Magazinrundschau

Meine Kunden wollen rote Hosen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
13.11.2012. Die New York Times wirft einen Blick hinter die Kulissen des Konzerns, der die Saisons in der Mode abschaffte. In der New York Review of Books nimmt Timothy Garton Ash endgültig Abschied vom Begriff des Multikulturalismus. Für Dissent gibt es noch andere Sprachen neben der englischen. L'Espresso besucht mit Luca Ferrari die Drogenszene einer römischen Vorstadt. Laut Figaro sollte die französische Literatur ihren Germanopratinismus ablegen. In Film Comment erzählt Judd Apatow das Leben an sich. Und das New York Mag porträtiert den Inspirator der "Neuronovel", Oliver Sacks.

New York Review of Books (USA), 22.11.2012

Mit einigen Jahren Abstand blickt Timothy Garton Ash noch einmal die Debatte um Freiheit und Multikulturalismus zurück und plädiert nunmehr dafür, vom Begriff Multikulturalismus Abschied zu nehmen. Erstens verkenne er die Vielschichtigkeit persönlicher Zugehörigkeiten (Nation, Religion, Sprache, Geschlecht), zweitens sprechen wir auch nicht von Multigenderism oder Multikolorismus, sondern von Gleichheit, und drittens fördere er die Hardliner der Minderheiten: "Gemäß dem Grundsatz, dass wir keine komplizierten Begriffe benutzen sollte, wenn es auch einfache tun, schlage ich 'Freiheit und Vielfalt verbinden' vor. Das heißt nicht, dass Freiheit und Vielfalt gleichrangige Werte der oberen Kategorie sind, wie Frieden und Gerechtigkeit. Zunehmende Vielfalt kann sicherlich Freiheit befördern. Ohne Wahl keine Freiheit. Je mehr Auswahl zwischen verschiedenen Arte zu leben uns vor unserer Großstadt-Tür zur Verfügung stehen, umso größer könnte man sagen sei im Endeffekt unsere Freiheit. In der Praxis kann zunehmende Vielfalt auch eine Gefahr für bestehende Freiheiten sein - sowie für die gesellschaftlichen Praktiken und geteilten Überzeugungen, auf denen diese Freiheiten historisch basieren... Ich schlage daher ein Pentagramm liberaler Tugenden vor: Einbeziehung, Klarheit, Konsequenz, Entschlossenheit und Großzügigkeit."

Ian Johnson rühmt Yang Jishengs Buch "Grabstein" über die große Hungersnot als einen Meilenstein chinesischer Geschichtsaufarbeitung, in seiner Bedeutung vergleichbar nur mit Solschenitzyns "Archipel Gulag": "Im Original 2008 veröffentlicht, ist die chinesische Version von 'Grabstein' inzwischen ein legendäres Buch in China. Man findet kaum einen Intellektuellen in Peking, der es nicht gelesen hat, obwohl es noch immer verboten ist und nur in Hongkong herauskam."

Außerdem: Amy Knight sieht von John B. Dunlop weitere Hinweise dafür erbracht, dass Putins FSB von den Bombenanschlägen auf Moskauer Hochhäuser im Jahr 1999 zumindest vorab informiert war (den die Seite Chechencenter.info ins Netz gestellt hat).

Espresso (Italien), 12.11.2012

In Rom ist gerade Filmfestival. Höchst beeindruckt berichtet Gianluca Di Feo über Luca Ferraris Dokumentarfilm "Pezzi", der die Drogenszene in der staubigen römischen Vorstadt Laurentino 38 schildert - ganz unsentimental, ohne Kommentare des Regisseurs, rau und grau: "Eine langsame und verzweifelte Ballade über Existenzen, die zwischen Drogen und Gefängnis leben, Frauen und Männer, die sich mit einem Leben ohne Hoffnung abgefunden haben. Das wird gleich am Anfang klar, wenn man die Hauptfigur kennenlernt, Massimo, genannt der 'Panter', der unter den Dächern des Plattenbaus seine Gefährtin küsst, ein Graffito mit einem Herzen an der Wand, und sich dann zum Tisch beugt und durch die Nase Kokain einzieht und sagt: 'Das hier ist Laurentino 38, hier spricht man nur von Koks.'"
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Stichwörter: Plattenbau, Ferrari, Kokain

