Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
16.11.2006. Über das beneidenswerte Selbstbewusstsein des 29-jährigen Martin Walser, die globale Kommunikation des Gelehrten Albrecht von Haller im 18. Jahrhundert, Baum-Models von James Balog, die gesunden fünf Sinne des Marxkritikers Karl Grün, die gewagte Bühnenbildkunst des Wagnerkritikers Adolphe Appia und die Energie der deutschen Aufklärer.
Ein Zeughaus für künftige Zimmerschlachten

Er war früh fertig. Wer heute Martin Walsers Tagebücher aus den Jahren 1951 bis 1962 liest, den fasziniert vor allem, wie perfekt der Walsersound von Anfang an da ist. Eine Notiz vom 31.12.1956: "Lotte Wege: zwischen fünfzig und sechzig, ein schwarzes Taftkleid, um ihre Taille, die man wahrscheinlich leicht mit einer einzigen Hand umfassen könnte, die aber doch nicht als eine frauliche Taille wirkt, weil der ganze Körper überall so dünn ist und mager, dass auch die dünnste Stelle sich nicht sehr von anderen Partien unterscheidet, um ihre Taille also schlingt sich eine rote Schärpe, wahrscheinlich gestärkte Seide, die hinten in einer Schleife mit zwei großen Bögen von dem hageren Körper wegspringt. Der dürre Körper ist wie ein Bogen gekrümmt, wie ein Bogen allerdings, dessen Sehne längst gesprungen ist, aber der Bogen hat noch, wenn auch erschlafft, etwas von der früheren Krümmung beibehalten, damals war es Spannung, jetzt ist es nur noch krumm. Das Kleid ist hinten tief ausgeschnitten und zeigt ein vorstehendes Rückgrat, das an diesem sonst so dürftigen und mageren Körper gewissermaßen mächtig wirkt..."

Bis zum Abschluss dieser Beobachtung braucht Walser noch einmal so viel Zeilen, und immer weiter steigert er sich. Mit seinen Worten feuert er lange vor seinen Lesern sich selbst an. Er ist extrem begeisterungsfähig. Das reißt ihn und dann auch den Leser mit. Man muss sich vorstellen, der Neunundzwanzigjährige war auf einer Silvesterparty - mit dabei u.a. Christa Rotzoll, Wolf-Dietrich Schnurre, Thilo Koch und Wolf Jobst Siedler - danach sitzt er zu Hause und verwandelt diese dem unbewaffneten Auge doch eher harmlos erscheinende Gesellschaft in ein Ensorsches Panoptikum. Walser braucht das Leben, aber genauso braucht er den Abstand dazu. Das Schreiben ist für Walser eine Methode, der Langeweile des Lebens zu entkommen. Aber nicht, indem er sich etwas anderes ausdenkt, sondern indem er schreibend so nahe an das Leben heranrückt, dass es ausspuckt, was es für sich behalten möchte. Walser zeigt die Menschen, wie sie sind, nicht indem er uns einen Blick hinter die Fassade werfen lässt, sondern indem er uns zwingt, uns die Fassade ganz genau anzuschauen.

Das Tagebuch sagt uns nicht, wann Walser darauf kam. Vielleicht kam er so auf die Welt. Das Tagebuch klärt uns auch nicht darüber auf, wie er die Suada als Stilform entdeckte. Er scheint schon immer so geschrieben zu haben. Ein beneidenswertes Selbstbewusstsein spricht aus jeder Zeile dieser Notizen. Natürlich hat man den Verdacht, dass es hier so stark ist, weil es sich hier - gar nur hier - sicher fühlt. Doch ganz gleich, wie Walser sich außerhalb dieses Tagebuchs fühlte, das folgende halbe Jahrhundert hat dieser Selbstsicherheit, diesem der Realität auf den Leib rückenden Fanatismus Recht gegeben.

Das Tagebuch eines Schriftstellers? Eine Materialsammlung eher, ein Zeughaus für künftige Zimmerschlachten. Die eine oder andere Beobachtung wird die Jüngeren heute verblüffen, so die vom 8.2.1961: "Leute, die natürlich leben wollen und dafür noch ein bisschen werben, hält man beflissen für Nazis." 18 Jahre später wurden die Grünen gegründet aus einem Bündnis von Ökologen und Linken.

