Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.10.2022. In der Welt fürchtet Hermann Parzinger, dass Museen künftig zu Hochsicherheitstrakten werden. Die Jungle World warnt: Kim de l'Horizons "Blutbuch" kann Spuren von Homophobie enthalten. Die SZ blickt mit dem skeptischen Staunen des Magnum-Fotografen Thomas Hoepker auf die USA der Sechziger. Die FAZ wirft einen Blick auf das korrumpierte griechische Theater, die nachtkritik erlebt in Tiflis georgisches Theater auf Identitätssuche. Im Perlentaucher stürzt sich Patrick Holzapfel in den Magmafluss der Bildwelten von Sara Dosas "First Love". Und die SZ experimentiert mit dem von Giles Martin gesäuberten "Revolver" der Beatles.
Im Welt-Gespräch mit Dorothea Schupelius ärgert sich Hermann Parzinger nicht nur über die "Sachbeschädigung" durch die Klimaextremisten. Sie attackieren auch das Museum als offenen Ort, sagt er: "Wir vertrauen unseren Besucherinnen und Besuchern. So viele Werke, nicht nur in der Berliner Gemäldegalerie, auch auf der Museumsinsel sind ohne Schutz, ohne Panzerglas, so dass die Besucher wirklich die Aura des Originals wahrnehmen können. Wir wollen den Menschen Kunst und Kultur nahebringen. Aber wenn sich Museen zu Hochsicherheitstrakten entwickeln, dann werden sie genau das nicht mehr vermitteln können." Für die Seite 3 der SZ hat Renate Meinhof mit der Restauratorin des Bildes, Felictas Klein, gesprochen. Derweil haben drei Klimaaktivisten im Museum Mauritshuis in Den Haag Vermeers "Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge" attackiert, meldet unter anderem der Standard mit APA.
Außerdem: Nachrufe auf den im Alter von 102 Jahren gestorbenen französischen Maler Pierre Soulages schreiben in der Welt Hans-Joachim Müller, Bernhard Schulz im Tagesspiegel und Till Briegleb in der SZ. Die Gipsmodelle der Quadriga von Johann Gottfried Schadow sind nun fertig restauriert, meldet Rolf Brockschmidt im Tagesspiegel.
Gleich in zwei großen Ausstellung ist die "Lieblingskunst der Bundesdeutschen", der Expressionismus, derzeit zu bewundern, freut sich Bernhard Schulz im Tagesspiegel nach Besuchen in den Ausstellungen "Brücke und Blauer Reiter" im Buchheim Museum in Bernried und "Expressionisten. Entdeckt - Verfemt -Gefeiert" im Essener Folkwang Museum. Besprochen werden außerdem eine Ausstellung des fotografischen Werks von Lucia Moholy im Berliner Bröhan-Museum (Berliner Zeitung) und eine Ausstellung der indischen Fotografin Gauri Gill in der Frankfurter Schirn (FAZ).
Ausgerechnet in der queerenSzene, die sich dadurch definiert, dass sie jegliche Kategorisierung hinter sich zu lassen bestrebt, macht sich eine neue Form von Homophobie breit, beobachtet Dierk Saathoff: Die Geringschätzung homosexueller Männer, die sich in ihre Homosexualität nicht reinreden lassen wollen. In Kimde l'Horizons eben mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Blutbuch" findet er dafür Belege, wie er in der Jungle Worldschreibt: Die Hauptfigur, durchaus als Alter Ego Kim de l'Horizons erkennbar, räsoniert "in einer Art und Weise über Homosexualität, die herabwürdigender kaum sein könnte: 'Und ich war ja auch tatsächlich nie schwul, weil Schwulsein geht ja nur, wenn mensch daran glaubt, dass es zwei Geschlechter gibt.' ... Ein paar Zeilen weiter liest sich der Text wie folgt: 'Ich bin da, aber ich mache nicht mit in eurem binär gecodeten Knallergame, Paintball-madness, Unterdrückungs-Funpark. Ich schlage das Erbe der protofaschistoiden Sexualität schwuler Männlichkeiten aus.' Aus diesen Zeilen spricht keine Selbstkritik beziehungsweise Selbstreflexion, wie das noch bei Rosa von Praunheim der Fall war. Diese Zeilen drücken pure Abscheu aus, und einen Hass, der sich ganz unverblümt gegen prinzipiell alle schwulen Männer richtet - eigentlich Material für einen kleinen Skandal, doch die zahlreichen Rezensionen des Buchs erwähnten die Passage nicht."
