Heute in den Feuilletons

Der Graf von Sandwich war in Gefahr

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.02.2012. "It's over, Facebook", ächzt Readwriteweb und wirbt für eine immer breitere Bewegung von Facebook-Abtrünnigen. David Cameron könnte als der britische Politiker in die Geschichte eingehen, unter dem Schottland von Großbritannien und England von der EU abfielen, meint Timothy Garton Ash im Guardian. Die NZZ zitiert eine Meldung aus ihrem Archiv vom 24. Brachmonat 1780, die später auch in einem Dickens-Roman verarbeitet wurde. Und in der FR warnt Götz Aly vor jenen, die Rinks mit Gut und Lechts mit Böse verwechseln.

Aus den Blogs, 07.02.2012

"It's over, Facebook. It's really over", stöhnt Alicia Eler im ReadWriteweb und erzählt, warum immer mehr Netznutzer sich von Facebook abwenden: "Last week's overvalued IPO, and the fact that Zuck owns more than a quarter of the world's largest social network and refuses to share the cash has put many users over the edge."

Auch Tschechien setzt die Ratifizierung des Acta-Abkommens aus, berichtet heise unter Bezug auf eine dpa-Meldung: "Das Kabinett von Ministerpräsident Petr Necas müsse den Pakt zunächst näher analysieren, bestätigte Regierungssprecher Jan Osuch am Montag der Nachrichtenagentur dpa. 'Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass die bürgerlichen Freiheiten und der freie Zugang zu Informationen in irgendeiner Weise bedroht sind', erklärte Necas."

Weitere Medien, 07.02.2012

David Cameron könnte als der britische Politiker in die Geschichte eingehen, unter dem Schottland von Großbritannien und England von der EU abtrünnig wurden, schreibt Timothy Garton Ash (vor einigen Tagen schon) zum geplanten schottischen Referendum. Zu recht lehne Cameron ab, dass dort eine dritte Option, die sogenannte "devo max" (maximum devolution) zur Abstimmung gestellt werde, die Schottland erlauben würde, fast totale Unabhängigkeit zu genießen und dennoch Teil des Vereinigten Königreichs zu bleiben. "Yet devo max is precisely what he seeks for Britain in relation to the EU. He insists on a clear 'in or out' choice for Scotland in relation to the British union. He ducks and weaves, rubbing all our European partners up the wrong way, to avoid a clear 'in or out' choice for Britain in relation to the European Union."

Welt, 07.02.2012

Wieland Freund unterhält sich mit der Biografin Claire Tomalin über den (nach Tolstoi, Dostojewski, Balzac und Stendhal) größten Romancier des 19. Jahrhunderts Charles Dickens, der heute 200 Jahre alt geworden wäre. Heimo Schwilk, Ernst-Jünger-Fan und Herausgeber des Bands "Die selbstbewusste Nation", gratuliert dem Analytiker der Männerfantasien Klaus Theweleit zum Siebzigsten. Christina Rietz verfolgte ein Symposion zu Begriff und Phänomen der Boheme nach 1968 in Siegen. Wolf Lepenies empfiehlt Edmund Wilsons literarische Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs, "Patriotic Gore", die vor fünfzig Jahren erschien, als polithistorische Standardlektüre. Besprochen werden Stücke von Bärfuss und Dürrenmatt in Zürich.

Und Eckkehard Kern berichtet, dass Facebook künftig von Institutionen wie dem ZDF 50.000 Euro jährlich pro Facebook-Präsenz verlangen will.

FR/Berliner, 07.02.2012

Die CDU-Abgeordnete Erika Steinbach hatte getwittert, dass sie die NSDAP als linke Partei empfindet und damit den tugendhaften Zorn der FR-Redaktion und Heinrich August Winklers ausgelöst. Aber Götz Aly möchte doch differenzieren: "Wer den 'Befreiungskampf des palästinensischen Volkes' gerecht und links findet, wird in der Nazi-Welt Geistesverwandte treffen. Wer den deutschen Mieter- und Kündigungsschutz, das Kindergeld, die Krankenversicherung für Rentner oder den Naturschutz für fortschrittlich hält, sollte bedenken, dass die Gesetze 1937, 1934, 1937, 1941 und 1938 erlassen oder in ihrer Schutzfunktion erheblich gestärkt wurden. Nicht wenige Deutsche identifizieren Rechts mit Böse und Links mit Gut. Ihrem geschichtlichen Durchblick hilft das nicht."