Das Wort "beflissen" bringt einen ins Grübeln. Wer bei einem Naturfreund an Nazi denkt, der denkt gewissermaßen nicht selbst, sondern er denkt, was gedacht werden soll. Man tut wahrscheinlich gut daran, in diesem hier kritisierten "man" den Autor selbst zu sehen, der sich warnen möchte, vor der Mechanik, mit der er nachbetet, was er nicht denkt, sondern nur zu denken meint. Am Verblüffendsten aber ist, dass in diesem Tagebuch das ganze Jahr 1961 hindurch der Mauerbau mit keiner Silbe erwähnt wird. Der war zwar höchst real, aber offenbar weit entfernt davon, als ein möglicher Stoff betrachtet zu werden.

Martin Walser: "Leben und Schreiben". Tagebücher 1951-1962. Mit Zeichnungen des Verfassers. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005. 667 Seiten, 24,90 Euro. ISBN: 3498073559.


Statt Email und Webcam

Der Schweizer Gelehrte Albrecht von Haller (1708-1777) war von unglaublicher Arbeitskraft. Er schrieb allein für die Göttingischen Gelehrten Anzeigen gut 9.000 Rezensionen, ein achtbändiges, damals sehr erfolgreiches "Handbuch der Physiologie", eine zehnbändige Bibliografie der medizinischen Wissenschaften, die erste umfassende Darstellung der Schweizer Flora, 200 Artikel für die Encyclopedie. Nebenbei war er noch der Pionier der Alpenlyrik, Autor dreier Romane über die Prinzipien der Staatsformen sowie einiger Schriften für die vernünftige Religion gegen die Freidenker. Daneben führte er eine Korrespondenz. 16.981 Briefe von 1.139 Korrespondenten aus 21 Ländern sind überliefert. Betrachtet man diese Zahlen, wird einem klar, wie wörtlich die Rede von der "republic of letters" von der "republique des lettres" gemeint war. Sie basierte vielleicht nicht so sehr auf der Weltoffenheit der Gelehrten, vielmehr scheint diese ein Nebenprodukt der Verkehrsmöglichkeit des sicheren, organisierten Briefwechsels gewesen zu sein.

Der großformatige und großartig gelungene Band "Hallers Netz - Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung" zeigt auf Seite 25 den jungen Prinzen Wilhelm August von Holstein-Gottorp (1753-1774), ein Vetter von Katharina der Großen, wie er die rechte Hand auf einen Globus legt, während die sich auf sie stützende linke Hand einen Brief hält. Klarer kann der Anspruch auf globale Kommunikation und der Hinweis auf ihr Medium nicht gemacht werden. Der Brief war die Email der Epoche. Auch, darauf weisen die Autoren sehr eindrücklich hin, was die Vermischung von privat und öffentlich angeht. "Als Haller seinem künftigen Schwiegersohn Ratschläge für dessen Eheleben erteilt, kursiert der schwiegerväterliche Brief bald in zahlreichen Abschriften und rührt die ganze Stadt."

Nicht immer hatte die Indiskretion so freundliche Folgen. Voltaire zum Beispiel war sehr ungehalten, als Abschriften seines Briefwechsels mit Haller in die Öffentlichkeit gelangten. Man ging so selbstverständlich von der Verbreitung der Briefe aus, dass manchen, wirklich privat gemeinten, oft eine Fußnote folgte, in der der Absender den Empfänger aufforderte, sie nach der Lektüre zu verbrennen. Wer heute am Computer auf "weiterleiten" drückt, der steht in einer alten Tradition. Der Brief wurde versiegelt. Das Siegel zu brechen, war aber kein Problem. Geheimes ließ sich also nicht mitteilen. Und doch tat man es. So wie heute kaum jemand bei seinen Emails bedenkt, dass jeder halbwegs geschulte Computerfreak sich Zugang zu ihnen verschaffen kann.

