Bücherbrief

Brühwürfelchen der feinen Art

Neue Bücher von Katja Lange-Müller, Elena Ferrante und über Kolonialismus
05.09.2016. Han Kangs sinnlich-bittere Vegetarierin, Elena Ferrantes epochaler Neapel-Roman, Mathias Enards gelehrt-funkelnde Orient-Expedition, Wolfgang Reinhards monumentales Kolonialismus-Standardwerk - dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats.
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Weitere Anregungen finden Sie in unserer Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", den Leseproben in Vorgeblättert, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen, und in den älteren Bücherbriefen


Literatur
                                                                                                                   
Han Kang
Die Vegetarierin
Roman
Aufbau Verlag, Berlin 2016, 190 Seiten, 18,95 Euro



Als Erzählung voller "Zärtlichkeit und Terror" und "vulkanischer Intensität" hat Han Kangs "Vegetarierin" den Man Booker International Prize erhalten. Und auch hierzulande waren die Rezensenten vom ersten Satz an begeistert. Die südkoreanische Autorin erzählt aus drei Perspektiven die Geschichte von Yong-Hye, einer jungen koreanischen Hausfrau, deren radikale Entscheidung zum Vegetarismus zum Scheitern ihrer Ehe, Zwangsernährung, Psychiatrie und Selbstmordversuch führt. Im Spiegel lobt Maximilian Kalkhof diese "Allegorie von archaischer Kraft", die in ihrer Dichte an Kafkas "Verwandlung" erinnere, ebenso wie die große Sinnlichkeit. In der FR schwärmt Martin Oehlen Han Kangs Kunst diese bizarre wie ernste Geschichte konsequent, lakonisch, "großartig im Detail und packend in der Konzentration auf das Nötigste" zu schildern. Im Tagesspiegel spricht Gregor Dotzauer gar von der "unheimlichen Schönheit, Grausamkeit und satirischen Bitterkeit" der Erzählung. Und Dietmar Dath verfällt in der FAZ nicht nur der stillen Macht des herrlich unscheinbaren Buches, sondern lernt sogar, dass politische Literatur nicht immer "naturalistisch-realistisch" sein muss. SZ-Kritikerin Karin Janker schließlich erscheint Kangs jegliche Rolle einer patriarchalischen Gesellschaft ablehnende Heldin wie ein "weiblicher Bartleby".


Elena Ferrante
Meine geniale Freundin
Roman
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 422 Seiten, 18,99 Euro

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Weltweit bringt das Pseudonym Elena Ferrante die Kritiker in Atemnot, und auch hierzulande ist der erste Teil ihrer "Neapolitanischen Saga" noch vor seinem Erscheinen besprochen worden. Für Zeit-Kritikerin Iris Radisch ist die Geschichte um zwei rivalisierende Freundinnen schlichtweg ein "epochales literaturgeschichtliches Ereignis", das über sechs Jahrzehnte hinweg europäische Geschichte in "weiblicher Nahsicht" erzähle und sich hinter Ingeborg Bachmann oder Herta Müller nicht verstecken müsse. In der FAZ hebt Sandra Kegel vor allem auf die Kunst der Autorin ab, das Neapel der Nachkriegszeit in "schwereloser" Sprache bildstark, detailreich und "sinnlich" erfahrbar zu machen. NZZ-Kritiker Franz Haas ist nicht nur hingerissen von der "subtilen Psychologie", die sich nicht zuletzt in den Nebenfiguren zeigt, sondern auch vom "Neo-Neo-Realismus".
Hymnisch bespricht auch Maike Albath den Roman im Deutschlandfunk. Doch bei allem Hype gibt es auch die Gegenstimmen: Während Claudia Kramatschek im DradioKultur noch über die "brave" Erzählweise hinwegsieht, da sie hier "leuchtenden, aus Fleisch und Blut geschaffenen" Figuren begegnet, ätzt Thomas Steinfeld in der SZ: Leicht zugänglich mit Anklängen an die "großräumigen Rauschbücher" des 19. Jahrhunderts, ergo: Trivialliteratur. Und Volker Weidermann konstatiert Spiegel: "Es fliegt nicht".


