Nora ist 14 Jahre alt und wächst im Grunde allein mit ihrer älteren Schwester Jule auf, in einer Wohnung direkt am multikulturellen Kottbusser Tor in Kreuzberg, während ihre alleinerziehende Mutter die Tage und Nächte an einem Eckkneipentresen vertrinkt. Ein Prekariatshaushalt, wie man ihn aus zu vielen vermeintlich milieurealistischen deutschen Filmen kennt, ist das aber nicht: man liest und schätzt Judith Butler, hat sich mal als Glitzereinhorn verkleidet und geht liebevoll miteinander um, wenn man denn zuhause und unverkatert ist. Irgendwann aber sind Wohnung und Kühlschrank dann wieder leer; die beiden Schwestern sind letztlich auf sich gestellt. Bei einer Balgerei in einem Swimming Pool mit einer Freundin erwacht in Nora ein Begehren, das sie selbst in "Gender Trouble" stürzt: Was heißt das eigentlich, wenn ich Mädchen lieber anschaue und berühre als Jungs? Bin ich jetzt deshalb lesbisch? Und würde das eigentlich irgendjemand schlimm finden? Dann kommt Romy ins Spiel, die Neue aus der Parallelklasse, und eine Sommerromanze beginnt, in deren Verlauf vieles, was in vielen Filmen als Problem verhandelt wird, eigentlich gar keins ist.

Anne ist Erzieherin in einer Kindertagesstätte, und die Kinder lieben sie. Das mag daran liegen, dass Anne sich im Spiel ebenso wie sie ganz vergessen kann - was hingegen in der Zusammenarbeit mit ihren pflichtbewussteren, regelfixierteren Kolleginnen immer wieder zu Schwierigkeiten und kleineren bis größeren Eklats führt. Neben den Momenten kindlicher Freude und überkandidelter Streichespielerei stehen auch immer wieder Abstürze in depressive bis destruktive Episoden, die sich in Alltäglichkeiten ankündigen, die plötzlich außer Kontrolle geraten: Plötzlich stürzt Anne ein Glas Wein nach dem anderen hinunter, tippt manisch auf dem Handy herum, wirft den leeren Kaffeebecher nach der verhassten Kollegin. Einzig Annes Mutter scheint das ganze Bild zu kennen, und auch die kann oft nur hilflos versuchen, Anne in diesen Extremzuständen zu erreichen.

Auf einer Hochzeit lernt Anne Matt kennen, und über die Intensität der folgenden Dates offenbaren sich rasch unterschiedliche Vorstellungen. Und dann ist da noch dieses Glücksgefühl, das Anne empfand, als sie anfangs aus einem Flugzeug sprang und im freien Fall war, 4.000 Meter über der Erdoberfläche.



Katja geht noch zur Schule und macht demnächst Abitur, vermutlich irgendwo in Brandenburg, es könnte aber überall sein, wo junge Menschen noch ein paar Wochen zur Schule gehen und dann so schnell wie möglich wegwollen. Katja will zur Bundeswehr, wohnt nicht mehr zuhause und hat keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie, was passiert ist und wo und mit wem sie aufgewachsen ist, wissen wir nicht. Wie wir überhaupt nur wenig erfahren über die Geschichten der fünf Freund*innen im Zentrum dieses Films: Da ist der wahrscheinlich drogen- und latent todessüchtige Benni, mit dem Katja in einer nahezu leeren Plattenbauwohnung haust, sofern er sie nicht gerade rausschmeißt. Da ist Katjas Freund Sascha, der sein eigenes Familiendrama hat und mit dem sie Kampfsporttraining macht und sich auch privat hin und wieder prügelt und versöhnt, auch wenn diese Liebe wohl nicht viel Zukunft hat. Und schließlich sind da Laila und Schöller, die auch irgendwie zusammen sind, auch wenn Schöller weiß, dass Laila ihn nicht liebt und er vielmehr Katja begehrt. Die Konflikte, die sich daraus entspinnen könnten, kochen aber bestenfalls kurz hoch und ordnen sich vielmehr einer alles überstrahlenden Solidarität zwischen den Freund*innen unter, die halt füreinander da sind, auch und gerade weil es sonst niemand ist.

Drei Filme aus drei Sektionen der ersten Chatrian-Berlinale, die verbunden sind durch die extreme Nähe zu ihren Protagonistinnen - alle drei durch großartige Schauspielerinnen verkörpert, die alle Facetten von Körperlichkeit in ihre Parforce-Performances einbringen. Die minimalistisch-verletzliche Awkwardness Lena Urzendowskys in Leonie Krippendorfs luft- und lichtdurchströmtem "Kokon". Die mal mitreißende, mal verzweifelt destruktive Distanzlosigkeit Deragh Campbells in Kazik Radwanskis manisch-schmerzvollem "Anne at 13,000 ft." Und die knapp unter der Haut kochende Wut von Marie Tragousti in Melanie Waeldes voll und ganz gegenwärtigem "Nackte Tiere".

Die beiden deutschen Filme greifen überdies zu einer ähnlichen Inszenierungsstrategie in der Verknappung des Bildkaders, wobei Waelde in dieser wie in jeder anderen Hinsicht radikaler zu Werke geht. Während Krippendorf ihren Coming-Out-of-Age-Film "Kokon" über weite Strecken in ein 4:3-Bild presst, das sich erst infolge der finalen Entpuppung der schüchternen Raupe als stolzer, queerer Schmetterling - eine arg abgegriffene Metapher natürlich, die der wunderschön sommerliche, unbeschwerte Film eigentlich gar nicht nötig hätte, die man ihm aber aber nur zu gern verzeiht - in die Breite öffnet, geht Waelde mit dem ungewöhnlichen 1,2:1-Bildformat noch einen Schritt weiter: Alles ist eng in "Nackte Tiere", und wenn man sich in dem nachgerade klaustrophobischen, fast quadratischen Bildausschnitt nicht eng zusammenkauert, dann steht man ganz alleine da.

Jochen Werner

"Kokon". Regie: Leonie Krippendorf. Mit Lena Urzendowsky. 95 Minuten. Generation 14plus. (Alle Vorführtermine)

"Anne at 13,000 ft." Regie: Kazik Radwanski. Mit Deragh Campbell. Forum 75 Minuten (Alle Termine)

"Nackte Tiere": Regie: Melanie Waelde. Mit Marie Tragousti. Encounters. 83 Minuten. (Alle Termine)