Wie der Untertitel von "Hallers Netz" klarmacht, geht es den Autoren nicht um die Präsentation mehr oder weniger interessanter Stellen in den Briefen von und an Haller. Sie versuchen vielmehr, das Medium "Briefwechsel" selbst deutlich zu machen. Sie arbeiten deutlich heraus, wie sehr die Korrespondenz, Hallers www., dazu diente, konkrete Kenntnisse zu erwerben. Zwischen einer Untersuchung, einem Experiment und der Veröffentlichung vergingen oft Jahre. Die Briefe, die die Mitglieder der "republic of letters" einander zusandten, verbreiteten Forschungsergebnisse und Fragestellungen, lange bevor sie der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Man muss die Briefwechsel hinzuziehen, wenn man sich über die Produktionsbedingungen von Wissen im 18. Jahrhundert klar werden möchte.

Natürlich dienten die Briefe auch der Bildung von pressure groups. Sie waren wichtig für die Durchsetzung bestimmter Forschungsstrategien und Forschungsziele. Das Buch führt das an konkreten Beispielen vor. Die zahlreichen Abbildungen und Grafiken erklären nahezu jedes Detail vom Zuschneiden einer Schreibfeder über eine Kartoffelmühle bis zum "Kommunikationsschema einer Heirat". In 163 Briefen äußern sich 42 Personen über Verlobung und Heirat von Hallers ältester Tochter Marianne. Das Schema macht einem mit einem Blick das Beziehungsgeflecht deutlich. Eine Abbildung zeigt ein Gemälde aus der Burgerbibliothek der Burgergemeinde Bern von d'Lander. Es zeigt einen an einem Tisch sitzenden Mann, der einer neben ihm sitzenden Frau einen zusammengefalteten Brief überreicht. Sie hat Siegellack in der Hand. Neben ihr steht ein Kind, das eine Kerze in der Hand hält. Dargestellt ist die Familie Herrenschwand beim Versiegeln eines Briefes. Die Anmerkung unter der Abbildung endet mit dem Satz: "An diesem Ort verfasst Herrenschwand auch die meisten seiner 43 an Haller gerichteten Briefe". Nicht nur die Email hat eine lange Vorgeschichte. Auch die Webcam.

Martin Stuber, Stefan Hächler, Luc Lienhard: "Hallers Netz". Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung. Studia Halleriana IX. Schwabe Verlag (gegründet 1488!), Basel 2005. 592 Seiten mit 468 schwarzweißen Abbildungen, 51 Grafiken, 5 Tabellen und 42 Karten, 68,50 Euro. ISBN: 3796513271.


Geschichten von Überlebenden

James Balog ist einer der bekanntesten Tierfotografen der Welt. Einer der eigenwilligsten auch, und es gibt kaum einen, der so sehr das Interesse auf den Tierschutz gelenkt hat wie er. 1990 erschien sein Buch "Survivors: a new vision of endangered wildlife". Er hatte Tiere inszeniert wie man sonst Models inszeniert. Das verblüffte und erregte. Es kam zu heftigen Kontroversen. Danach beschäftigte er sich sieben Jahre fast nur noch mit Bäumen. Mit den größten, den ältesten und den mächtigsten Bäumen der USA. Wie immer machte James Balog sich auch diesmal die Arbeit schwer. Er ging nicht einfach zu seinen Stars, stellte sich weit genug weg von ihnen, um sie in ihrer ganzen Pracht aufs Foto zu bringen. Das Ergebnis wäre zu enttäuschend gewesen. Auch der größte Baum wird und wirkt sehr klein, wenn man erst einmal so weit weg ist, dass man wenigstens den ganzen überirdischen Teil von ihm aufs Bild bekommt. Balog wollte ran an seine Helden und sie doch ganz haben.

Das ging nur durch Montage. David Friend beschreibt, was Balog tat so: "Zuerst schoss er einen Pfeil in den Wipfel des Baumes, den er fotografieren wollte, dann befestigte er ein kräftiges Seil an einem Baum gegenüber. Er arbeitete mit der Ausrüstung von Felsen- und Höhlenkletterern, baumelte auf einem eigens entwickelten Hängesitz in 100 Meter Höhe und seilte sich langsam am Baum ab. Dabei fotografierte er eine Ebene nach der anderen. Bei jeder Astgabelung nahm er über die ganze Spannweite ein Dutzend Bilder auf. Zu Hause in Boulder, Colorado, verschanzte sich Balog hinter seinem Computer und bastelte wochenlang an seinem Bildermosaik, bis er seine schwebend aufgenommenen Puzzlestücke zu einem einzigen Bild des gesamten Baumes zusammengesetzt hatte."