Dissent (USA), 01.11.2012

Lawrence H. Summers, der ehemalige Präsident der Harvard-Universität hat zu Beginn des Jahres ein Studium von Fremdsprachen für überflüssig erklärt - die ganze Welt kommuniziere ja ohnehin auf englisch. Tatsächlich schließen immer mehr amerikanische und britische Bildungsinstitute ihre Fremdspracheninstitute. Paul Cohen widerspricht Summers in Dissent: "Summers' Sprachverständnis ist so utilitaristisch wie sein Ideal von Bildung. Er sieht Sprachen als neutrale Kommunikationsmedien, gleichgültige Vehikel für den Transport von Sinn. Das Medium ist für ihn ganz und gar nicht die Botschaft - und nur die Botschaft zählt, nicht das linguistische System, in dem sie geliefert wird. In solch einer funktionalistischen Konzeption der studentischen Lehrziele ist kein Raum für die Idee, dass klassische oder neue Literaturen ein in sich wertvolles Studienobjekt sind und schon gar nicht für die Vorstellung, dass eine Lektüre in den Originalsprachen etwas Spezifisches und Unerlässliches zum Verständnis hinzufügt."
Archiv: Dissent

Economist (UK), 10.11.2012

Über Obamas Wahlerfolg herrscht beim Economist trotz vorsichtiger Wahlempfehlung im Vorfeld keine uneingeschränkte Freude. Hoffnungen für die zweite Amtsperiode setzt man aber darauf, dass Obama sich schon aus wirtschaftlichen Zwängen mit den Republikanern an einen Tisch setzt, um die Anfang 2013 drohende "Finanzklippe" (mehr) abzuwenden. Allerdings geben die Republikaner selbst kaum Anlass zur Zuversicht: "Die Parteivorsitzenden werden einmal mehr zu dem Schluss kommen, dass sie verloren haben, weil ihr Kandidat kein waschechter Konservativer war, und versprechen, für das nächste Mal ein Original aufzutreiben. ... Wenn die Republikaner sich so verhalten, lassen sie jeglichen Sinn für die Wahlen hinter sich. Sie haben es einmal mehr hinbekommen, eine Wahl in einem Land zu verlieren, in dem die Konservativen die Liberalen an der Zahl noch immer locker übertreffen... Ihre obsessive Haltung zu Abtreibung und Homo-Ehe verliert immer mehr den Rückhalt unter Frauen und jungen Leuten. ... Viele unabhängige Wähler und dieses Magazin sehnen sich nach einer pragmatischeren Partei der Republikaner."

Mit Skepsis beobachtet der Economist außerdem die Vorhaben deutscher und französischer Gesetzgeber, Google per Leistungsschutzrechten für die Verlinkung von Zeitungsartikeln zur Kasse zu bitten. Vermutet wird hinter diesem Vorpreschen der Verlage die Hoffnung darauf, sinkende Einnahmen zu kompensieren: "Doch selbst wenn einige Länder Google dazu bringen könnten, für den Gebrauch von Schlagzeilen und etwas Text von Artikeln zu bezahlen, wird dies kaum das Loch in den Einnahmen ihrer Zeitungen stopfen oder deren Neuausrichtung beschleunigen. Jan Malinowski, ein Medienexperte im Europarat, sagt, der Versuch, Google zum Bezahlen für Artikel zu bringen, 'ist so, als würde man versuchen, Gutenbergs Druckpresse zu verbieten, um die Skriptorien zu schützen.'"
Archiv: Economist

Figaro (Frankreich), 09.11.2012

Der französische Roman leidet an "Germanopratinismus", kritisiert Jean-Francois Colosimo, Präsident des Centre national du Livre und benutzt damit eine in Frankreichgern gebrauchte Schmähvokabel für die rive gauche der Seine. "Der französische Roman bleibt allzu oft selbstbezüglich und im Ausland Expertenkreisen vorbehalten. Kann man sich an die ganze Welt wenden, wenn man nur über sein Dorf spricht - und sei es Saint-Germain-des-Prés?" Der international bekannteste französische Schriftsteller sei zweifellos Michel Houllebecq. "Er wird als Autor ebenso geschätzt wie als Denker. In ihm lebt die Orakel-Funktion fort, die man einst Sartre oder Camus zuschrieb und die man immer noch von Frankreich erwartet."
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Stichwörter: Gauche

