Magazinrundschau

Wie eine unendliche Artischocke

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
13.06.2023. Die New York Review of Books stellt die machthungrigen jungen Wölfe in Afghanistan vor, die dem herrschenden Emir Mullah Hibatullah Akhundzada gefährlich werden könnten - alle mit besten Beziehungen zu den Golfstaaten, Pakistan und Al Qaida. Der New Yorker erzählt, wie lebensgefährlich eine Mitgift für junge Ehefrauen in Indien sein kann. In Novinky erklärt der Sozialanthropologen Martin Tremčinský, warum auch der Nationalstaat eine Art Technologie ist. New Lines erzählt die Geschichte des Handels mit Pfeffer. Die New York Times lässt sich von Merlin Sheldrake erklären, wie man ein Pilz wird.

New York Review of Books (USA), 22.06.2023

Ganz so pragmatisch wie Hassan Abbas es in "The Return of the Taliban" vorschlägt, würde Steve Coll zwar nicht mit den Herrschern in Kabul umgehen wollen, aber in dem gut informierten Buch lernt er gleichwohl, dass die internationale Kritik an der Unterwerfung der Frauen den Taliban herzlich egal ist. Die Macht ihres Emirs Mullah Hibatullah Akhundzada können höchstens die machthungrigen jungen Wölfe gefährden, etwa Innenminister Sirajuddin Haqqani, dessen Familie enge Beziehungen zu Saudi-Arabien, dem pakistanischen Geheimdienst und Al Quaida hat. "Ein weiterer vermeintlicher Jungtürke im Taliban-Kabinett ist der Verteidigungsminister Mullah Jakub Mudschahid, der Anfang dreißig und ein Sohn von Mullah Omar ist. Gegenüber Steve Inskeep von NPR sagte er letztes Jahr, es sei 'offensichtlich', dass er bessere Beziehungen zu den USA wolle. Als aufstrebender Spross einer bekannten Familie gehört er zu einer Klasse von dynastischen Politikern, die in ganz Südasien bekannt sind. Bei einem offiziellen Besuch in Katar im vergangenen Jahr wurde er fotografiert und wirkte an Bord seines Regierungsjets und bei Gesprächen mit katarischen Führern sehr entspannt. Zu Beginn dieses Jahres machte auch Yakub Bemerkungen, die als indirekte Kritik an Hibatullah angesehen wurden. Abbas vertritt die Auffassung, dass die 'Kampflinien' zwischen den 'relativ pragmatischen Taliban in Kabul und ihren äußerst konservativen Kollegen' in Kandahar gezogen sind. Bisher hätten die Spaltungen allerdings nur zu einer 'politischen Lähmung' geführt."

Novinky.cz (Tschechien), 08.06.2023

Zbyněk Vlasák hat sich auf der Prager Buchmesse Svět Knihy mit dem Sozialanthropologen Martin Tremčinský über den Einfluss der neuen Technologien - Künstliche Intelligenz, Cloud-Communities oder Kryptowährungen - auf das Verständnis vom Nationalstaat unterhalten. Zunächst einmal, so Tremčinský, sei auch der Nationalstaat eine Art Technologie, eine Technologie der Macht, der Verteilung von Entscheidungsprozessen. Und so wie der Staat und seine Beamten weder unparteiisch noch objektiv, sondern immer politisch geprägt seien, seien auch die Technologien nicht unpolitisch: "Obwohl Cloud-Communities oder Kryptowährungen sich unabhängig und unpolitisch geben, fordern auch sie den Menschen, den User zu einem bestimmten Blick auf die Welt auf. Für Kryptowährungen ist es typisch, alles als austauschbare Ware zu begreifen - etwas, was der Staat nicht ermöglicht. Ich kann meinen Namen, meine Individualität nicht verkaufen. Die Kryptowährungen erweitern jedoch den Wirkungskreis des Warenkonzepts auch auf die Sphäre des Soziallebens, wo diese Logik früher nicht gegriffen hat. Und das ist schon für sich ein Politikum. Die Subjektivität, die der Staat zu erschaffen versucht hat und die uns Rechte und Pflichten garantiert, ist die Subjektivität des Bürgers. Die ist in den letzten vierzig Jahre aber beträchtlich korrodiert. Wir geraten weit mehr in eine neoliberale Subjektivität des Verbrauchers oder Kunden. Doch auch dieses System beginnt sich zu erschöpfen, und es gibt Versuche, es zu ersetzen. Die populistischen Bewegungen zum Beispiel sprechen von einer ethnischen Subjektivität, von einer Rückkehr zum nationalen Staat. Und auf der anderen Seite gibt es die Bemühung, die Subjektivität des Kunden durch das Delegieren an technologische Lösungen zu bewahren." Als zukünftige Entwicklungen kann sich Tremčinský verschiedene Szenarien vorstellen. "Noch vor zehn, fünfzehn Jahren war überall das Mantra zu hören, es sei leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als ein Ende des Kapitalismus. Das stimmt nun nicht mehr. Heute können sich die meisten Sozialwissenschaftler ein Ende des Kapitalismus vorstellen. Was jedoch etliche von ihnen in der Nachfolge sehen, ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt in den sogenannten Technofeudalismus", mithin die Vorstellung, "dass sich ein bedeutender Teil der Entscheidungsmacht von den schwächer werdenden Nationalstaaten auf die großen technologischen Firmen und Plattformen verschiebt."
Archiv: Novinky.cz