Katja Lange-Müller
Drehtür
Roman

Kiepenheuer und Witsch, Köln 2016, 224 Seiten, 19 Euro.



Neun Jahre nach "Böse Schafe" ist mit "Drehtür" ein neuer Roman von Katja Lange-Müller da, und SZ-Kritikerin Kristina Maidt-Zinke ist sofort gebannt vom vertrauten Ton der Autorin, der Bodenständigkeit mit Sarkasmus, Traurigkeit und starken Bildern vebindet. Dass die Geschichte um eine pensionierte Krankenschwester, die nach zwanzig Jahren in Nicaragua in die Heimat zurückkehrt und am Flughafen auf ihr Leben zurückblickt, im Grunde mehr Prosasammlung als Roman ist, scheint den meisten Rezensenten zweitranging: In der FR macht Sabine Vogel das Motiv des Helfens aus, das in seiner Vergeblichkeit beschrieben wird, vor allem anhand von zahlreichen "Katastrophenparasiten", die bis zum "Gefrierbrand desillusioniert" sind. Im Tagesspiegel schätzt Katrin Hillgruber Lange-Müllers "humorvollen Fatalismus" angesichts der "Ambivalenz des Helfens" in Zeiten der Flüchtlingskrise. Welt-Kritiker Richard Kämmerlings erkennt in den lange nachwirkenden Episoden zahlreiche Fragmente aus Lange-Müllers Biografie, den ostdeutschen Lebenslauf oder ihre Arbeit als Hilfsschwester in einer Psychiatrie, den erzählerischen Rahmen findet er allerdings etwas "wacklig". Zeit-Kritikerin Ursula März entdeckt hier frei nach Lange-Müllers Poetologie, sich durch verknapptes Erzählen auf das Wesentliche zu konzentrieren, "ein Brühwürfelchen der feinen Art".


Meena Kandasamy
Reis & Asche
Roman
Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2016, 216 Seiten, 24,80 Euro



Nur eine einzige Besprechung hat Meena Kandasamys Roman "Reis und Asche" bisher erhalten, die aber hat es in sich: Wucht und Drastik attestiert Claudia Kramatschek in der NZZ dem Roman der indischen Autorin, der von dem 1968 von Großgrundbesitzern initiierten Massaker an den Dalits aus der Kaste der Unberührbaren erzählt. Großartig, wie die Autorin sich mit unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven zwischen den Zeiten springend an das Massaker herantastet, mit scheinbarem Mitgefühl die "unmenscliche Selbstherrlichkeit" der Großgrundbesitzer entlarvt, die sich selbst als Opfer der Kommunisten betrachten, findet die Rezensentin. Insbesondere aber bewundert sie Kandasamys Vermögen, in lakonischem Ton, sprachlicher Kraft und mit "unerbittlicher Akkuratesse" aus der traumatisierten Perspektive der Hinterbliebenen zu berichten. Für Kramatschek ist dieses Buch der "provokante Zwilling" von Neel Mukherjees Roman "In anderen Herzen", den sie nicht zuletzt dank Claudia Wenners brillanter Übersetzung unbedingt empfehlen kann.


Mathias Enard
Kompass
Roman
Hanser Verlag, Berlin 2016, 432 Seiten, 25 Euro



Vergangenes Jahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, versetzt Mathias Enards "Kompass" auch hierzulande die Kritiker in Entzücken: Ein "Wunderding" von einem Roman, ein "Sprühwerk der Gelehrsamkeit", jubelt Joseph Hanimann in der SZ. Erzählt wird die Geschichte des Wiener Musikwissenschaftlers und "Stubenabenteurers" Franz Ritter, der in Fieber- und Opiumträumen verschiedene Episoden fantasiert, die sich zu einem Reigen aus Forschungsreisen und Orientexpeditionen zusammensetzen, resümiert Hanimann, warnt allerdings, dass der Roman Lesegeduld erfordere.
Randvoll mit Geistesgeschichte und "Traumbuch des Jahres", findet auch Welt-Kritiker Tilman Krause das Buch und entdeckt in Enards "Beziehungszauber" gar den Orient als Teil der westlichen "Imagination und kulturellen Energie", der als Brutstätte aller farbigen und verheißungsvollen Kreativität gilt. Und auf literaturkritik.de entkräftet Stephanie Bung die Sorge, bei all der Bildungsintensität werde der Roman für "reine Informationsvermittlung" missbraucht, mit dem Hinweis auf die Verknüpfung mit der Liebes- und Lebensgeschichte des Helden, die ihr eine kraftvolle Geschichte von der "Anziehung durch das Fremde im Eigenen und durch das Eigene im Fremden" erzählt.