Film Comment (USA), 08.11.2012

Ein sehr schönes Gespräch führt Scott Foundas mit Filmproduzent und -regisseur Judd Apatow, der sich in seinen Komödien schon mit diversen Lebenskrisen auseinandergesetzt hat. In seinem kommenden Film "This is 40" finden sich Figuren aus "Knocked Up", seiner Komödie über eine ungewollte Schwangerschaft (unsere Kritik), mitten in der Midlife-Crisis wieder. Warum es in seinen Filmen keine schurkischen Gegenspieler gibt, erklärt Apatow, selbst Mitte Vierzig, so: "Das Leben ist eh schon ziemlich sonderbar. Die Rahmenbedingungen ergeben für mich überhaupt keinen Sinn. Ich werde also für eine Weile leben, und ich werde für eine Weile gut aussehen, dann sehe ich sogar richtig gut aus und dann wird das alles langsam auseinanderfallen. Jahr für Jahr werde ich verfallen, und dann werden all meine Freunde wie die Fliegen sterben, und hoffentlich werde ich nicht der erste sein. Ich werde also aushalten, solange ich kann, hoffentlich ohne meinen Verstand und meine Erinnerungen zu verlieren, während sich meine Kinder um mich kümmern müssen. Es ist so tragisch und bizarr und gleichzeitig wunderbar, dass ich überhaupt nicht weiß, wie ich dem begegnen soll, außer darüber zu lachen." Dazu passend: Ein Audiointerview bei Cargo, das Bert Rebhandl vor einiger Zeit mit Apatow führte.

Außerdem ist Gavin Smith ziemlich beeindruckt von Denzel Washingtons Performance im neuen Film "Flight" - Anlass für ein Porträt des Schauspielers, den Smith vor allem für seine Verkörperung integrer Persönlichkeiten schätzt. Außerdem nimmt Richard Combs die derzeitige Hitchcock-Mania in London zum Anlass, sich das Frühwerk des Meisters nochmals anzusehen.
Archiv: Film Comment

Elet es Irodalom (Ungarn), 07.11.2012

Der Schriftsteller András Bruck bezweifelt, dass die Ungarn in zwei Jahren Ministerpräsident Viktor Orbán abwählen werden - zu sehr wird er von vielen verehrt. Und das trotz einer kläglichen Wirtschaftspolitik und der Verschwendung von EU-Subventionen: "Vielen anderen Ländern ist es gelungen, ihre innere Zwietracht und ihre Manien zu überwinden und vom Nullpunkt wieder hochzukommen. Ein Geheimrezept dafür gibt es nicht. Was aber ganz und gar nicht geht: Geld, das für drei Marshall-Pläne ausreichen würde, verprassen, und dann hochmütig den Geldgeber zu beschimpfen; das halbe Land mit Zierpflaster zu bedecken und dann auf dem schmucken Hauptplatz Arbeitslosengeld zu verteilen. Es bedarf eines Kulturwechsels. Nur haben wir leider weder eine Regierung, die diesen Wechsel in Angriff nehmen, noch eine, die ihn fortsetzen und auch keine Gesellschaft, die ihn mitmachen würde. Ohne dies wird man in Ungarn niemals ein gutes Leben haben. Die Orbán-Ära wird irgendwann zu Ende gehen, aber das, was sie möglich machte, bleibt. Und dann fängt alles von vorne an - dasselbe, nur unter anderem Namen."

New York Magazine (USA), 04.11.2012

David Wallace-Wells schreibt ein sehr schönes Porträt über den Hirnforscher Oliver Sacks, dessen neues Buch "Hallucinations" gerade erschienen ist, und erinnert daran, wie prägend Sacks Bücher - und besonders "Der Mann, der seine Frau mit seinem Hut verwechselte" - für die Literatur der letzten Jahrzehnte waren. "Ein ganzes Feld der Fiktion ist von Sacks' Ideen befruchtet worden. Ian McEwan hat einen Roman zum De Clérambault-Syndrom und einen anderen zu Huntington geschrieben, Rivka Galchen über das Capgras-Syndrom, Jonathan Lethem über Tourette. Marc Roth hat dem Genre den Namen 'Neuronovel' gegeben, und die britische Autorin A.?S. Byatt hat vorgeschlagen, Gehirn-Scans nach dem Sinn von Poesie abzusuchen - und warum auch nicht, da wir doch nach dem Sinn des Lebens in ihnen suchen."

HVG (Ungarn), 03.11.2012

Kürzlich wurde in Ungarn die Eidesformel für ungarische Rechtsanwälte um eine Passage ergänzt, die vom Rechtsanwalt verlangt, seine Tätigkeit "zum Wohle der Nation" auszuüben. Ernö Kardos fragte den Vorsitzenden der ungarischen Rechtsanwaltskammer, János Bánáti, ob dadurch die Autonomie des Rechtsanwalts, der ja in erster Linie die Interessen seines Mandanten zu vertreten hat, infrage gestellt sei. "Jede Arbeit, ob intellektuell oder physisch, dient indirekt den Interessen der Nation. Würde man aber die Eidesformel wortwörtlich interpretieren, könnte ich leicht des Antipatriotismus bezichtigt werden: Wenn beispielsweise das Finanzamt ein ausländisches Unternehmen mit einer Steuer in Millionenhöhe belegt und ich als Vertreter dieses Unternehmens ein internationales Gericht anrufe, dann würde ich mit den Interessen der ungarischen Gesellschaft und der Regierung in Konflikt geraten. In solch einer Situation könnte man die Gesellschaft sehr leicht gegen die Rechtsanwälte aufwiegeln."
Archiv: HVG
Stichwörter: Hvg

