Bücherbrief

Bücherbrief Dezember 05

Der Newsletter zu den interessantesten Büchern des Monats.
03.12.2005. Liebende im Sozialamt, eine Ukrainerin im Kanal, ein Haudrauf in Hochform und ein Klops auf dem Mond: In unserem Bücherbrief finden Sie die besten Bücher des vergangenen Monats.
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Der Bücherbrief kommt auch per eMail, wenn Sie hier Ihre Adresse hinterlassen. Außerdem finden Sie weitere Anregungen hier in den Büchern der Saison, hier in der Auswertung der neuen Literaturbeilagen, hier in Arno Widmanns "Nachttisch" oder hier im vergangenen Bücherbrief.


Sex mit dem Sachbearbeiter

"Jeder Satz knallt und bumst und brennt." Endlich! In diesem an Newcomern so armen Bücherherbst ist Kirsten Fuchs' Romanerstling gleich doppelt willkommen, und so feiert die FAZ "Die Titanic und Herr Berg" überschwänglich Tanja hat beim Sozialamt Sex beantragt, Herr Berg ist ihr zuständiger Sachbearbeiter und natürlich landen beide miteinander im Bett. Der Roman ist auf schamlose und nette Weise obszön, prustet die SZ, drastisch und komisch zugleich. Die taz führt ihr Amüsement weniger auf die Geschichte als auf den "herrlich sprachmanschettenlosen" Stil zurück.


Koloniales Portugal

Bis in sechsstellige Gefilde hat es Miguel Sousa Tavares in Portugal mit seinem Roman über das humanitäre und wirtschaftliche Scheitern des portugiesischen Kolonialismus geschafft. Nicht ohne Grund: Mit journalistischer Präzision und "ungebrochener Erzählfreude", wie die FAZ anerkennend bemerkt, beschreibt der bekannte Reporter und Fernsehmoderator die historische Kulisse und Gesellschaft einer kleinen Insel-Kolonie in Afrika. Dort, "Am Äquator" versucht Luis Bernardo Tavares in einer "exuberanten" tropischen Landschaft gegen alle Widerstände, die Lage der schwarzen Plantagenarbeiter zu verbessern. Indem der Autor sich stilistisch am historischen Roman a la Alexandre Dumas orientiert, erfindet er zudem ganz nebenbei und mit hundertjähriger Verspätung das Genre des "afrikanischen Decadence-Romans".


Manifest der neuen Ukraine

Ljubko Deresch war unglaubliche 16 Jahre alt, als er "Kult" geschrieben hat. Umso mehr staunt die FAZ über diesen "irrwitzigen Mix aus literarischen und pokulturellen Versatzstücken", in der Hochkultur, Esoterik, Trash und Splatter mit "atemberaubender Kühnheit" zur Reaktion gebracht werden Der angehende Lehrer Jurko Banzai, der sich in der hintersten Ukraine mit einer Schülerin an diversen Drogen erfreut, wird auserkoren, die Welt vor den Mächten der Finsternis zu retten. Für die Zeit leuchtet dieses Manifest der neuen, westorientierten Generation in der Ukraine in der Nacht. Einzig die NZZ bleibt nüchtern und wundert sich zunächst über die befremdliche Belesenheit des Teenagers und Kultautors Deresch.


Haudrauf in Hochform

Für alle, die ihr Bücherregal effizient nutzen wollen: Martin Amis bietet in "Die Hauptsachen" gleich dreierlei: eine Auseinandersetzung mit den wichtigsten Erfahrungen in dem nicht gerade erfahrungsarmen Leben des britischen Starschriftstellers, eine "rasante" Reflexion über den Zustand des menschlichen Geistes sowie das "unendlich reizvolle" und zugleich universell anwendbare Porträt einer Vater-Sohn-Beziehung. Und das alles ist, versichert die FAZ, ist auch noch "glänzende Unterhaltung auf stilistisch höchstem Niveau". Noch Fragen? Nun gut: Amis, der taz bisher als "eitler Haudrauf" bekannt, wird hier sympathisch empfindsam, und die SZ ist jetzt noch geblendet von der "Brillanz jeder einzelnen Szene".


