Seit Jahren spüre ich einer Erinnerung an Godard nach, die mich nie losgelassen hat, auch wenn ich zugeben muss, dass ich nie wirklich systematisch nach ihr recherchierte. Mir steht eine Szene vor Augen, die ich beim ersten Sehen, vor sehr langer Zeit, als krasse Obszönität empfand. Meine Liebe zu Godard kratzte sie dennoch kein bisschen an. Diese Liebe blieb noch lange Zeit intakt, in melancholischen Bruchstücken bis heute.

Ich erinnere diese Szene in schwarzweiß. Es handelte sich entweder um ein Video, das Godard selbst mit seiner Dziga-Vertov-Gruppe machte oder um eine Dokumentation, die jemand anders über ihn gedreht hat. Ich sehe Godard vor mir, wie er auf ein großes Blatt Papier einen Davidstern zeichnet und wie er dann jede Ecke dieses Sterns mit einem nach rechts gerichteten Haken versieht. So wird aus dem Davidstern ein sechszackiges Hakenkreuz. Dann hält Godard das Blatt in die Kamera und lächelt triumphierend.

Ich habe diese Szene nie wieder gefunden, auch Godard-Kenner konnten mir keinen Hinweis darauf geben. Ab und zu habe ich die entsprechenden Stichwörter gegoogelt, aber keine Bilder oder Textstellen zutage gefördert. Ich fragte mich inzwischen, ob ich die Szene vielleicht geträumt hatte - in einer polemischen Überreaktion gegen einen einst tief verehrten Künstler. Man muss seinem Gedächtnis misstrauen.

Vor ein paar Tagen habe ich die Suchwörter mal wieder eingeben, angeregt von Georg M. Hafners Dokumentation "München 1970" (Der Film in der ARD-Mediathek). Es war wohl die Figur Dieter Kunzelmanns, die mich darauf gebracht hat, ein teuflischer Regisseur des Terrors, der 1969 auf die Idee kam, eine Bombe im jüdischen Gemeindehaus von Berlin zu legen. Hafners Film fragt - wie Wolfgang Kraushaar in einem demnächst erscheinenden Buch -, ob Kunzelmann ein Jahr später am Attentat auf das jüdische Altenheim in München beteiligt war. Es erscheint plausibel, aber einen letzten Beweis scheint es dafür nicht zu geben. An Kunzelmann interessiert mich eine Ähnlichkeit zu Godard: Kunzelmann kam aus dem Situationismus, einer ultralinken Avantgarde, in der sich künstlerische und politische Motive überschneiden. Godards Radikalisierung führte ihn in ähnliche Muster. Und beide Figuren eint ein problematisches Charisma.

Schlummert in den ästhetischen Avantgarden nicht der faschistische Traum von der Tat? Ästhetische Avantgarden haben imaginiert, was politische Avantgarden dann wahr machten.

Diesmal wurde ich fündig. Es ist nicht ganz die erinnerte Szene. Entweder hat mein Gedächtnis sie im Lauf der Jahre umgemodelt, oder die erinnerte Szene stammt noch aus einem anderen Film. Aber Godard hat das von mir erinnerte Symbol, die Überblendung von Davidstern und Hakenkreuz tatsächlich benutzt. Der Film ist in Farbe, nicht in Schwarzweiß. Ich hätte leicht auf diese Szene stoßen können: Sie wird in Antoine de Baecques großer Godard-Biografie erwähnt, die zum achtzigsten Geburtstag des Autorenfilmers publiziert wurde. Darauf gestoßen bin ich durch einen Aufsatz Florian Krautkrämers, der bei Diaphanes als pdf-Dokument heruntergeladen werden kann.

Es handelt sich um einen zweieinhalbminütigen Film, den ein mir unbekannter Autor 1969 für das ZDF drehte. Er interviewt Godard im Kreise ergeben schweigender Mitstreiter von der Dziga-Vertov-Gruppe zu dessen neuestem Projekt: Godard dreht im Auftrag der Palästinenser.



Es lohnt sich, diesen kleinen Film genauer anzusehen. Er mag von einem ZDF-Reporter sein, aber die Inszenierung ist von Godard. Storyboard einer Erniedrigung nach den Regeln der Kunst:


1. Die Truppe



Godard sitzt mit seiner Truppe auf den Eingangsstufen eines Gebäudes. Sie sind betont locker und rauchen, genau die Attitüde einer Lässigkeit, die den Krampf nicht verhehlen kann und die für diese Zeit so typisch ist.


