Außer Atem: Das Berlinale Blog

Verlassen und Verlassen-Werden - ein Festivalresümee

Von Thomas Groh, Anja Seeliger
17.02.2017. Beziehungskrisen, aber vor allem ein Rückzug in die ästhetische Komfortzone prägen diesen Jahrgang. Liegt es daran, dass das Kino auf der Berlinale wirkte wie eine überalterte Kunst? Aber an den Rändern des Festivals plädieren einige Filme für einen absichtslosen Blick in die Welt. Und in Nebensektionen gab es die Filme, über die eigentlich gestritten werden sollte, Nicolas Wackerbarths "Casting" und Raoul Pecks "I am not your Negro" (Auf dem Bild: Bärenfavorit Aki Kaurismäki, Foto: Malla Hukkanen)
Nach einer Woche Filmwahnsinn am Potsdamer Platz und in den über das Stadtgebiet verstreuten Kino-Satelliten verlangen die Gepflogenheiten nach einem Resümee. Am naheliegendsten ist dafür traditionell der Wettbewerb als prominenteste Sektion und aufgeweckte Menschen können dem in seiner weitgehenden Nettigkeit von nur wenigen Ausreißern nach oben oder unten unterbrochenen Programm sicher ohne weiteres eine Art übergreifendes Narrativ abgewinnen. Mehreres sticht ins Auge: Die Erosion größerer wie kleiner sozialer Strukturen etwa scheint das Weltkino derzeit sehr zu beschäftigen, wenn man dem kleinen Ausschnitt glauben darf, den ein Festivalwettbewerb daraus zu bieten in der Lage ist.


"On the Beach at Night Alone" von Hong Sang-Soo.

Insbesondere in Liebesdingen herrscht derzeit offenbar erheblicher Bedarf zur Auseinandersetzung: Ob in Thomas Arslans "Helle Nächte", Volker Schlöndorffs "Rückkehr nach Montauk" (unsere Presseschau), Jörg Haders "Wilde Maus" oder in den beiden nach Meinung vieler Kritiker aussichtsreichsten Bärenkandidaten "Die andere Seite der Hoffnung" von Aki Kaurismäki und "On the Beach at Night Alone" von Hong Sang-Soo - in allen diesen Filmen spielen die Trennung oder die Trauer um verflossene Liebschaften eine zentrale Rolle. In Ildikó Enyedis früh im Wettbewerb gezeigten "On Body And Soul" (den man im Bärenpoker auch noch im Hinterkopf behalten sollte) müssen hingegen erst gemeinsam erlebte Träume dafür herhalten, dass zwei Seelenpartner ihre sozialen Inkompetenzen überschreiten und zueinander finden. Der portugiesische Beitrag "Colo" von Teresa Villaverde zeigt eine Familie im Verfall: Zum Einstieg rätselt der Vater denn gleich, ob die nicht nach Hause gekommene Mutter überhaupt noch wiederkehrt.

Auch im Forum wurden Beziehungen einer Prüfung unterzogen ("Golden Exits") oder gleich aufgelöst ("Werewolf"). Einen Widerhall fand diese thematische Konstante selbst noch in der SF-Retrospektive: Steven Spielbergs "Close Encounters of the Third Kind" und John Frankenheimers grandios verstörender "Seconds" allegorisieren auf je eigene Weise den Fortgang aus bestehenden Beziehungen. Es war die Berlinale des Verlassens und Verlassen-Werdens - damit einher gehen mag auch schließlich, dass die Zahl an Selbstmordversuchen, denen man auf der Leinwand beiwohnen konnte, diesmal zumindest gefühlt höher lag als in vorangegangenen Festivaljahrgängen - auch wenn sie in "Wilde Maus" und "On Body and Soul" ins sonderbar Drollige verschoben waren.


"Die andere Seite der Hoffnung" von Aki Kaurismäki

Zum anderen fällt die Gesetztheit der Formen auf - ein wiederkehrendes Problem des Berlinale-Wettbewerbs unter Direktor Dieter Kosslick, dessen (noch bis 2019 währende) Intendanz Helmut Kohls Bundeskanzlerschaft an Dauer bald überschreitet. Gäbe es einen Bärenregen etwa für Aki Kaurismäki, hätte die Jury unter Paul Verhoeven weißgott meinen Segen. Nur: Impulse gehen von diesem Film, diesem Wettbewerb, dieser möglichen Bärenentscheidung nicht mehr aus. Die Königssektion hat sich in diesem Jahr spürbar eingeigelt in Form eines Sicherheitsdenkens, welches das Altmeisterliche oder wenigstens Gediegene gegenüber dem Risiko bevorzugt. Dass ein bloß solider Ekelfilm wie Álex de la Iglesias außer Konkurrenz gezeigte Terrorangst-Satire "El Bar" einem mit seiner Lust an der Groteske, an der Übertreibung und am Überschuss bereits wie frischer (wenn auch nach Kanalisation und Olivenöl riechender) Wind vorkommt, spricht Bände (und erinnert einen wehmütig an Berlinale-Zeiten, in denen neueste Hongkong-Action noch genauso obligatorisch war wie Midnight-Movie-Screenings oder ein öbszöner Para-Porno wie Tsai Ming-Liangs oddball "The Wayward Cloud" im Jahr 2005). Und ein Regisseur wie Călin Peter Netzer ("Ana, mon amour") drückt mit seinen 41 Jahren als Nesthäkchen (!) den Altersdurchschnitt der im Wettbewerb versammelten Filmemacher sichtlich. Die meisten von ihnen befinden sich bereits tief in ihren Fünfzigern.