Grausamkeit mit Stil

Eine Empfehlung aus der von uns hier traditionell vernachlässigten Sparte des Kriminalromans: Eine alte Ukrainerin im Kanal, deutscher Adel mit dunkler Vergangenheit in Grunewald, ein Anwalt in Handschellen am Heizkörper. "Das Kindermädchen" von Elisabeth Herrmann wird vom Tagesspiegel als politischer Krimi mit hohem Unterhaltungswert gepriesen. "Wunderbar!" Und auf der Bestenliste von Welt, Arte und Nordwest-Radio steht Herrmann im Dezember ganz oben. Die Jury hat die in feinsten Kreisen angesiedelte "Grausamkeit mit Messerbänkchen" restlos überzeugt.


Minotaurus revisited

Für Borges waren alle Geschichten Variationen von vier Urgeschichten. Die griechischen Mythen sind Beispiele dieser Universalerzählungen und werden nun von einer internationalen Auswahl von Autoren neu erzählt. Im Berlinverlag sind die ersten Ergebnisse dieser Zusammenarbeit von 30 Verlagen aus der ganzen Welt erschienen, die die SZ ehrfurchtsvoll als "verlegerische Herkulestat" bezeichnet. Von Karen Armstrong gibt es zur Einführung "Eine kurze Geschichte des Mythos" Margaret Atwood hat sich in "Die Penelopiade" Odysseus und Penelope vorgenommen, Viktor Pelewin erzählt in "Der Schreckenshelm" den Mythos von Theseus und dem Minotaurus aus seiner Sicht, und Jeanette Winterson widmet sich in "Die Last der Welt" Atlas und Herkules.


Gesellschaftliches Totalversagen

Nicht gerade besinnlich, aber wichtig: Nach dem Mord an Theo van Gogh hat die niederländische Gesellschaft eine kollektive Panik vor dem Fremden erfasst. Geert Mak, der mit seinem hochgelobten Familienroman "Das Jahrhundert meines Vaters" vor zwei Jahren auch in Deutschland reüssierte, erzählt in einem schmalen Suhrkamp-Band nun das Versagen der Politiker in der öffentlichen Diskussion, die Suche nach Sündenböcken und das Heißlaufen der medialen Meinungsmaschinerie. Eine "glänzende" Streitschrift, jubelt die FAZ, ein "Manifest zum Menschheitsthema Xenophobie", das nicht and die Niederlande gebunden sei, sondern alle zwei, drei Wochen wieder irgendwo auf der Welt neue Gültigkeit erlangt.


Zum Mond und zurück


Das letzte "geradezu beflügelte" Werk von Friedrich Karl Waechter, der im September verstarb, ist nicht nur ein "wunderbares" Büchlein zum Verschenken, versichert die FAZ. Waechter hat mit "Vollmond" aus einem alten Kindervers eine "schöne, anmutige" Geschichte gemacht, die den Kindern, aber auch den Liebenden dieser Welt nicht vorenthalten werden sollte. Eine "spezifische Schwere" erhalten die Bilder, wenn man weiß, dass Waechter die Geschichte unmittelbar nach seiner zweiten Cortison-Behandlung gezeichnet und geschrieben hat. Das geht aus einer kurzen Notiz hervor, die der aktuellen Auflage beigelegt wird.


Vollendung

Ein prächtiges Präsent ist schließlich Richard Avedons letzter Bildband "Woman in the Mirror" Im Rückblick und "in Vollendung" verhandelt er hier noch einmal seine Lebensthemen Schönheit und Tod, meldet eine bildertrunkene FAZ. Und wenn Avedon wie in der Studie von Marilyn Monroe aus dem Jahr 1957 dem "Schauer des Lebens" auf der Spur ist, gibt es kein Halten mehr. "Abgründiger kann ein Porträt nicht sein."