92 Exemplare von 47 Arten hat er so erfasst. Die Fotos sind als Einzeldrucke zu haben oder aber in einem Prachtband von 190 Seiten zu besichtigen. Jeder, auch der hartnäckigste Abstinenzler des Naturschönen, wird darin Exemplare finden, die ihn faszinieren. Die schwarz-weiß Aufnahme der Baumkrone der Fremontspappel wird den Liebhaber chinesischer Malerei oder den Cy Twombly-Verehrer begeistern. Die mächtigen, den Stamm weit in die Höhe hebenden Wurzeln des Riesenlebensbaumes - ein Exemplar aus dem Olympic National Park, Washington - werden manchem direkt ins Gemüt greifen, und wer wird ohne Rührung auf die gewaltigen, eisenroten Elefantenfüße des "General Sherman" blicken? Balog schreibt: "General Sherman - ein Mammutbaum - ist der größte eigenständige lebende Organismus auf Erden. Obwohl er mit seinen 82,20 Meter Höhe 30 Meter niedriger ist als der höchste Mammutbaum, führt er mit seinem gewaltigen Stamm die Liste der Rekorde an: 8,15 Meter Durchmesser, 30,60 Meter Umfang am Boden, insgesamt 1559 Kubikmeter lebendes Holz."

Um die 2000 Jahre soll der Baum alt sein. Beeindruckenderes ist hinieden kaum zu haben. Es macht aber die Qualität von Balogs Arbeit aus, dass er auch dort die Geschichte sieht, wo wir achtlos vorbeigehen. Da steht in Washougal ein Baum an einem Parkplatz, gegenüber einem Geldautomaten. Es ist Herbst. Er sieht ein wenig zerrupft aus und hat so gar nichts Beeindruckendes an sich. Wer den Bildband durchblättert, bleibt aber natürlich gerade hier stehen. Zwischen all den anderen Prachtwerken der Natur wirkt er verloren und man fragt sich: was machst der hier? Balogs Text gibt die Antwort. 1904 breitete sich aus Asien kommend die Borkenpilzkrankheit aus. Innerhalb weniger Jahre waren fünf Millionen Hektar Kastanienbestand abgestorben. Die amerikanische Kastanie war ausgerottet. Ein paar Überlebende gibt es noch. Der Baum gegenüber dem Geldautomaten ist einer davon.

James Balog: "Baumriesen". Mit einer Einleitung von David Friend. Aus dem Amerikanischen von Frank Auerbach. Verlag Frederking & Thaler, München 2006. 192 Seiten, 7 Altarfalze, ca. 220 Farbfotos geb. mit SU; 39,4 x 30,5 cm, 75 Euro. ISBN: 3894056576.


Karl Grün entdecken!

Wer die Arbeiten des jungen Marx gelesen hat, dem ist Karl Grün (1817-1887) begegnet. Das pubertäre Überlegenheitsgefühl, mit dem Karl Marx seine Zeitgenossen ein Leben lang als seiner eigenen Herrlichkeit inferiore Objekte wahrnahm, hat sich auch an Karl Grün ausgetobt. Die Karriere, die Marx postum in der von ihm verachteten Gestalt des Marxismus widerfuhr, gab seinen Urteilen eine Kraft, die wenig mit deren argumentativem Gewicht zu tun hatte. Es ist bitter nötig, die Revision des Marxismus auch auf die Verdikte desselben gegen Autoren, Künstler und Denker auszudehnen. Einen schönen Einstieg dazu bietet eine Auswahl von Schriften des Frühsozialisten Karl Grün, die vergangenes Jahr herauskam.