Das ist natürlich nichts, was bereits von vornherein gegen deren Filme spricht. Ein Offenbarungseid ist diese Altersstruktur des Wettbewerbs aber durchaus. Das Interesse der Wettbewerbskommission am Kino des Nachwuchses scheint jedenfalls merklich abgekühlt, wenn es dafür denn überhaupt noch eine Spürnase gibt. Warum nicht Mut zum jungen Film, zum Experiment? Die Kritiker liebten beispielsweise Julian Radlmaiers "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" ähnlich wie sie vor wenigen Jahren vor Ramon Zürchers "Das merkwürdige Kätzchen" auf die Knie gegangen sind. Beide Filme wurden in Nebensektionen verbuddelt.


"Untitled" von Michael Glawogger

Vielleicht liegt darin aber auch ein Symptom einer um sich greifenden Formverkrustung? Damit meine ich gar nicht so sehr das allgemeine Festivalprogramm, das mit seinen mittlerweile knapp 400 Filmen ohnehin nach dem Prinzip Schrotgewehr vorgeht: Irgendwas wird man schon treffen, schon aus stochastischen Gründen müssen sich gute, interessante Filme befinden (und Lukas Foersters Fürsprache für eine Fleckenteppich-Berlinale ist zweifellos stichhaltig). Auffällig an dieser Berlinale war jedenfalls einmal mehr, dass sich von den Rändern des Festivals her ein Plädoyer für die einfache, persönliche Form abzeichnete, die die Beobachtung und den flüchtigen Moment gegenüber der formale Zuspitzung und Aufladung des Bildes privilegierte. Ein Film wie Michael Glawoggers postum fertiggestellter "Untitled" etwa fühlte sich wie eine Einladung zum offenen, neugierigen Blick in die Welt an. Der thailändische Essayfilm "Railway Sleepers" des langjährigen Weerasethakul-Assistenten Sompot Chidgasornpongse begnügte sich 102 Minuten lang damit, Zugpassagiere zu beobachten - wobei der Blick der Kamera immer wieder auch aus dem Fenster in die Welt nach draußen abschweifte, wo sich manchmal für ein, zwei oder mehr Sekunden herzzerreißend schöne Digitalfilm-Poesien abzeichneten.

Mit seinen Architekturfotografie-Filmen - das Forum zeigte dieses Jahr gleich vier davon, "2+2=22 [The Alphabet]" und "Socialism" habe ich gesehen und sehr genossen -  lädt Heinz Emigholz ohnehin seit Jahren dazu ein, die materielle Umwelt wachsam und genau zu beobachten - und das weit abseits eines possierlichen Impressionismus. Zu den schönsten Entdeckungen des Festivals zählt aber Ann Carolin Renningers und René Frölkes ungeheuer schöner, bewusst auf Super8- und 16mm-Material entstandener Porträtfilm "Aus einem Jahr der Nichtereignisse", dessen in Kauf genommene Brüchigkeit die Poesie des Materials und dessen Verhältnis zur Flüchtigkeit der sinnlichen Eindrücke bewusst zelebrierte.


"Aus einem Jahr der Nichtereignisse" von Ann Carolin Renninger und René Frölke

Allesamt Filme, bei denen man sich fragt, warum sie so selten sind. Im Zeitalter des Smartphones laufen fast alle mit einem halben Filmstudio in der Hosentasche durch die Welt. Taugliches, mobiles Equipment ist so günstig wie nie zuvor. Nie waren die Produktions- und Distributionsmittel zugänglicher. Dennoch herrscht auf den Videoportalen im wesentlichen die schier endlose Einöde eines schal gewordenen, pittoresken Professionalismus vor, dem es an spielerischer Neugier und Erkundungslust gründlich mangelt.

Filme wie "Untitled" und "Aus einem Jahr der Nichtereignisse", die schon im Titel auf das Absichtslose beharren und sich insbesondere im zweiten Fall lesen wie ein Hohn auf die sorgfältig kuratierte Ereignishaltigkeit des eigenen Alltags in den sozialen Netzwerken, sind vor dem Hintergrund dieses allgemeinen Bildersmogs als starke Plädoyers für eine gesteigerte Sensibillität gegenüber dem Reichtum der Welt zu verstehen. Ob nun in der raumgreifenden Geste Glawoggers, der für seinen Film ein Jahr lang die Welt bereisen wollte (und nach wenigen Monaten an Malaria verstarb), oder in der räumlich konzentrierten Weise des "Nichtereignisse"-Films, der sich ganz einfach einem obskuren Ort (und dessen Bewohner) aus der eigenen Nachbarschaft respektvoll nähert. Am Ende ist diese Achtsamkeit vielleicht sogar politischer als es alle Konzeptionen des Berlinale-Wettbewerbs als Großwetterlagen-Barometer. Und filmisch interessanter sowieso.

