug, der sich umso träger durch die Landschaft schleppt. Im zweiten Text rückt die sich wandelnde Stadt in den Vordergrund, und unter der Hand wird auch der Kontrast zwischen Teranga, der in Senegal gepflegten Ethik der Gastfreundschaft, und der europäischen Festungs-Mentalität aufgebaut. "Ihre Grenzen sind nun bis vor unsere Pforten gerückt", überlegt der Student nach der Abfuhr beim französischen Konsulat, "schlimmer noch, sie sind in unserem eigenen Territorium. Wir sind Gefangene zu Hause."

Auch Jennifer Makumbi richtet, wie erwähnt, in ihrer ersten Erzählung den Fokus auf die in afrikanischen Kulturen gepflegten sozialen Werte und arbeitet diese anhand des Schicksals einer Emigrantin heraus. Flower, die Tante der Ich-Erzählerin, tritt 1961 ein Studium in England an; nach gut zehn Jahren Funkstille beglückt sie ihre Familie mit einem leicht bizarren Auftritt und entschwindet dann erneut - bis ein Landsmann den Angehörigen berichtet, sie sei in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Daraufhin werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie zurückzuholen. Knapp, trocken und trotzdem herzerwärmend fasst die Autorin diese Szene: "Im Jahr 1981 kam ein Ugander aus England, auf der Suche nach der Familie. Er sagt, Flower sei in einer psychiatrischen Anstalt. Warum das? fragt Familie. Anscheinend hatte sie in den 70ern allmählich den Verstand verloren. Was heißt das? Der Mann wusste es nicht. Wer kümmert sich jetzt um sie? In einer Anstalt muss sich niemand aus der Familie um einen kümmern. Willst du damit sagen, unser Kind ist dort ganz allein? (…) Familie versuchte, Leute ausfindig zu machen, die andere Leute in England kannten. Telefonate wurden geführt und Briefe geschrieben. Eine von uns ist dort. Kannst du nach ihr sehen und uns Bescheid sagen, was mit ihr ist? Letztendlich beschloss Familie, Aunty Flower nach Hause zu holen. Sie soll hier bei uns verrückt sein."

Jo Güstin. Foto: Hugo Comte
Wo - wie bei Olumide Popoola und in Jo Güstins zweiter, in Köln angesiedelter Story - ein europäisches Lebensumfeld in den Blick genommen wird, dient es, vielleicht bezeichnenderweise, primär als sozialer Marker. Das ungleiche Schwesternpaar in "Lisa fucking Müller" ist im Auto der Privilegierteren unterwegs zu einem angesagten Restaurant; der Duft von deren teurem Parfum und der Glanz ihrer Couture-Kleidung mischen sich mit dem Miasma von Frustration und giftigem Neid, das die weniger Glückliche verströmt. Bei Popoola setzt eine Housewarming-Party, das Ritual urbaner Arriviertheit, den Rahmen für die Sticheleien des von Gewissensbissen geplagten Mannes. Die beiden Texte verbindet obendrein die Gender-Thematik: Beide Protagonistinnen haben Frauen- wie auch Männerbeziehungen, bei Popoola tritt zudem eine nonbinäre Figur ins Geschehen. Selbstsicher und zugleich einfühlsam, stellt diese(r) "Be" eine Art zukunftsweisende Alternative zu dem symbiotisch verwachsenen Pärchen dar, mit dem sich die Ich-Erzählerin eingelassen hat.

Karen Jennings. Foto: privat
Imaginär, aber stark präsent ist das Umfeld in Karen Jennings' Fiktionen. Mit sparsamen Mitteln gestaltet sie das kahle Eiland, die von einem ungenannten Übel entvölkerte Landschaft, wo ihre Texte handeln. "Bewahren" erzählt von einem Bootsflüchtling, mehr tot als lebendig, den der Leuchtturmwächter eines Morgens am Strand der kleinen Felseninsel findet, die er als einziger bewohnt - eine absurde Miniatur der "Festung Europa", denn der grantige Alte hat in den Jahren, die er hier verbrachte, einen steinernen Wall um die ganze Insel gezogen. Da ist sogar das heimgesuchte Territorium gastlicher, das Jennings in der zweiten Erzählung entwirft: Da und dort finden die kleinen Trupps der Flüchtenden noch Kartons mit Lebensmitteln, Wasser und handgenähten Schutzmasken, die Unbekannte auf der Straße bereitgestellt haben - und denen man, einem ungeschriebenen Code gehorchend, nur entnimmt, was man wirklich benötigt.

Wo Jennings' zwischen heutiger Realität und düsterem Zukunftshorizont angesiedelte Szenarien trotz ihrer Kargheit durch sinnliche Prägnanz in Bann ziehen, unterminiert Sinzo Aanza seine Endzeitvision durch mangelnde Plausibilität und eine stellenweise gespreizte Prosa, die dabei ihren intellektuellen Anspruch nicht wirklich einlöst. Die Frage, wie die form- und muskellosen, am digitalen Tropf hängenden Überreste der Spezies Mensch auf der völlig verödeten Erde physisch überleben, mag man - Coleridges Theorie von der willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit folgend - vielleicht noch beiseiteschieben; aber zumindest den inneren Wandel des Protagonisten würde man sich besser nachvollziehbar und sinnhafter wünschen. Ein Kompliment gebührt dagegen der Übersetzerin Daria Semenikhina, die mit geschickter syntaktischer Strukturierung und kleinen Schärfungen das Beste aus dem Text herausholt.

