9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

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1900 Presseschau-Absätze - Seite 8 von 190

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.12.2023 - Ideen

Es ist keineswegs so, dass alle der mehr als 2500 amerikanischen Universitäten Horte radikaler linker Identitätspolitik sind, hält der in Tennessee lehrende Judaist und Osteuropa-Historiker Ari Joskowicz, der in der FAZ von lebhaften Seminar-Diskussionen über den Nahostkonflikt berichtet, fest: "Keinesfalls will ich damit suggerieren, es gäbe keinen Antisemitismus auf amerikanischen Universitäten oder in der amerikanischen Gesellschaft. Das wäre genauso vermessen, wie zu behaupten, es gäbe keine Islamophobie. Ich höre immer wieder von muslimischen Studierenden oder Lehrenden, wie sie seit dem 7. Oktober rassistisch beschimpft worden sind. Ihre Erfahrungen finden meines Erachtens zu wenig Widerhall in den Medien, weil sie nicht in das größere Narrativ passen. In einer Situation, in der jüdische und muslimische Studierende als Gegenspieler dargestellt werden, erscheint der Fokus auf die Diskriminierung einer Gruppe schnell so, als würde man die der anderen relativieren. Gerade diejenigen Kritiker der Universitäten, die gerne lamentieren, dass unsere politische Kultur leidet, weil alle nur noch darum wetteifern, wer denn nun die größeren Opfer sind, scheinen ein Problem damit zu haben, anzuerkennen, dass Mitglieder unterschiedlicher Gruppen in diesem Moment gleichzeitig um ihre Sicherheit besorgt sein können."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.12.2023 - Ideen

An der Singularität des Holocaust ist sehr wohl festzuhalten, schreibt Richard Herzinger in einem Essay für die Zeitschrift Internationale Politik. Vergleiche sind erlaubt, ja geboten. Allerdings komme es sehr darauf an, wo und wie verglichen wird: "Wie mit der Singularität des Holocaust umzugehen ist, stellt alles andere als eine abstrakte theoretische Frage dar. Denn der Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte ist zu einem wesentlichen machtpolitischen Faktor in der internationalen Politik geworden. Wie die Vergangenheit betrachtet und welche Lehren aus ihr gezogen werden, bestimmt maßgeblich die Normen und Werte, auf die sich die globale Ordnung gründet."

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Der moderne Antisemitismus bedient sich immer noch großzügig aus dem Fundus des Christentums, schreibt Tilman Tarach, Autor des Buchs "Teuflische Allmacht - Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus" in der taz. Der Urtext des Antisemitismus ist für ihn das Neue Testament: "Die historisch unhaltbare Erzählung des Neuen Testaments, wonach der unschuldige römische Statthalter auf Druck der Juden Jesus hinrichten ließ, nachdem ihn der vom jüdischen Hohepriester bestochene Judas verraten hatte, imaginiert die Juden als die Strippenzieher hinter den Entscheidungen der römischen Obrigkeit: Den Nazarener, so heißt es in der Apostelgeschichte, hätten die Juden 'durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen'. Die 'Gesetzlosen', also die ohne das mosaische Gesetz lebenden Römer, erscheinen mithin nur als Marionetten der hinterlistigen Juden."

Tania Martini kommt in der taz nochmal auf die Diskussion um Masha Gessen zurück und hat eine Frage an die Böll-Stiftung, die den Preis erst bejubelte, sich dann aus der Preisverleihung zurückzog, und ihn dann, als sie Druck von der Basis spürte, wieder bejubelte. "Apropos canceln: Vielleicht müssten Jurys und Kuratoren den intellektuellen Grips haben zu wissen, wen sie sich ins Haus holen, und das dann auch verteidigen, denn canceln ist ein schlechter Ansatz." Der Arendt-Preis ging übrigens nicht zum ersten Mal an einen Israelhasser - Martini erinnert an den Preisträger Gianni Vattimo, der der Hamas Waffen liefern wollte.