New Yorker (USA), 12.06.2023

Patriarchale Strukturen, Misogynie und Sexismus prägen die Gesellschaft Indiens und doch reicht keiner dieser Begriffe aus, die Bedingungen zu fassen, unter denen die Frauen leben müssen, von denen Manvir Singh berichtet. Die mutmaßliche Ermordung ihrer Cousine Neeti durch deren Schwiegerfamilie - ihnen reichen die immer noch andauernden Aussteuer-Zahlungen des Brautvaters nicht aus - nimmt sie zum Anlass, sich das Mitgift-System in Indien anzuschauen. Trotz eines vor sechzig Jahren erlassenen Verbots floriert es noch immer - zum Nachteil der Frauen, für deren Verheiratung in vielen Fällen eine absurd hohe Mitgift gezahlt werden muss. Sie "befeuern zwei Arten von Gewalt. 'Wenn zu viele Mädchen geboren werden, kommt es zum weiblichen Infantizid', hat eine junge Frau aus dem ländlichen Tamil Nadu 2005 einer Forschergruppe erzählt. 'Wenn es zu viele Mädchen gibt, gibt es auch zu viele Hochzeiten und zu viele Probleme mit der Mitgift.' Darüber hinaus haben Erwartungen an die Beigaben Ehemänner und deren Familien ermuntert, Frauen zu misshandeln, um Zahlungen zu erzwingen. Einer UN-Studie zufolge sind vierzig bis fünfzig Prozent der Morde an Frauen in Indien die Folge aus Streits um die Mitgift. Auch Neetis Tod könnte dazuzählen." Obwohl geschätzt ein Viertel bis die Hälfte der indischen Frauen von ihren Ehemännern misshandelt werden, liegt die Scheidungsrate bei nur etwa einem Prozent, erzählt Singh. "Diese Normen sind tief verwurzelt. Sowohl global gesehen als auch auf dem indischen Subkontinent scheint es so, dass Frauen überall dort schlechter behandelt werden, wo ihre Arbeit nur eine niedrige Wertschätzung erfährt. Eine Region, die von Pfluglandwirtschaft geprägt ist - diese Arbeit profitiert von männlich codierten Zügen wie Griff- und Oberkörperkraft und genereller Körperstärke - tendiert zu einem schiefen, männlich dominierten Geschlechterverhältnis und niedriger Beteiligung von Frauen an der Gesamtarbeitskraft. Im Nordwesten Indiens, der Heimat meiner Familie, wo der Pflug die Felder dominiert, fasst ein Sprichwort dies so zusammen: 'Wer kann zufrieden sein ohne Regen und Sohn? Für die Kultivierung braucht es beides.' Ein anderes ist noch direkter: 'Wessen Sohn stirbt, der ist glücklos. Wessen Tochter stirbt, der kann sich glücklich schätzen.'"