Westword (USA), 01.11.2012

"Wie der Staat zum Pot kam" überschreibt William Breathes seinen weit ausholenden Bericht über die Geschichte vom Umgang mit Haschisch im amerikanischen Bundesstaat Colorado - der das Kraut gerade per Volksentscheid legalisiert hat. Akribisch erzählt er nach, wie es Zusatzartikel 64 - straffreier Besitz von einer Unze (23 Gramm) Haschisch ab 21 Jahren - überhaupt zur Abstimmung schaffte. "Ehrlich gesagt sind sich die Haschisch-Befürworter im Staat dem Anschein nach nie über irgendetwas einig, außer dass Haschisch toll ist - und selbst dann ist es unwahrscheinlich, dass sie das jemals unisono sagen würden, ebenso wenig wie sie sich einig sind, wie man es konsumieren soll." In einem zweiten Artikel blickt Breathes auf seine bislang dreijährige Karriere als erster Cannabis-Kritiker der Vereinigten Staaten zurück.
Archiv: Westword

Guardian (UK), 28.10.2012

Am 16. November beginnt in der BBC eine neue Serie des legendären Tierfilmers Sir David Attenborough aus: "Attenborough: 60 Years in the Wild". Aus diesem Anlass porträtiert Robin McKie den inzwischen 86-Jährigen, der in früheren Jahren schon mal einen Ameisenbären am Schwanz packte, um ihn filmen zu können (was er heute bereut), und unlängst als Pionier eine TV-Serie in 3D produzierte. "Der wirkliche Wandel in in unserem Blick auf die Natur verdankt sich jedoch nicht Fortschritten in der Fernsehtechnik, sondern wurde durch wissenschaftliche Umwälzungen bewirkt, besonders auf den Gebieten der Biologie und Geologie. Das waren die wirklichen Veränderer, glaubt Attenborough. 'Wir vergessen gern, was wir in den letzten sechzig Jahren gelernt haben. Auf der Universität habe ich einmal einen meiner Dozenten gefragt, warum er uns nichts über den Kontinentaldrift erzählt. Da bekam ich die spöttische Antwort, wenn ich beweisen könne, dass es eine Kraft gibt, die imstande ist Kontinente zu verschieben, würde er vielleicht darüber nachdenken. Dieser Gedanke sei Blödsinn, bekam ich mitgeteilt.'"
Archiv: Guardian
Stichwörter: Geologie, Tierfilm

New York Times (USA), 09.11.2012

Suzy Hansen wirft einen faszinierenden Blick hinter die Kulissen der Modekette Zara und besucht das Hauptquartier der Holding Inditex, die inzwischen der größte Kleidungsfabrikant der Welt ist - weit vor H & M. Der Konzern logiert im spanischen Städtchen La Coruna und ist eine der wenigen Kraftquellen der spanischen Wirtschaft. Geheimnis des Erfolgs ist eine Produktion, die sich so schlank wie möglich den Kundenwünschen anpasst und den Rhythmus der Saisons längst aufgegeben hat: Alle 5.900 Läden in 85 Ländern werden zweimal wöchentlich mit Kleidung beliefert. Das Unternehmen verzichtet auf jede Werbung, selbst die PR-Person, die Hansen durch das Werk begleitet, will anonym bleiben: "Der Hauptsitz von Zara ist ein riesiger Raum, groß wie ein Flugzeug-Hangar. Die regionalen Sales Manager sitzen an einer Reihe von Schreibtischen, auf beiden Seiten flankiert von Designern. Die Manager beantworten Anrufe aus China oder Chile und lernen so, was sich verkauft. Dann setzen sie sich mit den Designern zusammen und entscheiden, ob neue Trends entstehen. Auf diese Weise nimmt Inditex der ganzen Welt den Modepuls. 'Ein Manager mag sagen: 'Meine Kunden wollen rote Hosen', und wenn die selbe Nachfrage aus Istanbul, Tokyo und New York kommt, dann haben wir einen globalen Trend, und wir wissen, dass wir mehr rote Hosen produzieren müssen."

Im Book Magazine bespricht Jill Abramson die große Thomas-Jefferson-Biografie von Jon Meacham.
Archiv: New York Times