Bücherbrief

Wundersam wispernde Erdhymne

06.05.2019. William Boyd erzählt wie die alten Russen vom Paris des Fin de Siècle, Nell Zink schlachtet spielerisch und märchenhaft jede heilige Kuh der Identitätsdebatten, Max Porter versetzt eine Dorfgemeinschaft poetisch-sinnlich in Aufruhr und Johannes Fried behauptet: Jesus starb gar nicht am Kreuz. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Mai.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

William Boyd
Blinde Liebe
Die Verzückung des Brodie Moncur
Kampa Verlag. 512 Seiten. 24 Euro

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Wer William Boyd nicht lesen mag, ist entweder ziemlich übellaunig oder ein Verächter klassischer Literatur, glaubt Dlf-Kultur-Kritiker Rainer Moritz. Denn klassisch erzählen, das kann Boyd sogar wie die alten Russen, fährt Moritz fort, der in der Geschichte um einen jungen Schotten, der sich Ende des 19. Jahrhunderts in Nizza zur Lungenkur einfindet und sich dort in eine russische Sängerin verliebt, die wiederum mit einem irischen Klaviergenie und Trinker liiert ist, alles findet, was ein "good read" braucht: Eine verbotene Liebe, Intrigen, eine Prise Krimi, ein paar literarische Querverweise und historische Exkurse und viel raffiniert gestaltete Atmosphäre. Boyd ist eben eine Alleskönner, der geschickt mit den Genres jongliert, meint auch FAZ-Kritiker Tobias Döring, der mit dem fünfzehnten Roman des Autors einem Tschechow-Wiedergänger begegnet und sich von Boyds "opulenten Szenerien" und der Sogkraft des Romans von Edinburgh ins Paris des Fin de Siecle, über Nizza, Sankt Petersburg und Triest bis in den Golf von Bengalen mitreißen lässt. Es mag noch bessere Romane von Boyd geben, meint Döring, die Mischung aus "etwas Sex und ganz viel Herzschmerz" hat ihn dennoch hervorragend unterhalten. Im Welt-Porträt spricht der Autor über sein Buch und die Bedeutung von Kultur.

Nell Zink
Virginia
Roman
Rowohlt Verlag. 320 Seiten. 22 Euro

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Die in Brandenburg lebende Kalifornierin Nell Zink hat sich längst auch hier zulande eine Fangemeinde erschrieben, die den neuen, im Original bereits 2015 erschienenen Roman denn auch begeistert aufnimmt. Erzählt wird die Geschichte der lesbischen Peggy, die mit ihrem schwulen Lyrikdozenten zwei Kinder bekommt, bald mit dem jüngeren der beiden in den Wald flieht, die Identität einer Schwarzen annimmt und unter prekärsten Bedingungen lebt, bis am Ende schließlich alles gut wird, resümiert Petra Kohse in der FR und staunt, wie spielerisch, märchenhaft und unpsychologisch Zink Identitäten dekonstruiert. Wunderbar und originell, wie die Autorin das alte Sujet der "Mesalliance" mit aktuellen Gender- und Race-Konflikten, wie sie heute in ähnlicher Form bei Philipp Roth zu finden sind, vermischt, freut sich auch Hannah Lühmann in der Welt. Hier wird so ziemlich jede "heilige Kuh" der amerikanischen Gender- und Identitätsdebatten genüsslich geschlachtet, ergänzt  Maike Albath im Dlf-Kultur. "Finsteren Humor" entdeckt auch Spiegel-Kritikerin Jana Felgenbauer in dem Roman, der ihr eine "spießige Gesellschaft" vorführt, "in der Doppelmoral und Rassismus bis heute an der Tagesordnung sind". Im RBB-Interview hat Nadine Kreuzzahler mit der Autorin gesprochen.