In einer sehr lesenswerten Reportage beschreibt Dexter Filkins das Chaos an der amerikanischen Grenze im Süden der USA. Der gewaltige Zustrom illegaler Immigranten überfordert inzwischen viele Gemeinden und Städte, obwohl die USA gleichzeitig Arbeitskräfte brauchen. Aber das Einwanderungssystem ist inzwischen vollkommen dysfunktional. Das zu ändern, daran haben vor allem Republikaner kein Interesse, weil sie damit Wahlkampf machen können. Aber es gibt auch Ausnahmen, wie der texanische Kongressabgeordneten Tony Gonzales, ein Republikaner, und sein politischer Gegner, der Demokrat Henry Cuellar beweisen: "Gonzales' Verbündeter Cuellar, ein texanischer Landsmann, sagte mir, dass die örtlichen Wähler einen Kongressabgeordneten mit einem praktischen Ansatz für die Arbeit wollten. 'Als ich Tony kennenlernte, ging er durch das Plenum, kam auf mich zu und sagte: Lassen Sie uns zusammenarbeiten, erinnerte sich Cuellar. 'So sollte es sein.' Im Prinzip ist ein legislativer Kompromiss zur Einwanderung nicht schwer vorstellbar: strengere Sicherheitsvorkehrungen an der Grenze, eine republikanische Priorität, im Austausch für eine erweiterte legale Einwanderung, eine demokratische Priorität. Doch die Aussicht auf eine Einigung hat sich in der gegenseitigen Feindseligkeit aufgelöst, die für die Politik im Kongress typisch ist."

Weitere Artikel: Lauren Collins porträtiert die finnische Performance-Künstlerin Pilvi Takala. Amanda Petrusich kommt ziemlich beeindruckt aus einem Taylor-Swift-Konzert. Alex Ross stellt die Komponisten Salvatore Sciarrino und Kaija Saariaho vor. Parul Sehgal liest Lorrie Moores Roman "I Am Homeless if This Is Not My Home". Und Keith Gessen liest einige Bücher über Russland und den Westen nach dem Ende des Kalten Krieges.
Archiv: New Yorker

HVG (Ungarn), 08.06.2023

Der Animationsfilm "27" der in Frankreich lebenden Filmemacherin Flóra Anna Buda gewann beim diesjährigen Filmfestival in Cannes in der Kategorie Kurzfilm die Goldene Palme. Unter den zahlreichen Gratulanten tat sich das Nationale Filminstitut hervor, das die Förderung des Films dreimal abgelehnt und - obgleich "27" der einzige ungarische Beitrag in Cannes war - sich nicht mal am Marketing beteiligt hatte. Im Gespräch mit Dóra Matild erzählt die Regisseurin, wie sie diesen Konflikt erlebte und warum sie weiterhin in Frankreich lebt und arbeitet. "Statt uns zu freuen, müssen wir darüber sprechen, was es nicht gab, denn eine ungarische Filmförderung gibt es gegenwärtig quasi nicht. Dabei hätten wir auch darüber sprechen können, was es gibt. Dieser Film hat eine ungarische Produktionsfirma, Boddah; er hat zwei ungarische Produzenten Gábor Osváth und Péter Benjámin Lukács: die Filme konnten nur entstehen, weil sie ihr eigenes Geld riskieren und damit wiederholt erfolgreich bei Filmfestivals waren. Obgleich es auch richtig ist, dass man manchmal Konflikte braucht, um Sachen aussprechen zu können. (...) Ich würde gerne für den Wandel kämpfen, doch gegenwärtig kann ich nur hier in Frankreich Filme machen, die die Situation in Ungarn reflektieren."
Archiv: HVG

