Außer Atem: Das Berlinale Blog

Melodramatische Spitzen: Zu den Filmen von Keisuke Kinoshita (Forum)

Von Thomas Groh
07.02.2013. Die Würdigung japanischer Studioregisseure zählt zu den in den vergangenen Jahren am meisten liebgewonnenen, jüngeren Traditionen der Berlinale, respektive des Forums. Will einen aus dem Festivalprogramm womöglich auch sonst nichts anspringen - auf die japanische Hommage im Forum ist stets Verlass.


Die Würdigung japanischer Studioregisseure zählt zu den in den vergangenen Jahren am meisten liebgewonnenen, jüngeren Traditionen der Berlinale, respektive des Forums. Will einen aus dem Festivalprogramm womöglich auch sonst nichts anspringen - auf die japanische Hommage im Forum ist stets Verlass.

Dass sich rund um die Shochiku, Japans ältestem Film- und Studiogesellschaft, ein ganz eigenes "Genie des Systems" abzeichnet, wie es André Bazin in Abgrenzung zum und in Kritik am Hollywood-Geniekult seiner jüngeren Cahiers-Kollegen Godard und Truffaut bezeichnet hat, wird dabei auch in diesem Jahr aufs Neue (und Schönste) kenntlich: Hinter den Schwergewichten Kurosawa, Mizoguchi und Ozu gab es bislang eine ganze Reihe im Ausland faktisch unbekannter Routiniers zu entdecken, deren Werke unter den verlässlichen Arbeits- und Auftragsbedingungen eines Großstudios eine Meisterschaft im (gar nicht despektierlich gemeinten) kleinen aufweisen: Eine Termitenkunst, die vielleicht gerade in Japan florieren konnte, wo Genie- und Schöpferkult im europäischen Sinn kulturhistorisch kaum verankert ist und ästhetische Meisterschaft weniger am Ideal eines kristallin-erhabenen Kunstwerks, als vielmehr am Studium und Beherrschen einer handwerklich zwar komplexen, in seiner Erscheinung aber einfachen Form festgemacht wird.


"Karumen Kokyo Ni Kaeru" (Carmen comes home), 1951 (läuft am 19.2. im Arsenal)

Anders als Kawashima Yozu und Shibuya Minoru, die man in den beiden letzten Jahren entdecken konnte, ist Keisuke Kinoshita, der im Mittelpunkt der diesjährigen Hommage steht, international kein völlig Unbekannter: Seinen heute wohl bekanntesten Film, das Alltagsdrama "Twenty-Four Eyes", zeigte die Berlinale 2005 in einer Sondervorführung zu Ehren des 100. Geburtstags der Shochiku. Mit dem ziemlich großartigen "Carmen kehrt heim" drehte Kinoshita 1951 den ersten japanischen Farbfilm, 1962 war sein "Immortal Love" im Oscar-Rennen. Von einer kleinen Auswahl seiner Filme liegen sogar deutsche DVD-Editionen vor.

Freilich sind dies bloß Schlaglichter auf eine kaum überschaubare Filmografie: Kinoshita, in Japan zuweilen sehr populär, drehte nahezu ständig und belieferte fast alle Genres. 50 Filme in 45 Jahren (trotz einiger Werkpausen im Alter) zählt allein die in solchen Dingen nicht völlig zuverlässige Internet Movie Database, womöglich gibt es mehr - satte Ernte eines arbeitsreichen Lebens, die sich aus der Distanz und unter den bisherigen fragmenthaften Eindrücken kaum verlässlich einschätzen lässt. Fünf Filme immerhin zeigt das Forum, ein paar mehr sind noch im Rahmen einer Kinoshita-Reihe vor und nach dem Festival im Kino Arsenal zu sehen.