Thomas Groh


Tja, jahre- vielleicht sogar jahrzehntelang hat man sich gewünscht, dass nicht nur Zwanzigjährige die Leinwand bevölkern. Und nun, wo es in Erfüllung geht, die meisten Wettbewerbsfilmen von und mit Menschen über fünfzig kamen, stellt man fest, dass das Alter genauso banal ist wie die Jugend. Vergessen wir das.

Zwei Filme haben mir wegen ihrer Intelligenz imponiert. Nicolas Wackerbarths Spielfilm "Casting" gelingt die Beschreibung einer prekären Arbeitswelt,  die sich nicht in hohlen Thesen erschöpft über Kapitalismus und Sozialismus und weiß nicht was, sondern die am Beispiel einer Arbeitswelt, die er kennt, die Mechanismen von Aufstiegsstrategien untersucht, die in den bürgerlichen Berufen immer geleugnet werden. Der Aufsteiger ist ja sonst immer einer aus dem Kleinbürgertum. Hier ist er Schauspieler, Regisseur, Assistent. Dieser Film zeigt einen Mut zur Selbsterforschung und zur Selbstkritik, den ich im Wettbewerb nicht gefunden habe. Und zugleich zeigt er, dass Kunst aus Courage entsteht. Künstler sind mutige Menschen. Nicht, weil sie vermeintliche Tabus brechen - das macht ja heute jeder Multimillionär -  sondern weil ihr Wunsch, etwas gut zu machen, größer ist als ihr Wunsch, etwas recht zu machen.



Der andere war Raoul Pecks Dokumentarfilm "I am not your negro", der mit James Baldwin die Diskriminierung der Schwarzen reflektiert. Peck schneidet Aufzeichnungen von Redebeiträgen Baldwins mit seinem Rudiment gebliebenen, unveröffentlichten Text über die drei ermordeten Bürgerrechtler Martin Luther King, Malcolm X und Medgar Evers gegen Szenen aus Spielfilmen mit schwarzen beziehungsweise weißen Schauspielern und aktuellen Schlagzeilen über die Ermordung - so nenne ich das, Gerichte haben anders entschieden - schwarzer Bürger wie Trayvon Martin 2012.

Ich weiß nicht, wer in Deutschland heute noch Baldwin kennt. Ich habe ihn Anfang der achtziger Jahre entdeckt und seine Romane buchstäblich verschlungen. Baldwin schrieb darüber, wie es war, als Schwarzer in Amerika aufzuwachsen, als Homosexueller oder Bisexueller in einer schwarzen, durch und durch religiös geprägen Community, als Schwarzer eine weiße Frau zu lieben, als Schwarzer eine weiße Frau zu schlagen, seinen verzweifelten Bruder sexuell zu lieben und als Mädchen vom eigenen Vater vergewaltigt zu werden. Baldwin konnte so gut über Liebe schreiben und über Hass wie die größten kanonischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Und über den sexuellen Akt konnte er schreiben wie kein zweiter.



Ich kenne auch keinen anderen Autor der Moderne, der so natürlich, so ungezwungen die Perspektive des "anderen" einnehmen konnte wie Baldwin. Umso erschrockener war ich, als Peck in seinen Filmausschnitten John Wayne und Doris Day als Prototypen eines weißen Amerikas heranzieht. Wayne, aber vor allem Day waren viel kompliziertere Figuren, als Peck sie hier vorführt.

Doris Day war ihre Unabhängigkeit immer wichtiger war als die Konvention. Sie war eine konservative Republikanerin, aber sie verklagte den Ehemann, der sie bis aufs Blut ausgenommen hatte, und sie stand zu ihrem schwulen, an Aids erkrankten Filmpartner Rock Hudson, come rain or shine. Aber natürlich stimmt es auch, wenn Peck sie als Beispiel für ein Stereotyp weißer Reinheit nimmt, denn so sollte sie von ihrem Publikum gesehen werden.

Etwas später geht es um die Frauenbewegung (vielleicht war das auch in der Podiumsdiskussion nach der Vorführung im Kino International), darum, dass es nicht genügt, für Frauenrechte aufzustehen, sondern dass man immer auch die Rechte Schwarzer oder der LBGT-Community mitdenken muss. So plastisch Peck seine Wut macht: Ich bin verunsichert. Es kam mir vor, als würden die Weißen im Bösen wie im Guten (damit meine ich die Ansprüche, die zur Wiedergutmachung an sie gestellt werden) so überhöht werden, dass sie schon wieder auf einem Podest stehen. Das ist eine sehr verwirrende Erfahrung.

Ich wünschte mir, dass über diesen Film noch viel mehr diskutiert wird. Ich habe auf der Berlinale keinen anderen Film gesehen, von dem ich mir diese Art aktueller Diskussion erwarte. Und ich wünsche mir natürlich, dass auch Rowohlt das erkennt und Baldwins Bücher neu auflegt.

Anja Seeliger