Yambo Ouologuem
Das Gebot der Gewalt
Roman
Elster Verlagsbuchhandlung. 276 Seiten 24 Euro

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Dies Buch eines brillanten Autors hatte ein tragisches Schicksal. Es ist eine kühne Tat des Schweizer Kleinverlags, es neu herauszubringen. Vielleicht wird ihm auch im deutschen Raum die verdiente zweite Karriere beschieden sein. Den besten Artikel zur französischen Neuausgabe hat Abdourahman Waberi für den Afrika-Teil von Le Monde geschrieben: Er macht deutlich, dass der Roman dieses Absolventen der Ecole Normale Supérieure und Doktors der Soziologie die Literatur der "Négritude" brutal in Frage stellte: Ouologuem habe die Idealisierung des vorkolonialen Afrika mit einem Schlag beenden wollen: Die Kolonisierung hatte vorm Kolonialismus begonnen, es hatte Sklavenhändler gegeben, europäische und arabische. Und die afrikanischen Eliten kollaborierten. Auch im Gut-Böse-Schema des heutigen Postkolonialismus dürfte dieser Roman ziemlich sperrig wirken. Der Roman erhielt 1968 den Prix Renaudot und wurde später wegen angeblicher Plagiate scharf angegriffen und vom Markt genommen - Ouologuem hatte stets beteuert, dass er bewusst mit einigen Graham-Greene-Versatzstücken gespielt habe, so wie es später etwa Peter Ezterhazy in seinen Romanen tat. Ouologuems Widerentdeckung ist fällig, betont auch Cornelius Wüllenkemper im Deutschlandfunk.
 
Helene Bukowski
Milchzähne
Roman
Blumenbar. 256 Seiten. 20 Euro

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"Milchzähne" lautet der Titel des Debütromans der erst 25 Jahre alten Hildesheimer Studentin Helene Bukowski, der uns die Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung erzählt, die von den anderen Bewohnern isoliert in einem dystopischen Dorf leben und auf jeweils eigene Weise mit der Außenseiterstellung umzugehen versuchen. Das nicht viel mehr passiert, stört die KritikerInnen nicht: Allein wie die Autorin mit vom Himmel fallenden Vögeln oder Tieren, deren Fell durch die drückende Hitze plötzlich weiß wird, Spannung und eine albtraumhafte, bedrückende Welt erschafft, findet Zeit-Kritikerin Antonio Baum grandios. Vor allem aber lobt sie die "poetische Präzision", mit der Bukowski den Konflikt zwischen Mutter und Tochter schildert. "Verstörende Irritation" und "unangestrengte gesellschaftspolitische Aktualität" attestiert auch Carola Ebeling in der taz dem Roman, der ihrer Meinung nach die Fragen nach Zugehörigkeit und Isolation bewegend und sogkräftig umkreist. Und SZ-Kritikerin Jutta Person zieht in dieser Robinsonade gar Parallelen zu Cormac McCarthys "Die Straße" bis zu Denis Johnsons "Fiskadoro". Für den Spiegel bespricht Isabel Metzger das Buch. Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf Sibylle Bergs vielfach gelobte neue Dystopie "GRM. Brainfuck" (Bestellen): Ein leuchtendes Highlight zwischen all der langweiligen "Agenturprosa", sarkastisch, witzig, unterhaltsam und wohl strukturiert, meint etwa Jan Wiele in der FAZ.
 
Max Porter
Lanny
Roman
Kein und Aber Verlag. 224 Seiten. 22 Euro

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Spätestens seit seinem Debüt "Trauer ist das Ding mit den Federn" liegen die KritikerInnen dem britischen Schriftsteller Max Porter zu Füßen und so erntet auch der neue Roman "Lanny" ausschließlich Hymnen. Als "wundersam wispernde Erdhymne" auf den Einklang mit der Natur preist etwa SZ-Kritiker Bernhard Blöchl die Geschichte um das plötzliche Verwschwinden des hypersensiblen kleinen "Lanny": So "rhythmisch", experimentell, poetisch, sinnlich, bisweilen surreal und rätselhaft hat lange niemand von der Stadt-Land-Thematik erzählt, staunt Blöchl, der hier nicht nur der in Aufruhr versetzten Dorfgemeinschaft und der mythischen Gestalt des Schuppenwurz lauscht, sondern auch die grafische Gestaltung des Textes bewundert. FAZ-Kritiker Andreas Platthaus fühlt sich nach der Lektüre dieser Mischung aus Psychothriller, Komödie, Gespenstergeschichte und psychologischer Studie inhaltlich an Julian Barnes und typografisch gar an Laurence Sterne erinnert. Und für Spiegel-Kritiker Jochen Overbeck ist Porter ohnehin ein "Meister der Tonalitäten". Als freudig "sprudelnden Wortkessel" bezeichnet Alexandra Harris im Guardian den Roman.