London Review of Books (UK), 12.06.2023

Kevin Okoth resümiert zwei interessante Bücher über den Kalten Krieg, der nach der Unabhängigkeit der afrikanischen Länder ein unüberschaubares Geflecht an politischen Morden, ideologischer Zersplitterung und Geheimdienstaktionen von CIA und KGB zur Folge hatte: Während Susan William mit "White Malice. The CIA and the Neocolonisation of Afrika" auf den Einfluss Washingtons blickt, schildert Natalia Telepneva in "Cold War Liberation", wie sich Moskau den Zusammenbruch des portugiesischen Kolonialreichs zunutze machen - zumindest bis einige Befreiungsbewegungen nach Moskaus Bruch mit Peking ins maoistische Lager wechselten. Beide Historiker verfolgen mit Bitterkeit, wie der Ruf nach Freiheit und Unabhängigkeit in neokolonial autoritären Regimes endete: "Zum Beispiel in Mosambik, wo die von Eduardo Mondlane gegründete Frelimo bis 1975 gegen die Kolonialmacht Portugal kämpfte: "Die diplomatische Lage wurde immer schwieriger: Moskau beschloss, der Partei wegen Mondlanes mutmaßlicher CIA-Verbindungen die Finanzierung zu entziehen, und Peking verhandelte mit der Frelimo nur über Tansanias Präsidenten Julius Nyerere. Ghanas Kwame Nkrumah, der Hilfe hätte anbieten können, war 1966 durch einen von der CIA unterstützten Putsch abgesetzt worden. Washington hatte daraufhin jegliche Unterstützung eingestellt. Amilcar Cabral aus Guinea-Bissau sah sich auch mit einer Revolte in seiner Partei, der PAIGC, konfrontiert. Wie Telepneva erklärt, waren viele afrikanische Studenten vom Kommunismus desillusioniert, nachdem sie während ihres Studiums im Ostblock rassistische Übergriffe erlebt hatten. Mehrere Studenten mit PAIGC-Stipendien schlossen sich 1963 einer Welle antirassistischer Proteste an, die Moskau (und Cabral) überraschten. Ihre Kritik richtete sich jedoch nicht so sehr gegen die Sowjets, sondern - wieder einmal - gegen die eigene mestizisch-assimilierte Führung. Sowohl die Frelimo als auch die PAIGC reagierten darauf, indem sie die Stipendien der Studenten aussetzten und eine Kampagne gegen sie starteten. Unterdessen schien Chinas antisowjetische Taktik aufzugehen. In Tansania verbreitete die Jugendliga TANU nach dem Vorbild der Roten Garde antisowjetische Propaganda. Selbst Nkrumah hatte sich auf eine pro-chinesische Position verlegt. Cabral weigerte sich jedoch, die Sowjets ins Abseits zu stellen, was zu einem Abbruch der Beziehungen zwischen China und der PAIGC führte."

James Butler preist zudem einen Band mit den quecksilbrigen Essays von Italo Calvino, in denen der italienische Schriftsteller mit Hingabe eher abseitige Phänomene erkundete, wie etwa die Binarität im I Ging und bei Leibniz oder die Ökonomie der Tränen bei Homer und Darwin: "Die Wirklichkeit stellt sich ihm 'als vielfältig, stachelig und als dicht übereinanderliegende Schichten' dar; die Literatur ermöglicht, 'sie wie eine unendliche Artischocke immer weiter zu entblättern'. Diese Metapher taucht in einem Essay über Carlo Emilio Gadda auf, einem Schriftsteller, der sich der unendlichen Welt durch kurvenreiche Abschweifungen nähert; Calvino nähert sich der gleichen Welt durch Kürze und Präzision."

New York Times (USA), 08.06.2023

Ah, die Welt kann so glamourös sein. Selbst ein Buch über Pilze kann Modeschöpferinnen dazu bringen, ganze Kollektionen ihnen zu Ehren zu entwerfen (wunderbare Bilder aus der Kollektion von Iris van Herpen 2021) und Hermès mit Leder aus ihren Stoffwechselprodukten (Bild) experimentieren zu lassen. Das Buch muss allerdings von dem elfenhaften Merlin Sheldrake, einem klugen Zauberwesen aus Britanniens Countryside geschrieben sein, selbst eine verwobenen Existenz, denn seine Brüder, mit denen er so eng verbunden ist wie ein Pilz mit sich selbst, brillieren als Musiker, und Dichter und seine Schwägerinnen als Keramerikerinnen. Und alle leben in umgebauten Kirchen, die aussehen wie ein Traum aus dem Architectural Digest. "Entangled Life" ("Verwobenes Leben") hieß sein Buch, das auch in Deutschland begeisterte Kritiken erhielt, ohne merklich zum Kultbuch aufgestiegen zu sein - aber jetzt vielleicht. Viele Bücher sind in letzter Zeit über Pilze erschienen, schreibt Jennifer Kahn in ihrem Porträt des Autors, alles respektable Monografien. Aber "Sheldrakes eigenes Bestreben ist sowohl träumerischer als auch ehrgeiziger - er möchte, dass wir die Welt und unseren Ort darin anders sehen. Eine Sehnsucht zieht sich durch 'Entangled Life', der Wunsch, mit diesen fremden Lebewesen zu verschmelzen, die die Welt mit Millionen von Ranken, den Hyphen, erkunden, von denen jede gleichzeitig als unabhängiges Gehirn, Mund und Sinnesorgan funktioniert. Wir bilden uns ein, Individuen zu sein, stellt Sheldrake fest, obwohl wir in Wirklichkeit Gemeinschaften sind, deren Körper so sehr von Mikroben bewohnt werden und von ihnen abhängig sind, dass schon der Begriff der Individualität bizarr erscheint. Warum denken wir an ein 'Ich', wo es doch richtiger wäre, uns als ein wandelndes Ökosystem zu bezeichnen?" Wie es wäre ein Pilz zu sein, werde Sheldrake zuweilen gefragt: "Stell dir vor, du hättest keinen Kopf, kein Herz, kein Operationszentrum", setze er dann an. "Du könntest mit deinem ganzen Körper schmecken. Du könntest ein Fragment deines Zehs oder deines Haares nehmen und daraus würde ein neues Du wachsen - und Hunderte dieser neuen Dus könnten zu einer unvorstellbar großen Einheit verschmelzen." Ozeanisch.