2. Das Zücken des Zeichens



Woran Godard denn arbeite, fragt der Reporter nach ein paar einleitenden Worten einer Sprecherin. Aber Godard wäre nicht Godard, wenn er einfach antworten würde. Er reißt die Initiative an sich und macht aus der Standardsituation eine Performance. Der Autorenfilmer entreißt dem Autor dieses Films den Film.

Godard hat da schon etwas vorbereitet. Er kannte die Frage des Autors wohl. Er greift in seine Jacke und zieht ein kleines Schild hoch, das er mehrere Sekunden vor sein Gesicht hält: Der Davidstern als Hakenkreuz und darunter das Wort "Nazisrael".


3. Die Auslöschung der Person im Zeichen des Widerstands



Es ist natürlich nicht ein Zeichen, mit dem sich Godard identifiziert, sondern die Substanz seiner Erkenntnisse über die damaligen Zusammenhänge. Die Dringlichkeit dieser Erkenntnisse macht es notwendig, dass die einzelne Person hinter die Sache zurücktritt. Die anderen signalisieren vorsichtig grinsend ihr Einverständnis.


3. Das Zeichen



Die Kamera fährt auf das Zeichen. Das Interview wird vom deutschen Fernsehen gemacht. Die Deutschen waren die Nazis. Jetzt sind die Deutschen Zionisten und unterstützen die Israelis. Die Israelis sind die Nazis von heute. Die Palästinenser sind die Juden der Nazis (an anderer Stelle begründet Godard diese Gleichsetzung von Palästinenser/Jude mit dem Wort "Muselmann/Musulman", mehr dazu hier). Godard und seine Truppe beanspruchen die Rolle der Résistants und glauben das höhere Recht auf ihrer Seite. Daraus ergibt sich alles Folgende.


4. Anweisung zu einer Tat



"Der erste Schritt unserer Arbeit", antwortet Godard dann auf die Frage des Reporters, "wird sein, dass du uns einen Scheck vom deutschen Fernsehen ausstellst, das von den Zionisten subventioniert wird. Für uns, die wir einen Film über Palästina machen wollen, besteht die Arbeit darin, dass wir versuchen, den Zionisten Geld abzunehmen, damit wir Waffen kaufen können, um sie anzugreifen. Darum stellst Du uns einen Scheck aus..."


5. Unterwerfung des Autors unter die Mise en scène




Tatsächlich eilt ein Mitarbeiter herbei und stellt den Scheck aus. "Jetzt solltet ihr den Scheck filmen", befiehlt Godard, und der Scheck wird gefilmt. "Und das Interessante dabei ist", erläutert Godard, "dass dieses Geld den Zionisten jetzt fehlt. Und ihren Verbündeten, den deutschen Demokraten, äh, wie heißt er doch, dieser Brandt und Konsorten."

Godard befiehlt der einzigen Frau in der Truppe, ihre Kontonummer anzugeben. Sie sagt ihre Kontonummer auf. Der ZDF-Angestellte schreibt mit.


6. Überreichung des Schecks/Die Großmut des Führers



Ostentativ überreicht der Autor des Films nun den Scheck an Godard. Die Flüssigkeit, mit der dieser Moment aus dem vorigen hervorgeht und die Deutlichkeit, mit der diese Geste vor der Kamera vollführt wird, sprechen für eine vorher vereinbarte Inszenierung. Der Autor des Films hat sich den Bedingungen Godards gefügt, um überhaupt seine paar Bilder bekommen.

Der Führer der Truppe erhält nun Gelegenheit, seine Großmut zu beweisen: Das Geld soll natürlich dem ZDF als Institution abgezogen werden, nicht seinen Mitarbeitern. Andernfalls verspricht Godard, einen Anteil zurückzugeben. Der Autor versichert im Hintergrund, dass das schon auf Spesen gehen wird.


7. Die Einigkeit im Zeichen




Jeder soll sich das Zeichen einmal vors Gesicht halten, findet Godard.



Die Mitarbeiter gehorchen ohne zu zögern.


8. Klimax: der Tod des Autors




Im Moment seiner Weisheit und Großmut wird Godard in Nahaufnahme gefilmt. Gerade hat er die Überlegenheit seines Klassenstandpunkts bewiesen, indem er die Institution, nicht ihre Mitarbieter zur Kasse bat. Nun beweist er, dass es ihm nicht um ihn selbst zu tun. ist Darum wehrt er die Nahaufnahme ab und redet von sich in der dritten Person: "Warte! Jean-Luc Godard war ein Autor, ist es immer noch, versucht dafür zu kämpfen, kein Autor zu sein. Das ist schwierig. Ihr solltet also damit aufhören, mich in Großaufnahme zu filmen."