Buch in der Debatte

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Der Historiker Historiker Jörn Leonhard beschäftigt sich in seinem letzten Buch mit der Frage, wie Kriege enden. Mit Blick auch auf die Kriege in der Ukraine und Gaza sagt er Interview mit Jan Pfaff von der taz: "Wann ist ein Krieg wirklich reif für den Frieden? Für diesen Moment müssten alle am Konflikt beteiligten Akteure von einer politischen Lösung mehr erwarten als von der Fortsetzung der Kämpfe. Signalisiert nur eine Partei Konzessionsbereitschaft, kann das zur Eskalation der Gewalt führen. Denn die andere Seite schließt von solchen Zeichen auf Erschöpfung und wird ihre militärischen Anstrengungen steigern, um die eigenen Ziele doch noch zu erreichen. Gerade die Endphase von Kriegen war häufig besonders blutig. Für die Ukraine bin ich skeptisch, ob bereits der Moment für glaubwürdige Verhandlungen gekommen ist."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.12.2023 - Ideen

In einem Essay in der SZ zeichnet der französische Philosoph Bernard-Henri Levy Parallelen zwischen den Kriegen in der Ukraine und in Nahost nach: "Auf der einen Seite stehen demokratische Staaten, die ihre Fehler haben, aber eben doch Demokratien sind, die beide aus einem antikolonialen Befreiungskampf hervorgegangen sind: Israel gegen das britische Königreich und die Ukraine gegen die Sowjetunion und nun Russland. Und auf der anderen Seite steht die große Allianz gegen die Demokraten im In- und Ausland. In ihr finden sich Russland mit seinen eurasischen Ambitionen, die islamistische Internationale von den Taliban über die Hamas bis Katar, eine neo-ottomanisch gesinnte Türkei, Iran mit einer imperialen Nostalgie nach dem Reich der Perser, und China, das genau beobachtet, wie die USA ihren Partnern beistehen und währenddessen überlegt, ob und wann Taiwan anzugreifen wäre. (...) Der Terrorismus ist eine Familie. Ob man Kinder aus Mariupol entführt oder aus einem Kibbuz - es bleibt die gleiche Barbarei. Angesichts dieser Internationalen des Schlimmsten kann es nur eines geben, nämlich was der tschechische Dissident Jan Patočka einst die 'Solidarität der Erschütterten' nannte. Israel und die Ukraine - das ist der gleiche Kampf. Auf diesen beiden Schauplätzen entscheidet sich die Zukunft der Freiheit. Brandgefährlich wäre es daher, nun die Hilfe für beide gegeneinander abzuwägen und die Unterstützung des einen wegen der des anderen zu vernachlässigen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.12.2023 - Ideen

Im Freitag diskutieren Jakob Augstein und Maja Göpel, Autorin populärer Bestseller zur Klimapolitik und ehemals Leiterin der Denkfabrik "The New Institute" über die Frage, ob wir es mit einer Klimareligion zu tun haben, wie Augstein in einem polemischen Essay (nicht online) geschrieben hatte. Augstein erläutert: "Der Spiegel hat neulich den Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber interviewt. Er hält eine Kreislaufwirtschaft in schon wenigen Jahrzehnten für möglich und damit eine Rückkehr ins 'Holozän-Klima'. Herr Schellnhuber ist ein Experte, der von der Klimawissenschaft unendlich viel mehr versteht als ich, aber diese Vorstellung ist doch erkennbarer Unsinn." Göpel erwidert: "Es geht um Verantwortung. Wenn jemand im Wissen der Konsequenzen seiner Verhaltensweise für andere diese Verhaltensweise fortführt, dann trägt er dafür die Verantwortung... 'Öko-Diktatur' ist doch ein Kampfbegriff. Wenn Sie sich die großen Umfragen angucken, dann sind 80 Prozent der deutschen Bevölkerung über den Klimawandel sehr besorgt. 80 Prozent haben ein Tempolimit unterstützt. Trotzdem wurde im öffentlichen Diskurs kolportiert, dass das Freiheitsberaubung sei, und die Veränderungswilligen wurden als Lemminge tituliert."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.12.2023 - Ideen

Ziemlich fassungslos resümiert Tania Martini in der taz den Abend in der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung, bei dem Masha Gessen mit tosendem Applaus begrüßt wurde und dann ihre "kruden Thesen" verbreiten durfte, immerhin stets mit Widerspruch von Moderatorin Tamara Or: "Nicht alle Juden seien in den KZs ermordet worden, 1,3 Millionen an Krankheiten und Hunger gestorben. Der größte Unterschied zwischen den Nazi-Ghettos und Gaza sei, dass in Gaza die meisten noch lebten, die Welt noch etwas tun könne. Es war die Moderatorin, die darauf hinweisen musste, dass Gaza seit 2007 von der Hamas diktatorisch verwaltet wird, man nicht von einem Rechtsradikalen wie Ben Gvir ausgehend den gesamten Konflikt erklären könne, Gessen hatte Aussagen von jenem verlesen, und dass es schlicht keinen Befehl zur Erschießung palästinensischer Zivilisten gebe. Hamas habe nicht die Mauer gebaut, so Gessen, die für Ors Frage, ob nun nicht mehr über den Vergleich, als über Gaza gesprochen werde, nur übrig hatte: 'Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen.'"

