9punkt - Die Debattenrundschau

Dann kamen so viele Monster hervor

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.12.2015. In der Welt erklärt Swetlana Alexijewitsch, warum es heute wichtiger denn je ist, Dostojewski zu lesen. In der SZ zeigt der Soziologe Jean-Yves Camus, wie der Front national von den  Schwächen des republikanischen Modells in Frankreichs profitiert. Fadenscheinig war Beate Zschäpes Aussage, finden die Kommentatatoren so gut wie aller Medien. Heise.de fürchtet, dass auch in Europa ein Leistungsschutzrecht zum Schutz der alten Medienindustrien geplant ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.12.2015 finden Sie hier

Europa

Beate Zschäpes Aussage gestern war fadenscheinig - es gibt kaum einen Kommentar , der's anders sieht. Annette Ramelberger will ihr das Frauchen- und Opfer-Image, das sich Zschäpe geben wollte in der SZ ganz und gar nicht glauben: "In der Realität nämlich marschierte Beate Zschäpe auf Neonazi-Demos, beteiligte sich an provokativen Aktionen und hatte Waffen in der Wohnung sowie Sprengstoff in der Garage. Außerdem war sie es, die das Enttarnungs-Video des NSU verschickte und die gemeinsame Wohnung anzündete. Das ist mittlerweile nicht mehr zu widerlegen. Und sie hat es auch so eingeräumt." Viele weitere Kommmentare unter diesem Link.

Swetlana Alexijewitsch, deren Nobelpreisrede man hier nachlesen kann, lobt im Interview mit der Welt die Flüchtlingspolitik Angela Merkels und erklärt, warum Dostojewski für sie immer noch der wichtigste Schriftsteller ist: "In der Sowjetzeit herrschte ja bei uns, trotz allem, was wir so erlebten, die idealistische Idee, der Mensch sei gut, der Mensch sei großartig. Das Wort 'Mensch' klinge stolz, lehrte Maxim Gorki. Aber Dostojewski lehrte eben, der Mensch sei ein vielschichtiges Wesen, mit viel Dunklem, Untergründigem, und er kenne sich selbst noch nicht. Solange wir gegen den Kommunismus kämpften, war alles klar und verständlich: Dort ist das Ungeheuer, und wir müssen es besiegen. Wir haben es ja auch besiegt. Aber dann kamen so viele Monster hervor, so viele Männchen aus dem Untergrund - und wir waren völlig kraftlos. "

Populismus nährt sich aus den Widersprüchen und Tabus des Mainstreams. In Frankreich gehört dazu die Zentralismus, durch den die Provinz abgehängt wird, sagt Politologe Jean-Yves Camus im Gespräch mit Alex Rühle in der SZ: "Natürlich nutzt das den Rechtsextremen. 1982 wurde das erste Gesetz zur Dezentralisierung verabschiedet, aber wir sind immer noch ein extrem zentralistischer Staat. Nehmen Sie den Süden. Da hat der Front National zum Thema gemacht, dass Toulouse alles für sich vereinnahme, Verwaltung, Geld, Verkehr. Und das stimmt. Albi, Montauban, Narbonne, all die umliegenden Städte, werden zur tiefsten Provinz. Wir haben ein paar prosperierende Zentren, Städte wie Nancy, Metz, Bordeaux, Lyon, aber die Kleinstädte gehen zugrunde."

Glaubt man Ariane Bonzon in Slate.fr dann wäre Tariq Ramadan der Charismatiker, der die Mulisme Frankreichs durch friedvolle Worte besänftigen könmnte - aber er kann dieser Mission leider nicht gerecht weren, weil er eine persona non grata sei. In einer dreiteiligen Serie erzählt sie, wie der Genfer in Frankreich unmöglich gemacht worden sei. Und Ramadan ist ganz ihrer Meinung: "2015 hat Ramadan also keinen Telefonanruf erhalten. Weder vom Premier- noch vom Innenministerium. Und er wird keinen erhalten. 'Weder die Linke noch die Rechte werden mich anrufen. Man diabolisiert meine Positionen wegen meiner Kritik an der französischen Innenpolitik, meiner Kritik an Israel und der Widersprüche der Außenpolitik.'"
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Ideen

Anlässlich des Tods des Gründers der Outdoor-Firma "North Face" durch Unterkühlung schlägt Jan Küveler in der Welt vor, "eine Unterkategorie der Darwin-Awards einzuführen, die Menschen ehren würde, die in direkter Ausübung ihres Berufs, das heißt ihrer Kunst dahinschieden".

