9punkt - Die Debattenrundschau
Vertrauen in den gesunden Menschenverstand
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Die FAZ räumt ihre erste Feuilletonseite für den früheren CSU-Politiker Peter Gauweiler frei, der für Europa lieber keine weltpolitische Rolle haben möchte. Bisher seien doch alle Kreuzfahrer an Unwissenheit oder Mangel an Verstand gescheitert. Europa sollte lieber werden wie die Schweiz, findet Gauweiler, reich und glücklich: "Wo 'Größe ohne Ausdehnung' zum Identifikationsmuster eines Landes gehört. Ebenso einmalig wie das schweizerische 'Volk ohne Nation', wo sich ein Staatsvolk als Inbegriff von Gemeinde- und Gliedstaatsbürgern von unten nach oben definiert. Regiert von einer 'Demokratie ohne Parteien', bei der das Volk sogar gegen gemeinsame Ziele aller großen Parteien aufbegehren kann. Und nicht am unwichtigsten: ihre 'Tradition ohne Nostalgie': Die Schweiz gehört heute zu den modernsten und ökonomisch wie kulturell am weitesten entwickelten Staaten dieser Welt. Auch so geht 'Weltmacht Europa', aber eben nur anders."
In seinem Brief aus Istanbul schildert Bülent Mumay in der FAZ, wie wenig Erfolg Erdogans "Finanz-Dschihad" gegen den Dollar zeitigt: "Erdogans Aufruf, die Dollars unter dem Kopfkissen hervorzuholen und in türkische Lira einzutauschen, zeitigte die gegenteilige Wirkung. Nach offiziellen Angaben der Zentralbank wurde seit Erdogans Aufruf kein Rückgang bei den Devisenanlagen verzeichnet. Umgekehrt, die Dollareinlagen erhöhten sich um 1,3 Milliarden Dollar."
Geschichte
Internet
Medien
In einem ausführlichen Interview mit Marc Neumann in der NZZ leidet das alte Reporter Schlachtross Seymour Hersh ausführlich am Journalismus von heute: "Wie das Nachrichtengeschäft derzeit aufgestellt ist, treibt es einen in den Wahnsinn. Wie gedankenlos und dumpf das geworden ist. Geschwindigkeit verdummt, Cable News sind ein Desaster", schimpft er. Aber für einen großen Fehler hält er auch, dass Edward Snowden mit seinem Namen an die Öffentlichkeit trat. Und völlig irrsinnig findet er die Fixierung auf Trumps Tweets und die Frage des russischen Einflusses auf die Wahlen: "Die Crux von Trumps Popularität ist Rassismus. Der gute alte Kern der USA ist rassistisch. Die weißen Jungs im mittleren Amerika, immerhin das halbe Land, mögen keine Schwarzen, keine Einwanderer. Glauben Sie bloß nicht, dass die Russen dran schuld waren. Das ist verrückt. Wir sind sehr gut im Nachrichtendienst. Wir wissen, wer's war, und wenn's die Russen gewesen wären, dann hätten wir das klar gesagt. Aber es gibt null Evidenz. Das war einzig ein politisches Urteil, weil der Grund ja nicht sein durfte, dass Hillary Wähler 'bemitleidenswert' genannt hatte. Und was machen die Demokraten? Sie antworten seit anderthalb Jahren auf seine Tweets."
Die russischen Aktivitäten im amerikanischen Wahlkampf beurteilt die New York Times nach wie vor kritischer.
SZ-Kritiker Jens-Christina Rabe zieht sogar Adorno zu Hilfe, um für die amerikanische Comedy einen Ausweg aus ihrer gegenwärtigen Krise zu finden. Mit Hanna Gadsby und Michelle Wolf haben bereits zwei erfolgreiche Comedians ihren Job an den Nagel gehängt: "Inzwischen erscheint der Tausch Pointe gegen Lacher mit jedem Tag, welche die Twitter-Präsidentschaft Trumps und die daran hängende neue Unübersichtlichkeit der Welt andauern, ein wenig schaler. Und all die Fürsten und Fürstinnen des Comic Relief, der befreienden Komik, deren unermüdliche Arbeit gerade noch in der Lage war, das Vertrauen in den gesunden Menschenverstand mit ein paar guten Gags im Handumdrehen wiederherzustellen, wirken so ohnmächtig und opportunistisch, wie Spaßmacher seit jeher doch meistens waren."
Weiteres: Super findet Meike Laaff in der taz die Recherche bei Spiegel Online, was für Daten die Internetkonzerne sammeln. "Nur: Schon während man sie liest, sitzt man auf der Spitze des Eisbergs eines genauso gravierenden Problems: des kaputten Onlinewerbesystems nämlich." In der SZ wirft Claudia Tieschky einen Blick auf das Phänomen True Crime und macht sich selbst mit dem Titel "Mord und Ratschlag" zumindest des Überschriftenklaus schuldig.