Aanza wiederum muss man zugutehalten, dass er risikofreudiger ist als die im Band vertretenen Autorinnen - und in "Das Festmahl und der Schatten", seiner der Vergangenheit zugewandten Erzählung, gibt er einem existenziellen Trauma auf so überraschende wie vielschichtige Weise Gestalt. Es geht um Kriegsvergewaltigung, wobei die Scheußlichkeit des Verbrechens noch gesteigert wird, indem die Marodeure den Großvater des jungen Mädchens zwingen wollen, sie als erster zu beschlafen. Aber die Geschichte, in Form eines szenischen Dialogs zwischen der inzwischen erwachsenen Frau und ihrem jugendlichen Ich gehalten, umspielt das Entsetzliche mit einer ans Lyrische angelehnten Sprache, welche die Untat und die seelischen Abwehrreflexe des Opfers zu einer oszillierenden Textur verwebt: einer Beschwörung im doppelten Sinn, die das Erfahrene gerade im Versuch, es zu bannen, wieder gegenwärtig macht. Mit Takt und feinem Rhythmusgefühl hat Lena Riebl den Text überzeugend ins Deutsche gebracht.

Durchgängig weist der Band Professionalität und Engagement der jungen Übersetzerinnen aus. Mit Gusto bringt Ruth Alvermann in "Lisa fucking Müller" das sprachliche Geschütz der benachteiligten Schwester in Stellung und transponiert die französischen Gemeinheiten in ein angemessen dreckiges deutsches Idiom. Schwieriger hat es Wiebke Wehebrink mit Olumide Popoolas zweiter Erzählung: Während im Englischen das Pronomen "they" für nonbinäre Personen schon einigermaßen eingeführt ist und sich diskret in die Sprache einfügt, tut sich das Deutsche noch schwer mit solcher Terminologie. Statt eines der zur Debatte stehenden Kunstwörter einzusetzen, entschied sich Wehebrink, die Figur jeweils bei ihrem chiffrenhaften Namen zu nennen. Dass Be in punkto Gender damit noch weniger festgelegt ist als im Englischen, ist kein Nachteil - vielmehr steht die Leserin so auf derselben Wahrnehmungsebene wie die Protagonistin, welche die neue Bekanntschaft erst einmal einordnen muss. Höchstens wirkt die häufige Wiederholung des Namens etwas störend; da und dort wäre sie mit einer anderen Satzgestaltung vermeidbar gewesen.

Die im Rahmen des Projekts gepflegte Zusammenarbeit zwischen Autorinnen und Übersetzerinnen hätte vielleicht auch Gelegenheit geboten, mit Jennifer Makumbi einen seltsam zusammenhangslos wirkenden Satz zu klären, der sich zu Beginn ihrer ersten Story findet. Dies ist aber der einzige Stolperstein in ihren mit Biss und Witz erzählten Texten, die Janna Krampe und Madeleine Rösler gewandt und in guter gegenseitiger Abstimmung ins Deutsche gebracht haben. Generell halten sich die Einwände, die man beim Blick auf die Übertragungen vorbringen möchte, in engen Grenzen: Die deutschen Texte nehmen Ton und Kolorit der Originale auf, ohne dass deswegen das Gerippe der Fremdsprache in Syntax oder Wortwahl unangenehm spürbar wird.

Flankiert von den Literaturschaffenden und im Austausch mit den Teilnehmerinnen und den Leiterinnen des Projekts, hatten die Übersetzerinnen einen idealen Rahmen, um sich auf die besonderen Anforderungen interkultureller Übertragungen einzulassen. Diese wertvolle Erfahrung ist auch kein einmaliges Privileg: Die Heinrich-Heine-Universität bietet regelmäßig solche Programme an, die ihren Niederschlag dann in den Publikationen der Reihe "Düsseldorf übersetzt" finden. "Timescapes - aller-retour" ist der zehnte Band dieser Serie, und - nach "Snapshots: Stories from African Countries" (2017) - erfreulicherweise bereits der zweite, der auf Literatur aus Afrika fokussiert.

Timescapes - aller-retour. Erzählungen aus afrikanischen Kontexten. Herausgegeben von Vera Elisabeth Gerling, Birgit Neumann und Eva Ulrike Pirker. Reihe "Düsseldorf übersetzt", Band 10. C. W. Leske Verlag, Düsseldorf 2022. 279 Seiten, Broschur, 18 Euro.

Erscheint am 8. August 2022

Mehr Infos beim C. W. Leske Verlag

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Karen Jennings' Erzählung "Bewahren" ist ein Auszug aus ihrem Roman "The Island", dessen deutsche Ausgabe im Oktober beim Carl Blessing Verlag angekündigt ist.