Außerdem: SergeiGerasimowschreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Gisela Trahms an Sylvia Plaths erstes Date. Besprochen werden unter anderem GarielleLutz' "Geschichten der übelsten Sorte (ZeitOnline) und RolandKaehlbrandts "'Deutsch'. Eine Liebeserklärung.Die zehn großen Vorzüge unserer erstaunlichen Sprache" (FAZ).
In Georgien explodieren die Mieten seit die Russen über die offene Grenze kommen, überall sind antirussische Graffitis zu sehen - die Russen sind hier nicht willkommen, schreibt Esther Slevogt (nachtkritik) in einem Theaterbrief aus Georgien. Sie hat den "Georgian Showcase" besucht, ein im Jahr 2008 gegründetes Theaterfestival, und ist alten Griechen, georgischen Klassikern und alten Bekannten begegnet, etwa in Zurab Getsadzes Inszenierung von Heiner Müllers "Hamletmaschine", die die "Paradoxien der jüngeren georgischen Geschichte" verhandelt: "Zum Beispiel das Paradox, dass die ersten Forderungen nach der Unabhängigkeit Georgiens von der Sowjetunion 1956 ausgerechnet von Gegnern der Entstalinisierung kamen, die nämlich in der Entsorgung des stalinschen Erbes eine Verschwörung gegen Georgien sahen. Lange war man stolz auf geborenen Georgier Iosseb Dshugashvili genannt Josef Stalin, der die gesamte große Sowjetunion anführte und den Großen Vaterländischen Krieg gewonnen hatte. Als nach den 20. Parteitag der KPDSU drei Jahre nach Stalins Tod sein Nachfolger Nikita Chruschtschow Anfang des Jahres 1956 dessen Verbrechen enthüllte, war der georgische Nationalstolz verletzt, kam der Verdacht einer Verschwörung Moskaus gegen Georgien auf."
Derweil hat sich Simon Strauss (FAZ) in der griechischen Theaterszene umgesehen. Welche Rolle spielt das Theater heute in Griechenland? "Auf internationalen Theaterfestivals ist vom griechischen Schauspiel wenig zu sehen. In den transnationalen Kritikumschauen kommt die Szene nicht vor. Es scheint, als ob das griechische Theater - im Gegensatz etwa zu dem vom Balkan - unterhalb der europäischen Wahrnehmungsschwelle bliebe. Warum?" "Generell leide das Theater in seinem Heimatland unter dem Einfluss der Parteipolitik", erklärt ihm der Regisseur Sotiris Roumeliotis, "denn alle Führungspositionen würden von der gerade amtierenden Regierung bestimmt."
Bild: Rogelio de Egusquiza y Barrena. Parsifal. 1903. Photographic Archive. Museo Nacional del Prado, Madrid.Wehmütig angesichts der gegenwärtigen "Biedermeierisierung des Publikumsgeschmacks" spaziert Egbert Tholl (SZ) durch die Ausstellung "Die Oper ist tot - es lebe die Oper" in der Bundeskunsthalle Bonn, die ihm nochmal die einstige Opulenz der Oper vor Augen führt: "Guckt man genauer hinter die Opulenz der Ausstellung, entdeckt man die Avantgarde, die Oper auch immer war und ist. Man vergisst zu leicht, dass die Häuser, die hier gefeiert werden, Uraufführungshäuser waren, weil sich die Idee eines wiederkehrenden Repertoires, das man so pflegen wollte wie etwa Gustav Mahler in seiner Zeit als Wiener Opernchef, erst im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildete. Die Nazis schließlich vernichteten einen Opernbetrieb, der permanent neue Werke produzierte, die das Publikum auch sehen wollte. Daran wurde nie mehr angeknüpft, die Innovation verlagerte sich zusehends von neuen Werken zur Interpretation alter."