Auch in der Zeit berichtet Jens Jessen konsterniert über den enormen Zuspruch, den Gessen aus dem Publikum erhielt. Aber, überlegt er dennoch, vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass die "Verwerflichkeit eines Holocaust-Vergleichs nur von politischer Haltung und Identität der Personen abhängig ist, die ihn anstellen?" Wenn dem allerdings so sei, dann solten "bestimmte Formen der Israelkritik ein jüdisches Privileg bleiben. Deutsche sollten sie nur respektieren, nicht bejubeln." Völlig wirr findet Thomas Ribi in der NZZ die Argumentation der sonst so scharfsinnigen Autorin: "Einfach zu verstehen ist es tatsächlich nicht, was Gessen sagen wollte. Die nachträglichen Erläuterungen haben nichts geklärt, sondern die Sache nur noch mehr verwirrt."

"Kultur braucht Spinner", ist der Spon-Leitartikel von Tobias Rapp überschrieben, in dem Rapp begrüßt, dass Masha Gessen eben trotz ihres "schwachen Textes" mit dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet wurde: "Gessen hat diesen Preis für das Lebenswerk bekommen. Und das vollkommen zu Recht. Gessen ist eine interessante, wichtige und aufregende intellektuelle Person. (…) Nun ist es natürlich ein wenig bizarr, wenn jemand, der in den vergangenen Tagen in allen großen Medien Interviews gegeben hat, der deutschen Öffentlichkeit das 'Mundtot-Machen' vorwirft. Es ist aber nur in dieser Pauschalität falsch. Es gibt nämlich tatsächlich ein Problem: Die Feigheit von Teilen des deutschen kulturpolitischen Betriebs. Die Liste von Ausstellungen und Preisverleihungen, die abgesagt worden sind, ist mittlerweile ziemlich lang. Und diese Liste ist nichts, worauf man in Deutschland stolz sein sollte. Selbst und gerade, wenn man mit den politischen Positionen der Künstler und Intellektuellen, denen da die Plattform genommen worden ist, nichts zu tun haben möchte."

Hannah Arendt würde heute den Hannah-Arendt-Preis nicht mehr bekommen, behauptet die (in Deutschland allerdings eher unbekannte) Arendt-Biografin Samantha Rose Hill im Guardian und zeigt, dass man Gessens Geschichtsverdrehungen noch weiter treiben kann. Denn sie belegt ihre Behauptung mit einem Zitat Arendts, in dem sie den frühen Israelis eine "Ghetto-Mentalität" vorwirft. Und dann wiederholt Hill die bizarre These der Postkolonialisten und Gessens, dass Deutschland und seine Gedenkkultur den Blick auf israelische Verbrechen versperrten: Deutschland müsse die BDS-Resolution zurücknehmen. "Damit es nicht weiterhin zensiert, was Menschen über den Staat Israel sagen können und was nicht. Damit es nicht zu einer moralischen Komplizenschaft mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zwingt." Das Dumme mit dem von Hill bemühten Ghetto-Zitat Arendts ist allerdings, dass sie da etwas verwechselt, wendet der Autor Shany Mor auf Twitter ein: "Die Ghettos, mit denen Arendt Israel so leichtfertig vergleicht, sind die Viertel in den europäischen Städten, in denen die Juden jahrhundertelang eingesperrt waren, und nicht die städtischen Gefängnisse in Polen, in die die deutschen Besatzer in den 1940er Jahren die Juden trieben, um sie auszuhungern, bevor sie zur Vernichtung abtransportiert wurden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.12.2023 - Ideen

