Intervention

Eminent gefährlich

Von Richard Herzinger
19.03.2023. Intellektuelle wie der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke greifen ein populäres Missbehagen am Westen auf, dessen Niedergang sie voraussagen. In den Gegensatz zum Westen stellen sie den "globalen Süden". Aber ihr Antikolonialismus ist zumeist verlogen. Und sie machen sich zu Sprachrohren autoritärer Mächte, die ihrem eigenen Bankrott zuvorkommen wollen, indem sie nicht nur die westlichen Demokratien zerstören, sondern die liberale Idee als solche austilgen.
In der deutschen Debatte kursiert neuerdings die These, der globale Einfluss des Westens befinde sich im dramatischen Niedergang. So prophezeite kürzlich der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke in einem Aufsehen erregenden Essay in der Wochenzeitung Die Zeit, am Ende des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine würden - unabhängig von seinem Ausgang -  nicht nur Russland, sondern auch die Ukraine und der Westen als Verlierer dastehen.

Die westlichen Demokratien seien nämlich aufgrund ihrer kolonialistischen Vergangenheit und ihrer Doppelmoral in Sachen Menschenrechten bei den Ländern des aufstrebenden "Globalen Südens" nachhaltig diskreditiert. Darin liege der tiefere Grund dafür, dass sich etliche afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Staaten den westlichen Sanktionen gegen den Aggressor Russland nicht anschließen. Dass sich der Westen in der Ukraine "einmal mehr in ein womöglich auswegloses militärisches Engagement" verstricke, so Koschorke, werde "in Ländern der früheren Dritten Welt als ein Symptom für das nahende Ende einer von den USA dominierten internationalen Ordnung gelesen." Die "moralische Parteinahme des Westens für die Ukraine" nähre dort zudem den Verdacht, "dass dem Leiden von Weißen mehr Gewicht beigemessen wird als dem Elend in südlicheren Weltregionen".

In diesen Gedankengängen drücken sich wachsende Vorbehalte gegen die enge Westintegration Deutschlands in weiten Teilen nicht nur der deutschen intellektuellen Elite, sondern der Gesellschaft insgesamt aus. Einer kürzlich veröffentlichten Umfrage zufolge befürworten nur 45 Prozent der Deutschen, dass die Bundesrepublik anderen NATO-Staaten militärisch zu Hilfe kommt, sollten diese angegriffen werden. 35 Prozent sprechen sich dagegen aus, 20 Prozent sind unentschieden. In den östlichen Bundesländern lehnen gar 49 Prozent eine militärische Unterstützung von NATO-Partnern im Bündnisfall ab. Sie stellen sich damit gegen die Beistandsverpflichtung innerhalb der atlantischen Allianz - und negieren so das Fundament, auf dem auch die Sicherheit Deutschlands beruht.

Das Konstrukt von einem einheitlichen, im Gegensatz zum einstmals kolonialistischen Westen definierten "globalen Süden" dient dabei als Projektion, die dem eigenen antiwestlichen Affekt eine scheinbar  "objektive" Grundlage verleihen soll. Weil sie vom Westen schlecht behandelt wurden und immer noch würden, müsse man Verständnis dafür haben, dass sich Regierungen des "globalen Südens" weigern, im Ukraine-Krieg eindeutig zwischen Aggressor und Aggressionsopfer zu unterscheiden - und, wie der brasilianische Staatschef Lula da Silva, statt dessen verbreiten, an dem Krieg hätten irgendwie beide Seiten schuld.

Doch weder durch den europäischen Kolonialismus verübtes Unrecht noch aktuelle Fehler und Versäumnisse des Westens können als Rechtfertigung dafür dienen, elementare Normen des internationalen Rechts zu relativieren. Denn nicht nur der Westen, sondern auch alle anderen Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft tragen für das Funktionieren einer regelbasierten Weltordnung die Verantwortung. Indem sie sich hinter dem Mythos von einem ewig benachteiligten "globalen Süden" verstecken, drücken sich viele der diesem zugerechneten Regierungen davor, dieser Verantwortung nachzukommen.

Wobei ihr "Antikolonialismus" zumeist verlogen ist: Während dem Westen sein einstiger Imperialismus weiterhin vorgehalten wird, obwohl die europäischen Kolonialreiche längst Geschichte sind, wird von den "Antikolonialisten" des "globalen Südens" weitgehend ignoriert, dass die heutige Russische Föderation ein imperiales Gebilde ist, das aus der jahrhundertelangen brutalen Kolonisierung nichtrussischer Völker hervorgegangen ist - und dass es sich bei dem russischen Feldzug gegen die Ukraine um einen imperialistischen Krieg gegen ein Volk handelt, das sich aus kolonialistischer Unterdrückung befreien will.

Was die Volksrepublik China betrifft, so hält sie seit über siebzig Jahren das völkerrechtswidrig annektierte Tibet besetzt, hat unter dem Bruch internationaler Abkommen Hongkong gleichgeschaltet und verfolgt mit genozidalen Methoden die Uiguren. Indien, das immerhin formal noch eine Demokratie ist, hegt unter der autoritären Führung des radikalen Hindu-Nationalisten Modi selbst Weltmachtambitionen, die es durch massive militärische Aufrüstung unterstreicht. Dennoch werden die genannten Mächte von den Ideologen des "globalen Südens" noch immer als so etwas wie natürliche Verbündete im "antikolonialistischen Kampf" betrachtet.

Der Westen hat keinen Grund, gegenüber diesen Kräften einzuknicken, indem er die Gültigkeit seiner Werte sowie seine objektive Stärke in Frage stellt. Zusammengenommen verfügen die westlichen Demokratien nach wie vor über ein Mehrfaches der Wirtschaftskraft ihres stärksten Konkurrenten, der Volksrepublik China. Den neuen Autokratien ist es in den vergangenen Jahren zwar gelungen, den an sich selbst zweifelnden Westen in die Defensive zu drängen. Doch ihr kriminelles Herrschaftssystem wird auf Dauer nicht mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik und Flexibilität demokratischer Gesellschaften Schritt halten können. Genau das aber macht autoritäre Mächte wie Russland und China so eminent gefährlich: Sie wollen ihrem eigenen Bankrott zuvorkommen, indem sie nicht nur die westlichen Demokratien zerstören, sondern die liberale Idee als solche austilgen.

Denn diese stellt für sie durch ihre bloße Existenz eine permanente tödliche Gefahr dar. So viele Aufstandsbewegungen für Demokratie und Menschenrechte der Autoritarismus auch niederschlagen mag - von Venezuela über Hongkong bis Belarus -, immer wieder erheben sich, wie zuletzt im Iran und jüngst in Georgien, irgendwo erneut Gesellschaften, die der Strahlkraft liberaler Freiheitswerte folgen.

Es ist dieses ideelle Kapital, aus dem die Gemeinschaft der Demokratien aller Kontinente ihre Zukunft schöpfen muss. Wenn die demokratische Welt Einigkeit, politische Entschlossenheit und militärische Stärke mit konsequentem Eintreten für Freiheitsrechte überall auf dem Globus verbindet, wird sie auch künftig die bestimmende weltpolitische Kraft sein.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.