Außerdem: Nach der viel gescholtenen ersten Spielzeit unter Serge Dorny wollte der Intendant der Münchner Staatsoper sich mehr auf die "Bedürfnisse der Zuschauer" einlassen, erinnert Marco Frei in der NZZ. Und dann steht zum Spielzeit-Auftakt mit Benedict Andrews' Neuinszenierung von Mozarts "Cosi fan tutte" eine dicke SUV-Limousine aus der Bühne? Ausgerechnet der Herstellers, der "Global Partner" der Bayerischen Staatsoper ist? Nun denn. In der SZ erlebt Reinhard J. Brembeck immerhin einen "wundervoll leichten" Abend.
Als würde die Welt gleichzeitig auf- und untergehen: "Fire of Love" von Sara Dosa Das Vulkanologen-Ehepaar Katia und Maurice Krafft, 1991 bei einem Ausbruch ums Leben gekommen, hinterließ ein umfangreiches Archiv mit teils schier überwältigenden Aufnahmen. Gleich zwei Filmemacher schöpfen mit vollen Händen daraus: WernerHerzog in "Die innere Glut" (derzeit online bei Arte) und die Anthropologin SaraDosa, der mit "Fire of Love" der "schönere und umfassendere Film gelungen" ist, wie Patrick Holzapfel im Perlentaucherschreibt, nachdem er sich mit dem Enthusiasmus eines jugendlichen "Was ist Was"-Lesers in den Magmafluss dieser Bildwelten gestürzt hat. "Tatsächlich kann man manchmal kaum fassen, was man da sieht und vor allem, wie nah die beiden Forscher an dieses Unfassbare treten. Die Kraffts dokumentierten die Naturerscheinungen und ihre Arbeit, um besser zu verstehen und anschaulicher kommunizieren zu können. Das wird klar in einem in der Originalversion von MirandaJuly eingesprochenen Voice-Over, der immer so klingt, als würde die Welt gleichzeitig auf- und untergehen." Vom Kleinkriminellen zum Rapstar: Fatih Akins "Rheingold" FatihAkins "Rheingold", ein lose an der historischen Realität orientiertes Biopic über den Gangster und Rapper Xatar, fällt bei der Kritik durch. "Kinoästhetisch belanglos und erzählerisch lapidar", findet FAZ-Kritiker Daniel Haas den Film. FR-Kritiker Daniel Kothenschulte vermisst den aufbrausenden Kinomaniker Akin, dem früher alle Festivals zu Füßen lagen: Dem Film fehle "bei allem Unterhaltungswert eben über weite Strecken jene besondere Freiheit im Ausdruck, dieser beißende Glanz, der Akin zu einem der wenigen Weltstars unter deutschen Regisseuren gemacht hat. Bevor erst im letzten Akt des Films Hip-Hop überhaupt ein Thema wird, überhöht der Film mit großen Gesten den nicht wirklich interessanten Karrierismus eines aufstrebenden Kleinkriminellen." Es "vermischt sich das Banale mit dem gewollt Heroischen". In der Weltführt Hanns-Georg Rodek durch das Straftatenregister des Rappers und sieht "einen Film übers Flüchten, übers Erwachsenwerden, übers Dealen, übers Musikmachen, über einen großen Coup. Darin liegt letztlich auch das Unbefriedigende an Akins Film, dass er zu verliebt in seine Action-Elemente ist, um den Musiker zu erklären".
Weitere Artikel: Andreas Scheiner spricht für die NZZ mit WernerHerzog, über den diese Woche ein Porträtfilm von Thomas von Steinaecker in den Kinos anläuft. Besprochen werden HalinaReijns Horrorfilm "Bodies Bodies Bodies", an dessen Humor Perlentaucher Rajko Burchardt sehr viel Freude hat, Nicholas Stollers schwule RomCom "Bros" (ZeitOnline, mehr dazu bereits hier) und die auf Amazon gezeigte SF-Serie "Peripherie" nach dem gleichnamigen Roman von WilliamGibson (Freitag).