Sie erscheinen in der Reihe Hegel-Forschungen. Vielleicht werden dort noch andere von Marx in den Orkus geworfene Rechts- oder Linkshegelianer wieder auferstehen. Marx verachtete Grün wegen dessen - so nannte er es - Gefühlssozialismus. Der galt ihm nichts, hatte er selbst doch den wissenschaftlichen entdeckt. Es gibt eine lange, harte auch mit ganz realen Hinrichtungen ausgetragene innermarxistische Debatte zu dem, was Marx unter "Wissenschaft" verstand. Es tut gut, diese zahllosen Pandekten einer blutbefleckten Hermeneutik erst einmal einfach beiseite zu schieben und sich in die Schriften Karl Grüns zu vertiefen.

Karl Grüns Radikalismus steht dem des jungen Marx nicht nach. Auch an Sarkasmus nimmt er es mit ihm auf und auf politische Irrtümer versteht auch er sich. 1845 zum Beispiel in seinem Aufsatz "Politik und Sozialismus" lästert er gegen die Forderung nach einer Verfassung. Er sieht in ihr, nach den Ereignissen des schlesischen Weberaufstandes nichts anderes als die Aufforderung an den König, sich aus der Verantwortung zurückzuziehen und die Bourgeoisie zu ermächtigen, "den Pöbel nöthigenfalls zusammenzuschießen". Die Begabung, drastisch zu sagen, was er meinte, hat Grün sein Leben lang nicht verloren. Ihn zu lesen, ist ein Vergnügen.

Wer das deutsche neunzehnte Jahrhundert begreifen möchte, wird gerne zu Karl Grün greifen. Die beiden Bände dieser Auswahl, geben Einblicke in die Mentalität der 1848 geschlagenen radikalen Opposition. Man mag ihre hochfahrende Machtlosigkeit belächeln, aber dann liest man doch mit tiefem Bedauern über diese Machtlosigkeit, was Karl Grün 1849 in einem Artikel schrieb, der zur Gründung einer freien akademischen Universität durch die Frankfurter Nationalversammlung aufrief: "Wir behaupten heute, auf dem eigentlich wissenschaftlichen Boden zu stehen, und jetzt erst die wahrhaft freie akademische Universität gründen zu können. Für uns gibt es keine philosophische Schule mehr, sondern wir proklamieren das Aufhören aller Systeme. Wir steigen nicht mit einem fertigen Kategorienschema hoffärtig zu den Dingen hinab, sondern wir wollen den Dingen selbst bedingungslos ihre Wesenheit ablauschen; nicht die Sonne irgendeiner Metaphysik beleuchtet unsere Welt: wenn unser Auge nicht selbst sonnenhaft ist, werden wir nichts erspähen. Auch die Philosophie, wie die Religion, ist Geschichte geworden: das Resultat der Geschichte der Philosophie ist die Organisation der gesunden fünf Sinne."

So weit war man schon einmal. Davon haben nicht nur die Bündnisse von Thron und Altar, sondern auch die marxistische Orthodoxie ganze Generationen wieder zurück gestoßen in die Unmündigkeit.

Karl Grün: "Ausgewählte Schriften in zwei Bänden". Mit einer biografischen und werkanalytischen Einleitung herausgegeben von Manuela Köppe. Akademie Verlag, Berlin 2005. 896 Seiten, 128 Euro. ISBN: 3050041463. ()


Der totalitäre Charakter des Kunstwerks

Adolphe Appia (1862-1928) war der große Erneuerer des Bühnenbildes. Wer nach 1945 heranwuchs und die Bayreuth-Fotos der Wieland Wagner Inszenierungen sah, der hatte das Gefühl, endlich in der Moderne angekommen zu sein. Wer heute die zahlreichen Bühnenbildentwürfe Appias sieht, der weiß spätestens dann, dass auch diese Moderne damals schon ein halbes Jahrhundert alt war. Der in einem streng kalvinistischen Genfer Elternhaus aufgewachsene Adolphe Appia war von früh an ein Theaterbegeisterter, und wie es sich damals gehörte für einen jungen Mann, hieß sein Gott Richard Wagner. Der vierzehnjährige Schüler Appia entwarf mit einem Klassenkameraden eine kleine Pappbühne. Als Appias Freund gemalte Bilder ausschnitt, um sie als Bühnenbilder zu verwenden, bestand Appia auf realen Gegenständen. Die beiden zerstritten sich. Die Bühne wurde feierlich zerstört.