Ebenfalls im New York Times Magazine porträtiert Nicholas Casey den spanischen Spitzel José Manuel Villarejo Pérez, der einiges zum Fall des Königs Juan Carlos beitrug.
Archiv: New York Times

Elet es Irodalom (Ungarn), 09.06.2023

Das diesjährige landesweite Buchfestival fällt mit dem Petőfi-Erinnerungsjahr zusammen. Sándor Petőfi, Dichter der Romantik gilt als eine der bedeutendsten Figuren der ungarischen Lyrik, sowie als Ikone der Freiheitskämpfe von 1848/49. So wurde das Buchfestival mit einer Rede des Literaturwissenschaftlers und Petőfi-Experten István Margócsy eröffnet, den Elet es Irodalom publiziert. Er plädierte er bei aller Liebe und (kurzfristigen) Begeisterung für den Dichter für ein distanzierteres Wiederlesen des vielfältigen Werks Petőfis: "Wir kommen Petőfi näher, wenn wir sein Lebenswerk nicht als besonderen Fall der ungarischen Literatur behandeln, sondern als normale Erscheinung, wenn wir ihn als einen großen Dichter unter den vielen Größen der ungarischen Literatur sehen. Denn zum normalen Funktionieren der Literatur gehört eben auch, dass wir Größe nicht als Flagge, nicht als Parole wirken lassen, sondern als formelle und informelle Anerkennung - zwischen Interpretationen und Anzweiflungen."

New Statesman (UK), 07.06.2023

Die Stadt Marseille droht im Chaos zu versinken, konstatiert der britische Autor Andrew Hussey. Zwar büßen die Sehenswürdigkeiten der Stadt, zum Beispiel die Notre-Dame de la Garde, nichts von ihrem Charme ein, so Hussey - doch viele Stadtteile müssen sich mit einer steigenden Zahl von Drogenbanden herumschlagen, die immer brutaler vorgehen. Präsident Macron versucht, die Kriminalität mit Hilfe von Spezialeinheiten einzudämmen, war damit aber bisher nicht erfolgreich. Gleichzeitig sieht Hussey in Marseille, das "schon immer seine kriminelle Kultur mythologisiert hat", eine falsche Nostalgie blühen: Da wird das "Goldene Zeitalter" der Bandenkriminalität im 20. Jahrhundert verklärt und die Eigenständigkeit gegenüber Paris betont. Diese Einstellung prägt auch einige neue Serien über das aufregend gefährliche, kriminelle Marseille. Angesichts der Machtverhältnisse heutzutage findet Hussey das nicht mehr zeitgemäß: "Dieses sogenannte 'Goldene Zeitalter' ist lange schon verblichen. Heutzutage ist Marseille - insbesondere das quartier nord - das Lehnsgut von Drogenlords, viele von ihnen aus Nordafrika, die ihr Geld außerhalb von Frankreich für luxuriöse Villen in Marokko, Spanien oder der Schweiz ausgeben, während sie die Stadt ihren verfeindeten Fußsoldaten überlassen. Die Polizei, verdorben durch die Korruption, ist weder in der Lage, die Anführer der Banden zu schnappen, noch die internen Kleinkriege der Banden untereinander zu stoppen. Auch den zusätzlichen Eliteeinheiten aus Paris, die von Macron finanziert wurden, ist es nicht gelungen, diesen trostlosen Kreislauf zu durchbrechen."
Archiv: New Statesman
Stichwörter: Marseille, Marokko, Notre Dame