Tillmann Prüfer beugt sich für seine Stilkolumne im ZeitMagazin über den Trend zum Chain-Bra, der ihn vor einige Rätsel stellt: Fortlaufend werde das Ende des BHs ausgerufen und "nun ist ausgerechnet der sinnloseste und unbequemste aller Büstenhalter in der Instagram-Version zurück. Demnächst werden Feministinnen nicht nur BHs verbrennen, sondern auch Ketten sprengen müssen."
Mit einer Notensammlung und einem Album mit Neueinspielungen wirft die US-Schlagzeugerin TerriLyneCarrington ein Schlaglicht auf den oft übersehenen Beitrag von Musikerinnen und Komponistinnen zur Geschichte des Jazz, freut sich Sophie Emilie Beha in der taz. Knapp ein Jahrhundert umspannt die Reise und überall wurde Carrington fündig: Zu erleben ist "die ganze Bandbreite anerkannter Größen, aber auch junger Visionärinnen, vergessener Heldinnen und Pionierinnen des Jazz. ... Natürlich ist 'New Standards Vol. 1' ein politisches Album. Aber es allein auf den gesellschaftlichen Aspekt zu begrenzen, wäre viel zu kurz gedacht. Die enthaltene Musik ist vor allem ein Zeugnis von exzellentenKünstlerinnen. Ihre technische Brillanz stellen sie nicht in den Dienst von Perfektion, sondern von Atmosphäre und Lebendigkeit." Carrington "vereint Stilistiken, Zupackendes und Dahinfließendes; und den Wunsch nach einer Zukunft, in der Jazzstandards nicht mehr nur von Männern stammen." Mit "Revolver" experimentierten die Beatles 1966 erstmals mit den künstlerischen Möglichkeiten eines Tonstudios, jetzt erscheint das Album in einer neuen Abmischung von GilesMartin neu, der aus den alten Tapes dank avancierter Digitaltechnik das Letzte rausholt. Das Ergebnis klingt "vor allem sauberer, geräumiger, irgendwieleibhaftiger", findet Thomas Bärnthaler in der SZ. "Die Tamburins rasseln krisper, die Kuhglocke in 'Taxman' dengelt prägnanter. Es hört sich ziemlich fantastisch an - gutes Hi-Fi-Equipment vorausgesetzt." Für den Tages-Anzeigerversenkt sich Jean-Marie Büttner in dem Klangband, das ihm dieses "Meisterwerk der stilistischen Vielfalt" bietet und staunt, welche Facetten ihm die neue Abmischung ans Ohr bringen. Hier der neue Mix von "Tomorrow Never Knows", dem man bei dieser Gelegenheit gleich noch ein hübsch animiertes Video verpasst hat:
Weitere Artikel: Für VANspricht Luciana Rangel mit dem brasilianischen Musiker EduKrieger über die Lage und Stichwahl in Brasilien sowie über Kriegers Bolsonaro-Satiren. Im VAN-Interview zum 80. Geburtstag blicktFrankSchneider auf seine Zeit als Intendant des KonzerthausesBerlin zurück. Andrian Kreye porträtiert in der SZ den Jazz-Saxofonisten MariusNeset, dessen davon galoppierender Musik mit ihren "nichtlinearen Strukturen" er nur staunend hinterblicken kann. Klaus Heinrich Kohrs widmet sich in einem großen Essay für das VAN-Magazin HectorBerlioz' "Messe Solennelle", die er als Gründungsdokument der Moderne liest. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker hier über KatherineBalch und dort über MorfyddOwen. Und Eric Pfeil erinnert sich in seinem Poptagebuch beim Rolling Stone an die Rocker von Styx.
Besprochen werden CarlaDal Fornos Album "Come Around" (taz) und die Autobiografie der Schlagersängerin MaryRoos (BLZ).