Falls diese Anekdote stimmen sollte, wäre sie ein Beleg dafür, wie früh bei manchen Menschen die Lebensthemen feststehen. Tatsächlich war die Tatsache, dass auf der Bühne reale Menschen zwischen gemalten Kulissen herumlaufen, für Appia Zeit seines Lebens schwer zu ertragen. Er verbrachte Jahre damit, sich auszudenken, wie Wagners Opern zu inszenieren seien. Er malte Skizzenbücher voll, einfach so, ohne jeden Auftrag, ohne eine Bühne, ohne einen Regisseur. Appias Problem war, dass Wagner, was die Regie anging, gewissermaßen unter seinem Niveau als Komponist gedacht hatte. Wer Wagner richtig aufführen will, der darf, so Appia, nur die Partitur als Grundlage der Inszenierung nehmen: "Wagner hängt an seinen Text Regieanweisungen an, die den Ort so beschreiben, wie er ihn sich vorstellte, und zwar ohne den organischen Zusammenhang mit dem tondichterischen Text."

Eine sehr gewagte Formulierung, bildet doch ihr zufolge der Körper des Autors keinen organischen Zusammenhang. Man muss sich freilich nur die Bühnenbilder von Wagners Inszenierungen ins Gedächtnis rufen und schon wird klar, was Appia meinte. Bayreuths Bühne wurde voll gestellt wie ein Salon der Gründerjahre, nichts blieb der Phantasie überlassen. Diese Ästhetik war Lichtjahre entfernt von dem Rausch der Gefühle, von dem wilden Ungefähr, dem "Unbewusst höchste Lust" der Wagnerschen Musik. Wir haben die letzten Jahre viel vom Regie-Theater gesprochen. Wir vergessen dabei gerne, dass viele der großen, im Gedächtnis gebliebenen Inszenierungen der 70er und 80er Jahre Produkte von Bühnenbildner-Regisseuren waren. Von also exakt jener Spezies, von der Appia die Revolution des Theater erwartete.

Das von Appia so tief empfundene Problem der Diskrepanz zwischen lebenden Menschen und perspektivischen Bühnenbildern wurde auch von anderen mit äußerster Heftigkeit empfunden. Die Maininger zum Beispiel setzten im Bühnenhintergrund als Erwachsene verkleidete Kinder ein, um das Problem zu minimieren. Appias Revolte richtete sich nicht nur gegen solche Absurditäten des Naturalismus, sondern gegen diesen selbst. Er war gegen täuschend echte Bühnenbilder und für den realen Raum der Bühne mit realen Gegenständen, nicht um des Realismus willen, sondern weil es ihm darum ging, den Schauspieler in seinem Bemühen, das Innere des Textes, der Musik sichtbar zu machen, zu unterstützen. Appias Theater strebt durch die Monumentalität hindurch - darin ist er ganz Wagnerianer - die innigste Intimität an.

Das Licht, das versteht sich jetzt von selbst, ist für Appia der zentrale Bühnenbildner. Man wird Appia nicht verstehen und die Moderne nicht, wenn man nicht begreift, wie sehr hier alles einem Einzigen untergeordnet wird. Es gibt keine widerstrebenden Tendenzen. Es gibt keine Gegenstimme. Auch das abgelegenste Detail noch soll die zentrale Botschaft des Werkes transportieren. Wenn das klappt, ist es ein Moment äußersten Glückes. Als Programm aber ist es der Versuch der Totalitarisierung.

Richard C. Beacham hat einen prächtigen Band vorgelegt, der Texte von Adolphe Appia wieder zugänglich macht und detailliert über dessen Werk und die Auseinandersetzung darüber informiert. Zahlreiche Abbildungen in s/w und Farbe zeigen, mit welch ruhelosem Fanatismus Appia sein Ziel verfolgte.

Richard C. Beacham: "Adolphe Appia". Künstler und Visionär des modernen Theaters. Mit einem Gespräch mit Robert Wilson über Appia, Licht und Theater. Aus dem Englischen übersetzt von Petra Schreyer und Dieter Hornig. Alexander Verlag, Berlin 2006. 415 Seiten, 122 Abb., davon 32 farbige, 68 Euro. ISBN: 3895811521.