New Lines Magazine (USA), 09.06.2023

Ein interessantes Bild zeichnet der Beiruter Autor Anthony Elghossain im New Lines Magazine vom Handel mit dem "weltweit am meisten unterschätzten und bedeutendsten Gewürz" - Pfeffer. Pfeffer dominierte schon tausende Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung den globalen Handel, der damals bekannten Welt, erzählt uns Elghossain ausführlich. Die Händler aus dem Orient berichteten den Christen, dass dieses Gewürz "hinter einem Wasserfall wächst und von einem Drachen bewacht wird" und glaubten selbst, dass es sich bei Pfeffer um die "Tränen Adams" handele, der aus dem Paradies verbannt worden war. Dabei wuchs das Gewürz in Indien, in der Gegend des heutigen Kerala. Der Handel mit Pfeffer ermöglichte interkulturellen Austausch, führte zu Kriegen über die Handelsrouten und machte den Aufstieg Portugals zur Weltmacht, zumindest für einen kurzen Moment, möglich: "Alle, von den Römern und Byzantinern bis zu den Malabaren und Javanern, haben das schwarze Gewürz auf dem Weg nach oben gesammelt und auf dem Weg nach unten weitergereicht, so als wollten sie ihren Aufstieg markieren und ihren Fall mit Pfeffersäckchen abmildern, um Hauptstädte zu retten, Gunst zu erheischen oder ihre Ehrerbietung mit dem Geschmack der Diplomatie zu würzen. Wenn Pfeffer ein Symbol für große Errungenschaften und Katastrophen war, so war er auch ein Wegweiser für die längeren, subtileren Abschnitte der Geschichte - und das nicht nur in den westlichen Hauptstädten, von denen aus man manchmal Macht, Bedeutung oder Einfluss auf die Geschichte projizierte. ... Mythen mal beiseite, auf dem Höhepunkt von Kriegen, inmitten von Plünderungen und in den Jahrzehnten nach kaiserlichen Eroberungen handelten die Kaufleute im Mittelmeerraum miteinander - ob Christen oder Muslime, Italiener, Griechen oder Araber."

Andrei Popoviciu berichtet über die kritische Situation im Senegal, wo  Präsident Macky Sall eine - verfassungswidrige -  dritte Amtszeit anstreben soll. Jedenfalls hat er bereits mehrere Oppositionspolitiker einsperren lassen. Zuletzt wurde auch Ousmane Sonko verurteilt, sein aussichtsreichster und jüngster Gegner: Die Angestellte eines Schönheitssalons hatte ihm vorgeworfen, sie sexuell belästigt zu haben: "Sonko wurde letzte Woche vom Gericht von den Vorwürfen der Vergewaltigung und der Morddrohung freigesprochen, aber er wurde zu einer zweijährigen Haftstrafe wegen 'Korrumpierung der Jugend' und 'Anstiftung zur Ausschweifung' verurteilt, also zu geringeren Anschuldigungen im Zusammenhang mit Sarrs Vorwürfen, die aber doch zu einer Strafe führte, die es ihm effektiv verbietet, bei den Wahlen im Februar nächsten Jahres zu kandidieren." In der Folge kam es zu gewalttätigen Demonstrationen, aber auch zu einem unguten Backlash für die mühsam erkämpften Frauenrechte: "Sarrs Anschuldigungen haben eine langjährige Debatte über sexuelle Gewalt und Einwilligung im Senegal wiederbelebt, der Vergewaltigung erst 2020 auf Druck der Zivilgesellschaft und trotz des Widerwillens der Justiz unter Strafe gestellt hat. Nach zwei Jahren verzögerter Anhörungen trat Adji Raby Sarr am 22. Mai in den Zeugenstand und schilderte detailliert einen sexuellen Übergriff Sonkos. Nach ihrem Auftritt beschuldigten Sonkos Unterstützer sie, mit der Regierung zu konspirieren, und lokale Zeitungen machten aus ihrer Geschichte eine Sensation, nannten sie einen 'Pornostar' und erotisierten ihre Aussage. Sonko sagte, wenn er eine Frau vergewaltigen wolle, würde er sich keinen 'hirngeschädigten Affen' aussuchen, was ihm Kritik von feministischen Organisationen einbrachte, die glauben, dass Sarrs Anschuldigungen ernst genommen werden sollten."