9. Totale und Auslöschung



Auf weitere Fragen des Autors geht Godard nicht mehr ein. "Wenn Du jetzt eine Totale von uns vieren machen könntest, und das war's dann." Dabei macht er eine große Bewegung seiner Arme, die die Gesichter seiner Mitarbeiter verdeckt.

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Was hat es eigentlich zu bedeuten wenn einer, der den "Tod des Autors" ersehnt, die ganze Zeit Befehle erteilt? Der eigentlich "tote" Autor dieses Films ist ja nicht Godard, sondern der Autor des ZDF-Films, der sich Godards Inszenierung unterwirft. Der Film erinnert an eine jener Szene aus dem "Paten" und anderen Mafia-Filmen, die einige Jahre nach diesem ZDF-Film ins Kino kamen: Auch dort gibt es die Figur der exemplarisch inszenierten Unterwerfung, der eine Gruppe von "Bystanders" mit möglichst unbewegter Miene zusieht, um nicht am Ende selber dran zu kommen.

So ergibt auch die von Godard gewählte Positionierung der Truppe auf der Eingangstreppe eines öffentlichen Gebäudes Sinn: Die scheinbar lockere Truppe ist ein Revolutionstribunal. Die größte Perfidie an der Inszenierung, die über die Grausamkeit späterer Mafia-Filme noch hinausgeht, ist, dass die Szene aus der Perspektive des Delinquenten und von diesem selbst gefilmt wird, als Kollaboration an der eigenen Demütigung.

Der Traum vom "Tod des Autors", der geträumt wird, seit es den "Autor" - das bürgerliche Subjekt - gibt, hatte ich mir eigentlich immer als Traum von der lustvollen Selbstauslöschung in der Masse oder im Kollektiv vorgestellt. In diesem kleinen Godard-Film zeigt sich, dass der "Autor" in Etappen stirbt und dass er bewusst an der Abtötung seiner selbst arbeiten muss. Erst die Abtötung des Ich führt in Kunst und Terror zur Tat! "Es ist schwierig, kein Autor zu sein", sagt Godard ausdrücklich. Es ist harte Arbeit.

Godard mag den Traum vom finalen Kontrollverlust zwar träumen, aber vorerst gibt er die Kontrolle keineswegs preis.

Erstmal geht es ihm darum, die anderen hineinzuziehen, und sowohl den Autor des ZDF-Films, als auch die Mitglieder der Dziga-Vertov-Gruppe zu Komplizen zu machen. Ein Großteil des Films dient ihm dazu zu zeigen, wie sie spuren. Ein ZDF-Mann soll den Scheck ausstellen. Zu Befehl. Eine Mitarbeiterin soll ihre Kontonummer aufsagen. Ja, Chef. Jeder soll sich das Zeichen vors Gesicht halten. Machen wir.

Godard agiert dabei als Guru, als Vorbild der Selbstmortifikation: "Godard war ein Autor", sagt er. Er geht voran in der Abtötung des Ichs und jeglichen zivilen Impulses in sich, spricht bewusst tonlos, orgelnd und anti-emotional. Er kann strafen, er kann Großmut erweisen. Er lächelt nicht. Seine größte Freude ist die Umstandslosigkeit, mit der sich die anderen dem von ihm geschaffenen Dispositiv unterwerfen und sich selbst verleugnen.

Dieser Sadismus charakterisiert oft auch Godards spätere Filme, besonders im Verhältnis zu seinen Stars, und ganz besonders, wenn sie weiblich sind. Das heißt nicht, dass er nicht fähig blieb zu hinreißend zärtlichen Momenten und einem umwerfend kindlichen Blick. Seine kombinatorische Intelligenz und Assoziationskraft, seine ganz eigene Lyrik des Kinos hat er nie verloren. Aber die Liebe ist aus seinen Filmen seit dem Bruch mit Anna Karina gewichen. Häufig ist er bitter. Seine politischen Positionen hat Godard nie revidiert. Mag sein, dass in der selbstgewählten Isoliertheit seiner spätesten Arbeiten etwas von Trauerarbeit liegt.

Der ZDF-Film zeigt Godard in seinem hässlichsten Moment. Von der Kunst zum Terror war damals nur ein Schritt.

Thierry Chervel

twitter.com/chervel