Vorbild Brandenburg

Hätten wir eine kritische Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, die beiden von Ursula Goldenbaum herausgegebenen Bände "Appell an das Publikum - Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687-1796" wären in deren Zentralorganen breit besprochen worden. Nicht nur, weil Ursula Goldenbaum mit einigen seit Jahrzehnten gepflegten Vorurteilen über den deutschen Sonderweg, die verspätete Aufklärung, aufräumt, sondern weil sie uns zeigt, wie Öffentlichkeit funktioniert und wie selbst die Reflexion über sie dazu dienen kann, ihre Herstellung zu verhindern. Abgesehen davon bekommt sogar das zentrale Thema der Auseinandersetzungen von vor 300 Jahren - die Neubestimmung von Glauben und Vernunft sowie des Verhältnisses der beiden - eine nahezu brisante Aktualität, wenn man an die Regensburger Rede des Papstes denkt. Die ja auch nur eine Antwort auf die viel materieller geführte Debatte in der muslimischen Welt ist.

Gerade was dieses Thema angeht, macht Ursula Goldenbaum klar, wie stark die konfessionelle Vielfalt, die Erfahrung der Differenz, die deutsche Debatte - im Unterschied zur französischen und englischen - prägte. Der konfessionellen Vielfalt entsprach die politische. Das Alte Reich war ja viel differenzierter als die zentralistischen Staaten. Es gab neben den Fürstentümern freie Reichsstädte, die die Bürger - nicht nur mit Kaiser und Fürsten ringend, sondern auch einander bekriegend - seit Jahrhunderten selbst verwalteten. Diese Unterschiede standen jedem, der in Deutschland schrieb, lebhaft vor Augen. Sie waren nicht nur da, sondern sie waren das Material mit dem und das Medium in dem man dachte. Das Bild von Deutschland als einem Land der nach Innen gekehrten, sich um nichts als die Entfaltung des reinen Geistes bemühenden Gelehrten, wurde erst im 19. Jahrhundert gemalt. Es hat mit der Realität des 18., das macht Goldenbaum überdeutlich, nichts zu tun.

Die deutsche Aufklärung war wie alle Aufklärung von Anfang an alles in einem: politisch, theologisch, moralisch, ökonomisch. Gleich zu Beginn ihrer Einleitung, aus der bündig lektoriert ein hübsches Wagenbach-Taschenbuch gemacht werden sollte, schreibt Ursula Goldenbaum: "Während in England und Frankreich die politisch-rechtliche Forderung nach Toleranz der drei christlichen Konfessionen, die die Diskussion seit dem Ende des 17. Jahrhunderts europaweit bestimmte, noch durch das ganze 18. Jahrhundert aktuell blieb, konnte es sich im Alten Reich nur noch um die politisch-rechtliche Durchsetzung der im Westfälischen Frieden bereits verbrieften Rechte der Untertanen auf Toleranz handeln. Auch existierten bereits die rechtlich-politischen Institutionen, die diese Rechte garantieren sollten. In England konnte eine derartige Toleranz gegenüber den Katholiken erst im Laufe des 18. Jahrhunderts durchgesetzt werden, lange nachdem die drohende Rekatholisierung des Landes in den 1680er Jahren abgewendet und die protestantische Herrscherfolge gesichert war. Entsprechend war John Locke, der spätere Autor von 'A Letter concerning Toleration', der in den Jahren 1665/66 als Sekretär einer englischen Gesandtschaft zum Kurfürsten von Brandenburg nach Kleve reiste, sehr beeindruckt von der dort erfolgreich praktizierten brandenburgischen Politik der Toleranz."

Dass es bei den deutschen Aufklärungsdebatten mehr um Gedankenfreiheit als um Toleranz ging, lag, so Goldenberg, also nicht daran, dass der deutsche Michel sich nicht für die Wirklichkeit interessierte, sondern daran, dass es im Alten Reich um die Toleranz deutlich besser stand als in England und Frankreich. Nach der einhundert Seiten langen Einleitung von Ursula Goldenbaum werden in sieben Aufsätzen öffentliche, ganz Deutschland bewegende Debatten der Zeit vorgestellt. Im Zentrum steht eine 320 Seiten lange Abhandlung über den "Skandal der Wertheimer Bibel". Ostern 1735 erschien "Die Göttlichen Schriften vor den Zeiten des Meßias Jesus 1ster Theil, welcher die Gesetze der Israeliten in sich begreifet. Nach einer freyen Übersetzung, welche durch und durch mit Anmerkungen erläutert, und bestätiget wird".