Sachbuch

Michael Angele
Der letzte Zeitungsleser
Galiani Verlag, Berlin 2016, 160 Seiten, 16 Euro




Michael Angele ist selbst Blattmacher und doch wechselt er für seinen schmalen, optisch und stilistisch als Zeitung aufgemachten Band die Perspektive, klärt SZ-Kritikerin Sofia Glasl auf. Angele begegnet ihr als "passionierter" Zeitungsleser, für den die tägliche Lektüre von bis zu fünfzehn Zeitungen zum täglichen Ritual gehört. Geradezu hingetupft erscheint ihr die Mischung aus kolumnenartigen Leseerlebnissen und Begegnungen mit den "Schrullen" anderer Zeitungsleser oder -sammler, die Glasl das "Lebensgefühl" ganz ohne Verklärung nahebringen. Auch Marc Reichwein verfällt in der Welt dem "Sinnlichen und Situativen", das Angele in Anekdoten heraufbeschwört: Er erzählt von Thomas Bernhard, der einst eine Autorallye über 350 Kilometer auf sich nahm, um an eine NZZ zu kommen, oder von Claus Peymann, der in Tokyo oder Russland Zeitungen kauft, nur um "den Geist der Stadt" zu atmen. Knud von Harbou wünscht sich in der taz Angeles Essay als "Beutelbuch", um daraus, am Gürtel hängend, stets vorlesen zu können. Auf DradioKultur spricht Korbinian Frenzel mit dem Autor und Journalisten.


Byung-Chul Han
Die Austreibung des Anderen
Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, 112 Seiten, 20 Euro



SZ-Kritiker Fritz Göttler mag ihn, den Byung-Chul-Han-Sound, der beschwört, ganz ohne Emotion, Ironie und Pathos auskommt und unerschütterlich Alltagsszenen und Katastrophen aneinanderreiht. Wie Han hier das Andere als elementare Erfahrung in all seinen Facetten beschreibt, dabei auf Heidegger, Derrida, Lévinas, Lacan, Žižek, auch Paul Celan zurückgreift, ihnen aber die "Schraubstockhaftigkeit" nimmt und dabei die Informations- und Kommunikationsflut der digitalen Welt als trügerisch entlarvt, da ihnen jeden "Welterfahrung" abgeht, findet Göttler beeindruckend. Auch wenn der in Berlin lehrende Philosoph Lacan eine "Welt der Depression" skizziert, in der der Blick seine "politische, gesellschaftlich und psychisch wesentliche Funktion" verloren hat, ist der Kritiker während der Lektüre ganz bei dem Autor. Auch Björn Hayer kann sich im Spiegel nicht ganz dem "wuchernden Lamento"des Autors entziehen: Trotz unter "Drastik der Zuspitzung" und metaphernreichen Sprachspielen begrabener "philosophischer Stringenz" entdeckt er hier viele kluge, auch "provokative" Analogien.


Inge Jens
Langsames Entschwinden
Vom Leben mit einem Demenzkranken
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016, 160 Seiten, 14,95 Euro

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Es dürfte das letzte Buch der 89-jährigen Autorin Inge Jens sein, mutmaßt SZ-Kritiker Florian Welle, den die hier versammelten persönlichen Briefe aus den Jahren 2005 bis 2013 noch einmal an den Intellektuellen Walter Jens erinnern. Er empfiehlt das Buch allen Angehörigen von Demenz-Patienten, denn Inge Jens schildert nicht nur den Alltag mit dem Kranken, sondern gewährt auch Einblicke in ihre Gefühle. Berührt liest der Rezensent, wie erlösend das endgültige Erlischen der geistigen Fähigkeiten für das Ehepaar war, da das Wissen um seinen Zustand Walter Jens quälte. Auf literaturkritik.de attestiert Nicolai Glasenapp dem Buch auch "gesellschaftliche Relevanz": Im zweiten Teil des Buches liest er ein Plädoyer für den Wandel von Pflegeeinrichtungen, die mit ihren automatisierten Verfahren den Ansprüchen der Patienten nicht gerecht werden. Ein eindringliches Buch voller Demut und Dankbarkeit, lobt Welle; ein informativer Band, der über die Kommunikation mit Dementen aufklärt, schließt Glasenapp. Und im Welt-Interview mit Tilman Krause spricht Inge Jens über die letzten Jahre mit ihrem Mann.