Was sich aber wohl verlässlich behaupten lässt: An einem ästhetisch-stilistisch eindeutigem Werk dürfte Kinoshita nicht interessiert gewesen sein. Die "Handschrift" eines Auteurs, wie sie die französische Filmkritik als zentrales Kriterium anführte, fehlt bei Kinoshita - dafür zeigt sich eine souveräne Handhabung der filmischen Stilmittel, die Befähigung, für jeden Film die passende Form zu suchen und zu finden. Ein Handwerker im besten Sinne also, bei dem sich formale Könnerschaft mit einem immerhin motivischen Projekt verbindet: Auffallend häufig steht bei Kinoshita die japanische Spät- und Nachkriegsgesellschaft im Mittelpunkt.


"Kanko no machi" (Jubilation Street), 1944

Mit den Mitteln des shomingeki, der spezifisch japanischen Form des Alltagsfilms, erkundet Kinoshita etwa in "Jubilation Street" (1944) die Sorgen und Nöte einer rund um eine Tokioter Straßenecke gruppierten Gemeinde. Anders als im westlichen Melodram bringt der Film die Interessenslagen seiner erzählten Welt nicht erst hervor, sondern tritt in eine quasi schon bestehende Welt, deren Verästelungen und Relationen er aufmerksam nachspürt. Durchdrungen wird das Leben dieser Leute von zwei Problemlagen: Auf einer mikrosozialen Ebene sind die Leute damit konfrontiert, ihre Häuser wegen einer Evakuierung verlassen zu müssen, auf der makrosozialen Ebene tobt draußen, fernab dieser Welt aus Gassen und Winkeln, der Zweite Weltkrieg, an dem sich der Sohn einer Familie als Pilot aktiv beteiligt.

Dass es sich um einen Durchhaltefilm handelt, liegt auf der Hand - die teils frenetische Kriegsbegeisterung auch der einfachen Bevölkerung des Landes (die etwa Keiji Nakazawa mit seinem Manga "Barfuß in Hiroshima" klar benannte) wird nicht angesprochen. Und doch gelingt es Kinoshita, an dessen humanistischen Überzeugungen kein Zweifel bestehen kann, in das Bild melancholischer Würde, die der Film wohl auch schon aus Auftragsgründen im Sinn hat, melodramatische Spitzen einzustreuen, die am ideologischen Gehalt des Films rütteln: Wenn der junge Kriegspilot seiner Freundin aus dem Haus nebenan von der Verpflichtung erzählt, die nicht nur er, sondern alle Japaner zu Kriegszeiten dem Land gegenüber haben, folgt ein Close-Up auf das traurige Gesicht der Frau, den der Film am Ende in einer vergleichbaren Beschwörung wiederholt. Ein sanfter Widerhaken zwar, in seiner Wucht aber umso bemerkenswerter: Im ansonsten formal fast papieren fragil und aufgeräumt wirkenden Film vermögen diese wenigen Einstellungen ihn zur Gänze ins Wanken zu bringen, wann immer sie aus der um Takt und Wahrung der Fasson wirkenden Halbnahen und Totalen in die emotionalen Realitäten des Close-Ups wechseln.


"Onna" (Woman), 1948

Vier Jahre, zwei Atomkatastrophen und eine Kriegsniederlage später dreht Kinoshita den völlig furiosen "Woman" (1948), in dem das Bild auffallend häufig in die dramatisierende Schräglage fällt, als sei die Welt aus den Fugen geraten. Eine Stunde dauert dieser Film, Einstellungen hat er mit einer hochfrequenten Montage wahrscheinlich für zwei: Die klare Orientierung, die soziale Aufgeräumtheit, die "Jubilation Street" auszeichnete, weicht hier dem Bild einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Die Figuren entspringen eher dem Milieu: Eine Revuetänzerin wird von ihrem kriminellen Freund dazu angehalten, mit ihm die Stadt zu verlassen. Bald dämmert ihr, dass er hinter dem spektakulären Raubüberfall steckt, von dem die Zeitungen berichten. Beide bewegen sich in ständiger Abstoß- und Annäherungsbewegung zueinander, vor der überwältigenden Kulisse eines Großbrands in einem Küstenort findet der Film seine dramatische Zuspitzung.

