9punkt - Die Debattenrundschau

Kleinstädtische Sensationen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.03.2023. Der Haftbefehl gegen Wladimir Putin wird durchaus eine Wirkung haben, hofft die taz. Der Iran überwacht Frauen jetzt lieber mit Kameras und KI statt mit Sittenpolizei, meldet die FAZ. In der SZ warnt Stefan Kornelius vor einer Wahlrechtsreform, die Regionalparteien wie Die Linke und die CSU einfach aus der Gleichung kürzt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.03.2023 finden Sie hier

Politik

Dass Putin nun durch einen internationalen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs als Kriegsverbrecher gesucht wird, hat durchaus eine Wirkung, ist Dominic Johnson in der taz überzeugt. Putin ist nun ein Paria. "Als Den Haag 2008 Haftbefehl gegen Sudans damaligen Militärherrscher Omar Hassan al-Bashir wegen Völkermordes in Darfur erhob, solidarisierten sich viele Staatschefs in Afrika ausdrücklich mit ihm gegen eine als parteiisch wahrgenommene Weltjustiz. Aber sie merkten auch, dass jede Zusammenarbeit mit Sudan nun überschattet wurde von der Frage, wie man es mit der Verfolgung von  Kriegsverbrechern hält. Sudan wurde international erst wieder respektabel, nachdem Bashir 2019 gestürzt wurde - durch einen Putsch der Generäle im Zuge eines Volksaufstandes."

"Südafrika ließ vorerst offen, was passieren könnte, wenn Putin wie erwartet ab 22. August  zum 15. Staatengipfel der BRICS-Schwellenländer (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) nach Johannesburg reist", schreiben Johnson und Christian Rath in einem zweiten Artikel.

Im Iran sind im Januar und Februar rund hundert Menschen hingerichtet worden, berichtet Rainer Hermann in der FAZ unter Bezug auf Amnesty International. Die meisten Hingerichteten seien wegen Drogendelikten verurteilt worden, allerdings sind auch kurdische Aktivisten unter den von den Mullahs Ermordeten. Auch bei Frauen, die ohne Kopftuch herumlaufen, wird die Repression verschärft: "Bei Frauen, die mehrfach verwarnt worden seien, sollen die Internet- und Mobilfunkanschlüsse gesperrt werden, sagte der Abgeordnete. Anstelle der patrouillierenden Sittenpolizei sollen künftig Überwachungskameras im öffentlichen Raum die Frauen identifizieren, die kein Kopftuch tragen. In den vergangenen Tagen wurden mit Gerichtsbeschlüssen Geschäfte und Hotels geschlossen, in denen Frauen kein Kopftuch trugen."
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Europa

In der SZ warnt Stefan Kornelius vor der Hybris und Geschichtsvergessenheit einer Wahlrechtsreform, die Linke und CSU aus dem Bundestag kegeln würde. Beide Parteien stehen für einen Regionalismus, der nicht ohne Grund nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik verankert wurde, erklärt er: Dass die CSU "nach komplizierten Gründungsjahren die großen Gesellschaftsströmungen aus der Arbeitswelt, der Kirche und auch dem bayerischen Feudalismus in sich aufsog und in stabile Mehrheiten überführte" werde mit der Reform ebenso missachtet wie die Linke, die "Ausgeburt eines ostdeutschen Regionalismus [ist], der mehr als 30 Jahre nach der Gründung der neuen Bundesländer nur langsam in den Nebel der Geschichte diffundiert. Wer also die regionale Bedeutung von Parteien missachtet, gräbt mit großer Baggerschaufel am föderalen Fundament des Staates - ein Phänomen, das nicht erst seit Corona, den Bund-Länder-Finanzierungsschlachten oder den vielen Reformversuchen am Bund-Länder-Gerüst den politischen Machtkampf im Land bestimmt."

In der Welt staunt Henryk M. Broder über die Verve, mit der viele Deutsche in diesem Jahr Karneval feierten, während nebenan in der Ukraine die Bomben fielen. Und das, wo "Empathie" doch heute ganz groß im Kurs steht: "Ich kann jeden verstehen, der sich ein Ende des Krieges wünscht. Ich habe sogar ein begrenztes Verständnis für die Forderung, beide Seiten müssten 'Kompromisse machen'; das ist der Geist der Entspannung, 'Wandel durch Handel' und 'Frieden durch Annäherung'. Ich verstehe allerdings nicht, warum ganz normale Menschen, die sich um die Folgen des Klimawandels sorgen, die seltene Tierarten vor dem Aussterben bewahren wollen, die sogar Pflanzen und Insekten in ihr Herz geschlossen haben, die Bio-Produkte aus regionalem Anbau kaufen und nur noch klimaneutral reisen; warum diese Menschen, die ich im Prinzip schätze und achte, warum sie dem Elend in der Ukraine regungslos zuschauen und dabei murmeln: 'Das ist doch nicht unser Krieg.' Wo bleibt die Empathie?"
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Internet