Wolfgang Reinhard
Die Unterwerfung der Welt
Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415-2015
C.H. Beck Verlag, München 2016, 1648 Seiten, 58 Euro



Wolfgang Reinhards monumentale Geschichte des europäischen Kolonialismus, die jetzt noch einmal neu bearbeitet erschienen ist, dürfte auf Jahre ein schwer einzuholendes Standardwerk sein, glaubt taz-Kritiker Michael Brumlik. Von den frühen Anfängen der europäischen Expansion in Antike und Mittelalter bis zur Dekolonisation im zwanzigsten Jahrhundert - Reinhard weiß historische Sachverhalte souverän und in brillanter Argumentation zu schildern, lobt Brumnik. Auch SZ-Kritiker Gustav Seibt ist angetan von Reinhards "kühler sozialwissenschaftlicher Begrifflichkeit", die anschaulich, unterlegt mit einem "Grundbass des Sarkasmus" den Leser durch alle Weltteile und Epochen reisen lässt und die Vorgeschichte der aktuellen Flüchtlingsströme erläutert. In der Zeit
begrüßt Andreas Eckert die Berücksichtung aktueller Forschungen und die zwar gelegentlich "hemdsärmeligen", aber doch gut zugänglichen Reflexionen des Autors, auch wenn ihm die Rückwirkung des Kolonialismus auf Europa selbst zu kurz kommt. Michael Brumnik zeigt sich in der taz ein wenig irritiert, dass der Historiker die vom Deutschen Reich 1903 in Südwestafrika verübten genozidalen Verbrechen nur andeutet. Wenn sich Reinhard der "orientalischen Frage", dem Zweiten Weltkrieg im Fernen Osten, der Unabhängigkeit Indiens oder der Gründung des Staates Israel widmet, ist der Kritiker nicht nur wieder ganz bei Reinhard, sondern ersetzt ihm mit seinem Band auch ganze Monografien.


Barbara Beuys
Helene Schjerfbeck
Die Malerin aus Finnland
Insel Verlag, Berlin 2016, 464 Seiten, 29 Euro



Das "Leben der Frida Kahlo verbunden mit dem Auge von Edvard Munch" schwärmte The Independent über die finnische Malerin Helene Schjerfbeck, die in Skandinavien als eine der bedeutendsten Malerinnen des 20. Jahrhunderts gefeiert wird, hierzulande aber vor allem durch die Ausstellung in der Frankfurter Schirn 2014 wiederentdeckt wurde. Umso schöner, dass Barbara Beuys, die mit einer Biografie über Paula Modersohn-Becker und einem Buch über Emanzipation im Kaiserreich geradezu prädestiniert scheint, nun die erste umfassende Biografie über Schjerfbeck vorlegt, schwärmt Julia Voss in der FAZ. "Detailreich recherchiert" und fesselnd geschrieben rückt Beuys hier Klischees über die chronisch kranke Künstlerin zurecht, die zwar seit frühester Kindheit humpelte, auf ihren Reisen durch Frankreich, England oder Russland und auf ihren Streifzügen durch Museen, Städte und Landschaften aber durchaus mit der Gehbehinderung umzugehen wusste, meint Voss. Beeindruckt liest die Kritikerin, wie Schjerfbeck zunächst als Wunderkind gefeiert wurde, sich in der Männerdomäne durchkämpfte, bis sie im Jahre 1885 durch eine Schmähkritik verspottet wurde und dennoch die Anfeindungen und Rückschläge bewältigte. Auch einen Einblick in die privaten Tragödien der Malerin gewährt Voss dieses Buch, dem sie zahlreiche Leser und Übersetzungen wünscht.