Um Dezenz ist "Woman" sichtlich nicht bemüht, Kinoshita mobilisiert, was er nur kann: Emotionalen Überschuss, hektische Betriebsamkeit, fahrigen Schnitt und Matratzen, die aus brennenden Häusern fliegen. Ein Pulp-Melodram mit Noir-Einschub, das vor den Fährnissen des B-Pictures keine Ängste hat, ganz im Gegenteil diese in einer Kunstfertigkeit zelebriert, die einem den Atem raubt: Wer den Studiofilm japanischer Provenienz gerne auf lächelnde Menschen an kurzen Teetischen reduziert, wird in "Woman" eines Besseren belehrt. Fast hat man den Eindruck - dieser mag aber nur aus der Kontextualisierung dieser beiden Filme rühren -, dass es Kinoshita ein Bedürfnis war, der gezügelten Melancholie aus "Jubilation Street" nach Kriegsende eine exzesshafte Korrektur nachzuschieben.


"Shito no densetsu" (A Legend or Was It?), 1963

Einen ähnlichen Eindruck gewinnt man bei "A Legend or was it" (1963), der als farbiger Heimatfilm beginnt, um schließlich als schwarzweißer Western in die Entstehungs- und Spielzeit von "Jubilation Street", die späten Kriegsjahre, zurückzukehren: Die Stadtbevölkerung ist aufs Land evakuiert. Insbesondere um zwei Kriegsveteranen zeichnet sich ein Konflikt ab, da der eine Zeuge einer Vergewaltigung einer chinesischen Frau durch den anderen wurde und damit an dessen Ruf im Dorf als Kriegsheld sägt. Die Lage spitzt sich zum furiosen Finale unter freiem Himmel zu, bis schließlich die Gewehre sprechen.

Vom Mythos der auch während der Kriegsjahre duldsamen Landbevölkerung bleibt in "A Legend or was it?" spürbar wenig übrig: Der saturierten, verschwiegenen Bevölkerung und ihrer heilen Welt, die am Ende des Films - in Farbfilmszenen - nochmals ins Bild rückt, ist hier glaubhaft nicht mehr zu trauen. Angetrieben von einem monomanischen Maultrommelspiel auf dem Soundtrack, entfaltet dieser Film eine hochkonzentrierte Oper der Bösartigkeit, eine Anklage wider die eigene Bevölkerung, die man sich in dieser Zuspitzung inmitten des populären Kinos auch in den Nachkriegsgesellschaften anderer Achsenmächte gewünscht hätte.

Thomas Groh

- "Kanko no machi" (Jubilation Street). Regie: Keisuke Kinoshita. Mit Ken Uehara, Mitsuko Mito, Eijiro Tono, Chiyo Nobu u.a., Japan 1944, 73 Minuten. (Vorführtermine)
- "Onna" (Woman). Regie: Keisuke Kinoshita. Mit Mitsuko Mito, Eitaro Ozawa u.a., Japan 1948, 67 Minuten. (Vorführtermine)
- "Shito no densetsu" (A Legend or was it?). Regie: Keisuke Kinoshita. Mit Shima Iwashita, Mariko Kaga, Go Kato, Kinuyo Tanakau.a., Japan 1963, 83 Minuten. (Vorführtermine)
- "Konyaku yubiwa" (Engagement Ring). Regie: Keisuke Kinoshita. Mit Kinuyo Tanaka, Toshiro Mifune, Jukichi Uno, Kenji Usuda u.a., Japan 1950, 96 Minuten. (Vorführtermine)
- "Yuyake gumo" (Farewell to Dream). Regie: Keisuke Kinoshita. Mit Shinji Tanaka, Yuko Mochizuki, Yoshiko Kuga, Eijiro Tono u.a., Japan 1963, 83 Minuten. (Vorführtermine)

Nach der Berlinale zeigt das Kino Arsenal noch einige weitere Filme von Keisuke Kinoshita.