Künstliche Intelligenz ist oft natürlicher als wir glauben. Hinter den schicken Oberflächen stecken Millionen Menschen, die ausgebeutet werden, sagt die kritische Tech-Forscherin Milagros Miceli im Gespräch mit Chris Köver von Netzpolitik: "Smarte Kameras sind ein gutes Beispiel dafür. Einige dieser Systeme werden als KI-gesteuert verkauft, aber die Technologie ist noch nicht so weit. Wenn man hinter den Vorhang schaut, handelt es sich nur um eine Gruppe von Menschen, die rund um die Uhr Kameras überwachen. Diese Menschen sind unterbezahlt und arbeiten in der Regel unter furchtbaren Bedingungen, etwa in Afrika oder Süd- und Mittelamerika. Mein Forscherkollege Antonio Casilli hat gerade einen solchen Fall aus Madagaskar vorgestellt: 35 Menschen leben in einem Haus mit nur einer Toilette. Diese Menschen stecken in Wahrheit hinter einem vermeintlich intelligenten Kamerasystem."
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Ideen

Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke  hat neulich in der Zeit einen jener Nachrufe auf den "Westen" geschrieben, für die westliche Intellektuelle so beliebt sind. Die Solidarität mit der Ukraine erschien in Koschorkes Text als ein letztes heuchlerisches Aufbäumen, bevor der "globale Süden" endlich in sein Recht tritt (unser Resümee). Richard Herzinger sieht das in einer Perlentaucher Intervention anderes: "Den neuen Autokratien ist es in den vergangenen Jahren zwar gelungen, den an sich selbst zweifelnden Westen in die Defensive zu drängen. Doch ihr kriminelles Herrschaftssystem wird auf Dauer nicht mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik und Flexibilität demokratischer Gesellschaften Schritt halten können. Genau das aber macht autoritäre Mächte wie Russland und China so eminent gefährlich: Sie wollen ihrem eigenen Bankrott zuvorkommen, indem sie nicht nur die westlichen Demokratien zerstören, sondern die liberale Idee als solche austilgen."
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Medien

Die ARD soll - womöglich zusammen mit dem ZDF - zum größten Streaminganbieter der Republik werden, zitiert Achim Sawall von dpa (hier bei golem.de) den neuen ARD-Vorsitzenden Kai Gniffke, der bei einer Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing gesprochen hat. Demnach will er einen "Marktplatz für alle deutschen Medien. Dabei geht es darum, eine Medieninfrastruktur zu schaffen, die die Chance hat, die Macht der Social Networks und der großen Plattformbetreiber zu brechen." Das ganze hat nur einen, aus der Geschichte der Anstalten bekannten Haken: "Das wird enorm viel Geld kosten."

Und noch eine dpa-Meldung (ebenfalls bei golem.de), die am Wochenende unterging: Google soll der Verwertungsgesellschaft Corint Media vorläufig 5,8 Millionen Euro für die Nutzung von Presseerzeugnissen zahlen. Diese Zahlung ist begründet aus dem neuen Leistungsschutzrecht für Presseerzeugnisse. "Die Summe ist weit von der ursprünglichen Forderung der Verwertungsgesellschaft entfernt. Corint Media hatte als angemessene Vergütung von Google eine Zahlung in Höhe von 420 Millionen Euro gefordert. Google wiederum hatte für das Repertoire von Corint Media, das rund ein Drittel der deutschen Presseleistungsschutzrechte vereint, eine Zahlung von 3,2 Millionen Euro pro Jahr angeboten."
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Geschichte

Unter lastseen.org sammeln einige Gedenkstätten Fotodokumente von Deportationen jüdischer Mitbürger unter den Nazis. Klaus Hillenbrand stellt die Datenbank in der taz vor. Es "überwiegen die Bilder aus kleineren Orten, aus Berlin oder Hamburg konnte bis heute kein einziges Deportationsfoto entdeckt werden. Akim Jah von den Arolsen Archives erklärt, warum das so ist: 'Deportationen waren kleinstädtische Sensationen.' Hier gab es keine Stapoleitstelle, stattdessen halfen Mitarbeiter vom Rathaus und vom Landratsamt aus, ganz zu schweigen von Ordnungspolizisten, Lkw-Besitzern und Eisenbahnbediensteten. Fotografieren war dabei zwar nicht ausdrücklich verboten, aber jedem Zeitgenossen war doch klar, dass man da vorsichtig sein musste. Das erklärt, warum manche der Bilder verwackelt sind und offenbar aus der Hüfte geschossen wurden."
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Stichwörter: Holocaust, Arolsen Archives

Gesellschaft

Das Demokratiefördergesetz soll einige "zivilgesellschaftliche" Akteure auf Dauer auf Staatsfinanzierung stellen, ohne dass sie alle drei Jahre mit einer störenden Evaluation rechnen müssen - die "Zivilgesellschaft" wird dadurch sozusagen verbeamtet. Wer sich dagegen stellt, wie jetzt in der Ampelkoalition die FDP, muss sich von taz-Autor Aziz Bozkurt vorwerfen lassen, dass er dem Rechtsextremismus in die Hände arbeitet: "In Zeiten, da Reichsbürger Umstürze planen, Bundeswehr wie Polizei immer wieder Skandale um rechtsgerichtete Demokratiefeinde entfachen, in manchen Regionen im Osten der Republik rechte Parteien mit Fake News Oberwasser erlangen, ist es höchste Zeit, den Initiativen die notwendige Wertschätzung entgegenzubringen."
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