Autor dieser Übersetzung der fünf Bücher Mosis war Johann Lorenz Schmidt. (Der gleichnamige Autor von Büchern über Entwicklungsländer und Internationale Konzerne hieß in Wahrheit Laszlo Radvanyi und war von August 1925 bis Juli 1978 der Gatte von Anna Seghers, die in Wahrheit Netty Reilling hieß.) Das Buch war sehr aufwändig auf teurem Papier, mit eigens gegossenen Lettern gedruckt worden. Also ganz sicher nicht die klandestine Aktion eines Einzelnen, sondern der von einer auch finanzkräftigen Klientel gestartete Versuch, eine Bibel zu schaffen, die Anschluss hielt an die aktuelle aufklärerische, an die Wolffsche Philosophie. In seiner Vorrede stellt der Autor klar, dass er davon ausgehe, dass es keine göttlichen Geheimnisse gebe, die der menschlichen Vernunft grundsätzlich verschlossen blieben, vielmehr sei gerade diese Annahme über Jahrhunderte ein mächtiges Hemmnis für den Fortschritt der Wissenschaften gewesen.

Goldenbaum zeigt, wie sich gerade in der Debatte um die Wertheimer Bibel - sie wird so nach ihrem Druckort, dem fränkischen Wertheim am Main genannt - theologisch-religiöse und politische Interessen zusammentun, um den Versuch, einer auf die Vernunft gegründeten Gottesgelehrsamkeit zu torpedieren. Vier Jahre lang geht der Streit, dann ist die Bibel, deren Erstauflage 1600 Exemplare betrug, definitiv verboten. Den späteren Jahrhunderten galt sie, ganz im Ton ihrer pietistischen Kritiker, als gemütsarm, kalt-rationalistisch.

Aber sicher hat die Obrigkeit den Übersetzer nicht darum gefangen gesetzt, weil er die Bibel nicht warmherzig genug ins Deutsche übertragen hatte. Man bekommt eine Ahnung von der Energie dieser frühen deutschen Aufklärer, wenn man erfährt, dass Schmidt noch aus der Haft heraus einen Sammelband edierte, der in 42 Beiträgen Stimmen Pro und Contra seine Bibelübersetzung vorstellte. Das war nicht nur taktisch gemeint, sondern zum aufklärerischen Selbstverständnis gehörte auch schon damals - soviel zur Korrektur der Chronologie des Habermas'schen "Strukturwandels der Öffentlichkeit" -, dass über wahr und falsch triftig erst in einem öffentlich vorgetragenen Austausch der Argumente entschieden werden kann.

Man liest diese heute vergessenen Geschichten über vergessene Männer und Frauen mit zunehmender Bitterkeit. Menschen und Geschichten wurden nämlich nicht einfach vergessen. Sie wurden im Leben geächtet, nach ihrem Tode von den Siegern hinausgeworfen aus der Überlieferung. (Laszlo Radvanyi aber erinnerte sich an Johann Lorenz Schmidt und wollte uns an ihn erinnern.) Es wird lange dauern, bis wir begreifen, dass die Gewalt, die einem Johann Lorenz Schmidt angetan wurde, auch uns angetan wird, indem sie beiträgt zu unserer Dummheit nicht nur über das, was war, sondern auch über das, was anders hätte sein können und noch immer werden könnte. Ursula Goldenbaums "Appell an das Publikum" ist eine Einladung umzudenken: nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über die Zukunft.

Ursula Goldenbaum: "Appell an das Publikum". Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687-1796. Mit Beiträgen von Frank Grunert, Peter Weber, Gerda Heinrich, Brigitte Erker und Winfried Siebers. Akademie Verlag, Berlin 2005, 970 Seiten, 2 Bände, s/w-Abbildungen,158 Euro. ISBN: 3050038802.