In der NZZ findet Stefan Betschon anlässlich einer Ausstellung über Ada Lovelace deren Bedeutung für die Computerwissenschaften überschätzt.
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Stichwörter: Lovelace, Ada

Politik

Es klingt paradox, aber Frauen fühlen sich von der Bombardierung der Städte Rakka und Mossul zuweilen erleichtert, schreibt eine Reportergruppe im Guardian: "Frauen finden einen gewissen Trost in den Angriffen, sagen lokale Aktivisten. Die ISIS-Garden verstecken sich wegen der Bomben, und so können die Frauen von Rakka einen kurzen Moment der Freiheit genießen. 'Sie gehen auf ihre Balkons und an die Fenster, schnappen nach Luft und werfen einen Bick auf ihre Stadt', sagt Tim Ramadam (Name geändert), ein Aktivist der Gruppe Raqqa Is Being Slaughtered Silently, die unter großem Risiko die Gräueltaten der ISIS dokumentiert."
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Gesellschaft

Paris sei die "Hauptstadt der Perversion", empörten sich die Attentäter vom 13. November. Kann man so sehen, meint Tilman Krause in der Welt und erstellt sogleich mithilfe der Literatur eine sexuelle Topografie der französischen Hauptstadt, die er wie folgt einleitet: "Frankreich bietet wahrscheinlich das einzige Beispiel einer Nation weltweit, die sich über erotisch-sexuelle Kontaktaufnahme definiert. Deutschland hat seinen Fußball, England sein Rugby, aber Frankreich besitzt die 'drague', die Anmache, als Nationalsport. Und die spielt sich eben nicht in der Intimität irgendeiner Häuslichkeit ab, sondern vor aller Augen, auf Straßen und Plätzen."

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Stichwörter: Paris, Sex, Intimität

Geschichte

Regine Sylvester erinnert in der Zeit an das berüchtige 11. Plenum des ZK der SED vor fünfzig Jahren, bei dem Künstler, die sich nach dem Mauerbau Hoffnung auf eine umhegte Liberalisierung gemacht hatten, mit der Nase auf die Realität des realen Sozialismus gestoßen wurden. Ebenfalls in der Zeit fragt sich der Historiker Ulrich Herbert, ob sein Kollege Peter Longerich seine Einsichten über Hitler wirklich in die x-te monumentale Biografie packen musste oder ob nicht ein konziser Essay gerecht hätte ("aber ein großes Publikum wäre damit nicht erreicht worden, das ist sicher richtig").
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Internet

Liest man Sascha Lobos Spiegel-Online-Kolumne zu Hasskommentaren im Internet, sollte man vielleicht doch noch mal drüber nachdenken, das Internet abzuschaffen: "Bei einer Diskussion kommt es nicht darauf an, wer argumentativ überzeugt, sondern wer so wirkt, als habe er gewonnen. Der völlig verbogene Internetdiskurs vollendet damit, was das Fernsehen begonnen hatte: Politik nur für den Moment, Politik für Leute ohne Gedächtnis, Politik ohne Verantwortung für Vergangenheit oder Zukunft."

In der vorletzten Zeit hatte Martin Schulz nach einer digitalen Grundrechtecharta gerufen. Heute antwortet ihm sein Parteigenosse, Justizminister Heiko Maas, und verspricht - mit den Schriften der moralischen Autoritäten Evgeny Morozov und Frank Schirrmacher im Gepäck - das Internet zu regulieren: "Weil die Digitalisierug mit dem Neoliberalismus einherging, wurde viel zu lange auf eine demokratische Regulierung verzichtet. Eine Technikgestaltung durch Recht fand kaum statt."
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Medien

Ein Leistungsschutzrecht zum Schutz alter Medienindustrien könnte auch europaweit kommen, schreibt Stefan Krempl bei heise.de in einem Überblickartikel zu geplanten europäischen Urheberrechtsreformen: "Der für den digitalen Binnenmarkt zuständige Vizepräsident der Regierungszentrale, Andrus Ansip, betonte zwar nach lautstarken Protesten etwa von EU-Abgeordneten, dass weder er noch sein Kollege Günther Oettinger vorhätten, 'Hyperlinks zu besteuern'. In einem Beiblatt ist aber nachzulesen, dass Aggregationsdienste wie Google News nicht nur Links, sondern auch 'Auszüge aus Artikeln' nutzen und daraus Gewinne erzielen könnten. Eine Snippets-Steuer scheint also nicht ausgeschlossen."
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