Sachbuch

Beata Ernman, Malena Ernman, Greta Thunberg, Svante Thunberg
Szenen aus dem Herzen
Unser Leben für das Klima
S. Fischer Verlag. 256 Seiten. 18 Euro

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Greta Thunberg ist im Alter von sechzehn Jahren bereits für den Friedens-Nobelpreis nominiert, hat eine Papst-Audienz hinter sich, wird von den einen als Klima-Ikone verehrt und von den anderen als ferngesteuerter Moralapostel geächtet. Kontrovers, wenn auch nicht ganz so drastisch, nehmen die KritikerInnen denn auch das in Schweden bereits vergangenen August, also noch vor dem Hype erschienene Buch zur Hand, bei dem es sich der Verlag natürlich nicht hat nehmen lassen, Greta präsent aufs Cover zu drucken, obwohl das Buch weitgehend von ihrer Mutter, der in Schweden berühmten Opernsängerin Malena Ernmann verfasst wurde, wie etwa SZ-Kritiker Alex Rühle moniert. Auch dass Ernmann sämtliche Erkrankungen der Familie (Asperger, ADHS, Burnout) mit dem Zustand der Welt kausal zu verquicken versuche, zu "Superkräften" verkläre und Fakten übersehe, ärgert Rühle. Wenn sich auf Seite 99 dann jedoch Greta mit einem Brief an die Erwachsenen einschaltet, in dem sie sachlich und "konsistent" über Gründe und Folgen der Klimakrise schreibt, zieht Rühle doch etwas Gewinn aus der Lektüre. In der Zeit ist Iris Radisch immerhin fasziniert, wie Ernmann die Krankengeschichte ihrer Tochter Greta aus der "Oskar-Matzerath-Perspektive" erzählt und dabei die Kategorien von Normalität und Verrücktsein umkehrt. Auch Arno Widmann erkennt in der FR, wie falsch unsere Sicht auf Krankheit und Leistung ist. In der FAZ nimmt Elena Witzeck aus der in 92 Szenen und mit allerhand Pathos gehaltenen "Predigt" etwas widerwillig ein schlechtes Gewissen mit, interessante Einblicke in Gretas Welt und die Zukunft unseres Planeten verdankt indes Spon-Kritiker Claus Hecking dem Buch.

Jan Zielonka
Konterrevolution
Der Rückzug des liberalen Europa
Campus Verlag. 206 Seiten. 19,95 Euro

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Dies Buch des Oxforder Politologen ist interessant als liberale Kritik am Liberalismus - immerhin ist es als Brief an den 2009 gestorbenen Ralf Dahrendorf verfasst. Die Kritiker empfehlen es als Anregung und Ideenmaschine im Vorfeld der Europa-Wahlen am 26. Mai. Der Marktliberalismus, der seit 1989 in der EU gepredigt worden sei, war gerade der größte Fehler der Liberalen, so etwa der Rezensent Peter Sawicki in der Kritik des Deutschlandfunks. Zielonka präferiere bei weitem den Sozialliberalismus der siebziger Jahre, der die Freiheitswerte in der Idee des Sozialstaats grundiert habe. Die Diagnose ist scharf und polemisch. Sawicki hebt hervor, dass Zielonka es schaffe, die etablierten Strukturen zu kritisieren, ohne selbst in Populismus zu verfallen. Übrigens lehne Zielonka diesen Begriff auch als Beschreibung für die Demagogen in der Politik ohnehin ab - er ziehe den Begriff der Konterrrevoultionäre vor. Leider, so Sawicki wie vor ihm schon andere Kritiker, seien Zielonkas Lösungsvorschläge eher dünn. Das Buch scheint sich zur Diagnose besser zu eignen als zur Therapie.