Außerdem: Ola Salem erzählt, wie Saudis Prostitution halal pflegen. Amie Ferris-Rotman schreibt über den Begriff der Gender-Apartheid, den afghanische Frauen prägten.

New York Magazine (USA), 06.06.2023

Die TV-Branche, Streaming und Hollywood stehen komplett in Flammen. Das ist zumindest der Eindruck, den man aus Josef Adalians und Lane Browns epischer, aber in jedem Absatz lesenswerter Reportage über die Krise der Unterhaltungsbranche mitnimmt: Nach der Goldgräberstimmung des Netflix-Booms herrscht in allen Gewerken der Branche und bei den Aktionären Katerstimmung: Die Büchse der Pandora wurde geöffnet, aber ein mittel- bis langfristig funktionales Finanzierungsmodell ist daraus bislang noch nicht gekrochen. Stattdessen läuft der massiv auf Wachstum und Verdrängung setzende Betrieb vor allem auf Basis gigantisch angehäufter Schulden - das Nachsehen haben die Kunden, die den Wald vor lauter Streamingdiensten nicht mehr sehen. Und die Autoren, deren Tantiemen dahinschmelzen wie Butter in der Sommersonne. Beispiel Shawn Ryan, dessen Serie "The Night Agent" Netflix gerade traumhafte Zahlen bescherte, von denen man im klassischen Fernsehen nur träumen konnte. Doch "er wird damit wahrscheinlich weniger Geld machen als mit 'The Shield', seiner Polizeiserie von 2002, auch wenn diese Serie auf dem damals aufblühenden Kabelkanal FX lief und zu keiner Zeit auch nur annäherungsweise Quoten in Super-Bowl-Dimensionen erreichte. 'Das Versprechen lautete einst: Wenn Du der Firma Milliarden bescherst, bekommst Du viele Millionen', sagt er. 'Dieses Versprechen ist dahin.' " Damals bedeuteten "mehr Zuschauer höhere Werbepreise und die größten Hits konnten via Syndikation lizenziert und auf internationalen Märkten verkauft werden." Doch "im Gegensatz dazu laufen bei Streamingserien weniger (oder gar keine) Werbeclips und sie sind typischerweise für immer auf ihre Original-Plattformen beschränkt. Für die Fernsehleute ist die Verbindung zwischen Reichweite und Ertrag gekappt. ... Kombiniert man alle Einnahmequellen fürs lineare Fernsehen, kann ein Studio bei einem Hit für jeden ausgegebenen Dollar drei Dollar Umsatz einholen. Das Problem für Autoren war jedoch, dass die meisten Serien floppten. Es gab also wenig Umsatz im Nachhinein, von dem man sich etwas abschneiden konnte. Streamingdienste boten hier etwas anderes an: Ihr Modell namens 'Cost Plus' bezahlte vielleicht 1,30 Dollar oder 1,50 Doller vorab. Jede Serie ist damit ein Gewinner - nur eben kein sonderlich großer. Um diesen Verlust bei Nachzahlungen auszugleichen, gaben die Streamingdienste leistungsbasierte Anreize: Der Autor Mike Schur beschreibt ein Szenario, bei dem eine Plattform einem Showrunner Boni in Höhe von 100.000 Dollar für die erste Staffel, 250.000 Dollar für die zweite, 500.000 Dollar für die dritte und 1.7 Millionen Dollar für die vierte in Aussicht stellte. 'Heilige Scheiße, denkt man sich da, das ist ja großartig', sagt er. Da war nur ein Haken. Viele für erfolgreich gehaltene Serien verschwanden nach nur ein paar Staffeln. 'Niemand sah kommen, dass sie die Serien einfach abwürgten, bevor sie von diesem Geld etwas auszahlen mussten', sagt er. 'In gewisser Hinsicht haben sie alle reingelegt. Wenn man heutzutage noch 20 Episoden bekommt, ist das ein Wunder.'"