Im Feuilleton berichtet Sebastian Preuss, dass die Deutsche Bank die deutsche Guggenheim-Dependance schleift: "Man wolle die Präsenz in Berlin weiter ausbauen, erklärte das Geldinstitut gestern. Doch der Versuch misslingt, die schlechte Botschaft in etwas Positives einzukleiden. In der Hauptstadtniederlassung Unter den Linden soll künftig ein internationales 'Forum für den Dialog zwischen Wirtschaft, Politik, Kultur und Gesellschaft' entstehen."

Weitere Artikel: Ralf Schenk berichtet über Proteste ungarischer Filmemacher gegen die Filmpolitik ihrer Regierung. Judith von Sternburg schreibt zum 200. Geburtstag von Charles Dickens. Auf der Medienseite berichten Marin Majica und Jonas Rest über wachsenden Widerstand gegen das Acta-Abkommen. Online wird gemeldet, dass der spanische Künstler Antoni Tapies gestorben ist.

Besprochen werden die Ausstellung "Mengeles Schädel - Der Aufstieg der forensischen Ästhetik" (mehr hier) - sie befasst sich mit Untersuchungen des Totenschädels eines in Brasilien gestorbenen Mannes, bei dem es sich um den berüchtigten Arzt handeln soll - und Neil Cross' Krimi "Luther" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 07.02.2012

Christoph Egger hat aus dem dem beneidenswert weit zurückreichenden Archiv der NZZ eine Meldung zu den Gordon Riots ausgegraben, die Charles Dickens in seinem Roman "Barnaby Rudge" verarbeitet hat. Sie datiert vom 24. Brachmonat 1780: "Man hat hier ein Billet, London den 10. Jun. 'Der Aufruhr dauerte den 8. noch; 80 000 bewaffnete Leute haben 50 Häuser in die Asche gelegt, unter andern den Pallast des Lord Mansfield... Der Graf von Sandwich war in Gefahr, erwürgt zu werden. Das Volk hat die Pferde an dem Waagen des Lord Gordon ausgespannt, und ihn im Triumph aufgeführt. Der König und die königliche Familie haben sich nach Windsor retirirt. Man hat 20 000 Mann und 50 Kanonen gegen sie angeführt. Die Friedensrichter kamen mit dem Gesetzbuch, und lasen den Rotten die Gesetze gegen Aufruhr vor; Sie wurden abgeprügelt' - Gestern hörte man Lord Gordon seye den 9. durch 2 Staatsbothen arretirt, und in den Tower gebracht worden; seitdem soll es still seyn."

Besprochen werden Alvis Hermanis Inszenierung von Gorkis "Wassa Schelesnowa" an den Münchner Kammerspielen, eine Retrospektive über Rudolf Steiner im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein, Elizabeth Tova Baileys Hohelied auf eine Heldin mit Haus "Das Geräusch einer Schnecke beim Essen" und Esther Slevogts Wolfgang-Langhoff-Biografie "Den Kommunismus mit der Seele suchen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 07.02.2012

Micha Brumlik gehört jetzt auch zu denjenigen, die für dieses Jahr einen Krieg zwischen Israel und Iran erwarten: "Bevor man nun moraltheoretisch das Pro und Kontra eines israelischen Luftangriffs auf den Iran abwägt und sich ernsthaft der Frage stellt, ob der jüdische Staat nach der Schoah auch nur das geringste Risiko, von wahnsinnigen iranischen Mullahs oder ihnen willfährigen Politikern mit Atomwaffen angegriffen oder auch nur bedroht zu werden, hinnehmen darf, sollten ein paar nüchterne Erwägungen Gehör finden. Dieser künftige, drohende Krieg wird vor allem deshalb kaum noch zu vermeiden sein, weil er im wohlerwogenen Interesse beider Feinde, des klerikalfaschistischen Regimes der Mullahs sowie der rechtsnational/rechtsradikalen Koalitionsregierung von Benjamin Netanjahu liegt."

Auf Flimmern und Rauschen berichtet Steffen Grimberg vom Krach in der ARD über den anvisierten Kompromiss mit den Zeitungsverlegern über die Tagesschau-App.