Harald Haarmann
Vergessene Kulturen der Weltgeschichte.
25 verlorene Pfade der Menschheit
C.H. Beck. 223 Seiten. 18 Euro

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Dieses Buch stellt unsere überkommenen Vorstellungen von der Kulturgeschichte der Menschheit auf den Kopf. Zumindest versichert das Günther Wessel im Dlf-Kultur, der als einziges der von uns ausgewerteten Medien das Buch bisher besprochen hat. Fasziniert lässt sich der Kritiker von dem Sprachwissenschaftler Harald Haarmann mit zum Goldland Punt, nach Dilmun oder in die steinzeitliche Siedlungen am Baikalsee nehmen, lernt, dass man mit modernen Luftkameras im angeblich unberührten Amazonasgebiet begrabene Überreste ganzer Städte findet, von denen man noch nie gehört hat oder dass viele Kulturen wegen eingeschleppter Krankheiten komplett ausgestorben sind. Wenn ihm Haarmann dann noch schildert, dass Europäer schon vor 20.000 Jahren in Nordamerika landeten und sich selbst in Peru genetische Beweise einer Präsenz von Europäern aus prähistorischer Zeit finden, nimmt der Kritiker offenbar so viel Wissen aus dem Buch mit, dass er ganz vergisst, etwas über dessen Machart zu verraten.

Johannes Fried
Kein Tod auf Golgatha
Auf der Suche nach dem überlebenden Jesus
C.H. Beck. 189 Seiten. 19,95 Euro

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Gerade erst hat das "Forschungszentrum Generationenverträge" der Universität Freiburg den ohnehin gebeutelten Kirchen einen Mitgliederschwund von 22 Prozent bis zum Jahr 2035 prognostiziert - und nun soll ihr Gründer nicht mal am Kreuz gestorben und drei Tage später wieder auferstanden sein? Stattdessen soll Jesus durch eine Punktierung der Pleurahöhle durch die Lanze eines Soldaten die Kreuzigung überlebt haben, in ein CO2-Koma gefallen sein und in Ostsyrien unentdeckt weitergelebt haben. Steile These! Aufgestellt vom Mittelalter-Historiker Johannes Fried, dem die KritikerInnen zwar nicht uneingeschränkt glauben wollen, aber doch fasziniert folgen. Wenn Fried seine unfallchirurgischen Hypothesen archäologisch grundiert und sich auf den Passionsbericht des Johannes sowie auf apokryphe Evangelien bezieht, scheint Dlf-Kultur-Kritiker Erich Rommeney das ganze nicht mal unplausibel. Der in der FAZ rezensierende evangelische Theologe Peter Gemeinhardt wirft Fried zwar unwissenschaftliches Arbeiten vor, liest das Buch dann aber immerhin als Krimi. Glauben kann man ja viel, auch, dass Jesus als gärtnender Rentner sein Leben fristete, findet SZ-Kritiker Rudolf Neumaier, der Frieds bei Pathophysiologen, Molekularbiologen und im Evangelium des Johannes gesammelten Informationen aber durchaus einen Wissenszuwachs verdankt. Angenehm "nüchtern" erzählt und gerade deshalb erfrischend, meint auch Thomas Ribi in der NZZ.

Peter Godfrey-Smith
Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins
Matthes und Seitz. 296 Seiten. 28 Euro

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 Nur eine Kritik hat dieses Buch bisher erhalten, was am zugegebenermaßen etwas speziellen Thema liegen mag. Aber das, was Dlf-Kultur-Kritiker Volker Wildermuth über Peter Godfrey-Smiths Krakenbuch schreibt, klingt ausgesprochen spannend: Als Lichtblick unter den Kraken-Büchern preist der Kritiker das Werk, das zwar auch Anekdoten und "Fun-Facts" enthält, darüber hinaus aber vor allem allerhand Wissenswertes präsentiert: Ein Großteil des zu "fortwährendem chromatischen Geplapper" neigenden Nervensystems der Kraken sitzt in ihren Armen, die dann gerne auch mal improvisieren, erfährt Wildermuth hier beispielsweise. Auch, dass Sepien ganz unterschiedliche Persönlichkeiten haben, erfährt Wildermuth von Godfrey-Smith. Und wenn der Autor sein Wissen über Kraken schließlich mit einer Geschichte über die Evolution des Geistes verknüpft, lernt der Rezensent auch noch eine Menge über sich selbst.