Besprochen werden zwei Inszenierung am Gorki Theater in Berlin nach Romanen von Fallada und Fontane, Musikfestival CTM und Melanie Walz' Neuübersetzung von Charles Dickens' "Große Erwartungen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

SZ, 07.02.2012

Wenn amerikanische Konservative Hollywood vorwerfen, ihrem Publikum links-liberale Ansichten unterzujubeln, findet Susan Vahabzadeh das in einem Artikel über Banker und Underdogs im Kino zwar nicht völlig unbegründet. Dass man die "Muppets" zuletzt aber in den USA des Klassenkampfs bezichtigte, hält sie dann doch für "absurd". Woher diese Liebe für die Verlierer von eigentlich recht gut situierten Drehbuchautoren und Regisseuren stammt, weiß sie überdies: "Fast jedes größere Filmstudio gehört zu einem Konzern, was bedeutet, dass sich auch erfolgreiche Filmemacher innerhalb eines Systems bewegen, in dem sie subjektiv arm dran sind. Sie identifizieren sich mit den Verlierern in ihren Stoffen, und arbeiten so wahrscheinlich ihre eigenen Aggressionen auf ein Studiosystem ab, in dem ihre Arbeit permanent kontrolliert und nur nach dem Maßstab der Gewinnmaximierung beurteilt wird."

Weitere Artikel: Laura Weissmüller unterhält sich mit dem Designer Konstantin Grcic, der es sehr bedauert, dass man heute "immer noch diesen blöden Eames-Stuhl in all diesen Wohnungen" sieht: "Natürlich ist der gut, aber der ist 50 Jahre alt!" Alexander Menden würdigt Charles Dickens zum 200. Geburtstag als Journalist und Kolumnist. Nach Andris Nelsons Debüt als Dirigent der Münchner Philharmoniker wünscht sich ein begeisterter Harald Eggebrecht, "dass diesem spannenden Anfang der Zauber baldiger und reicher Fortsetzung innewohne". In einem zweiten Artikel würdigt Eggebrecht außerdem nach dem Erfolgs von "The Artist" die ästhetischen Qualitäten des Stummfilms. "crab" resümiert die Transmediale in Berlin. Willi Winkler gratuliert dem "universal-gelehrten Männer- und Frauenrechtler" Klaus Theweleit zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden der Musikabend "Fein sein, Beinander bleibn" mit den Gebrüder Well von den aufgelösten Biermösl Blosn an den Münchner Kammerspielen, bei dem das Theater "zur Wärmestubn wird" und eine Ausstellung mit Arbeiten von Georgia O'Keeffe in der Hypo-Kunsthalle in München.

FAZ, 07.02.2012

SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles erklärt, warum sie erstens keinen Arbeitskreis von Laizisten in der SPD möchte und zweitens auch nicht auf einer strikten Trennung von Kirche und Staat besteht: "Es ist für mich auch nicht zu erkennen, dass der strikte Laizismus besser in der Lage wäre, neue religiöse Gemeinschaften wie etwa den Islam zu integrieren."

Weitere Artikel: Lorenz Jäger ist immer noch ganz warm ums Herz nach der "Göttlichen Liturgie", mit der die orthodoxe Kirche in München die "Verherrlichung des Neumärtyrers Alexander Schmorell" feierte. Joachim Müller-Jung empfiehlt die Fernsehdoku über den Alzheimerkranken Rudi Assauer. Auf der Medienseite fordert Fridtjof Küchemann, die Proteste und Diskussionen um Acta müssten endlich "aus dem Netz auf die Straße und in Gremien und Parlamente" getragen werden. (Klar, und das macht man am besten, indem man einen Artikel mit frei zugänglichen Informationen aus dem Netz schreibt, ohne seine Quellen zu nennen, und ihn dann als Qualitätsware für 2 Euro im Bezahlarchiv versenkt.)

Besprochen werden die Ausstellung "Mario Adorf ... böse kann ich auch" in der Berliner Akademie der Künste (yep, der Mann links ist Adorf), die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs Drama "Fliegendes Kind" in Wien, Stefan Herheims Inszenierung von Bergs "Lulu" an der Dresdner Semperoper, Agnieszka Hollands Film "In Darkness" und Bücher, darunter Michel Bergmanns Roman "Machloikes" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).