Der eigentliche Skandal in Masha Gessens New-Yorker-Essay liegt nicht in dem, was sie vergleicht oder gleichsetzt, sondern in dem, was sie nicht benennt und nicht vergleicht, schreibt Perlentaucher Thierry Chervel in einer Intervention zu dem umstrittenen Text. An einer Stelle will sie den Vergleich, an anderer will sie ihn quasi untersagen: "Netanjahu hatte den Mordkarneval der Hamas mit dem 'Holocaust by bullets' verglichen und löst damit bei Gessen Empörung aus. Dieser Vergleich diene nur dazu, 'die kollektive Bestrafung der Bewohner des Gazastreifens' diskursiv abzustützen: 'genauso wie Putin, der untermauern will, dass Russland berechtigt ist, ukrainische Städte mit Teppichbomben zu bombardieren, zu belagern und ukrainische Zivilisten zu töten, indem er sie als 'Nazis' oder 'Faschisten' bezeichnet.' Während der Nazi-Vergleich mit Blick auf Israel für Gessen zulässig ist, ist er es mit Blick auf die Hamas genausowenig wie mit Blick auf die Ukraine! Jene 'Gräueltaten, die wir noch nicht ganz begreifen können', sollen ohne Namen bleiben."

Auch in Gessens Preisrede vom Samstag, die bei Zeit online veröffentlicht ist, finden die Hamas-Verbrechen nicht die geringste Erwähnung. Der Holocaust-Vergleich interessiert sie nur in Bezug auf Israel. Auf den Einwand eines Journalisten, dass die Ghettos der Nazis doch um etwa fünfzig mal dichter bevölkert waren als die der Nazis, antwortet mit einem - äh - sexistischen Witz: "Ein Mann bietet einer Frau eine astronomische Geldsumme für Sex an. Sie willigt ein, mit ihm zu schlafen - sagen wir, für 10 Millionen Dollar. 'Würdest du für 10 Dollar mit mir schlafen?', fragt er dann. Empört antwortet sie: 'Was denkst du, was ich für eine bin?' - 'Wir wissen schon, was du bist. Wir feilschen nur noch um den Preis.' Ich wünschte, ich könnte einen Witz finden, der die Sexarbeit nicht stigmatisiert, um diese philosophische Konstruktion zu veranschaulichen, die darin besteht, dass die Dinge im Wesentlichen ähnlich sein können und sich in den Einzelheiten unterscheiden."

"Wir müssen die Zwischentöne aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft vernehmen und verstärken", schreiben in der FR die Politologinnen Hanna Pfeifer und Irene Weipert-Fenner, die mehr Differenzierung im Diskurs über den Nahost-Konflikt fordern: "Was bedeutet Solidarität mit Israel? Mit wem ist man solidarisch - der Regierung, dem Staat, dem Volk - und mit welchen Teilen eines Volkes genau, das doch viele Fraktionen wie Stimmen hat? Hat die Solidarität jenseits des Eintretens für das Existenzrecht Israels Grenzen oder ist sie in der Tat 'bedingungslos', also unabhängig vom konkreten Verhalten der staatlichen Gewalten? Ist andersherum mit 'Free Palestine' das Ende von Besatzung und Blockade und die Möglichkeit einer gleichberechtigten Ko-Existenz von Palästinenser:innen und Israel:innen in einem Staat oder in zwei Staaten gemeint? Oder bezeichnet 'Free Palestine' dasselbe wie 'from the river to the sea', der Parole, deren öffentliches Skandieren seit Kurzem in Deutschland verboten ist?"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.12.2023 - Ideen

Masha Gessen hat ihre Dankesrede für den Hannah-Arendt-Preis aus aktuellem Anlass umgeschrieben, berichtet Benno Schirrmeister in der taz. Es ging nun darum, "dass es falsch ist, den Vergleich von Äpfeln und Birnen (im amerikanischen Original natürlich Orangen) zu verbieten, weil nur so die Erkenntnis von Unterschieden möglich sei. ... Und auch darüber, warum sie es für notwendig gehalten hatte, in einem Essay im New Yorker Magazine am 9. Dezember die Lage im Gaza-Streifen mit der in den Zwangsghettos ausdrücklich gleichzusetzen." So richtig überzeugt hat sie Schirrmeister nicht: "Wahr ist: Um die Wesensgleichheit von Zwangsgetto und Palästinensergebieten zu behaupten, muss alles, was sie ausmacht - die extreme Enge, die Funktion, Vorposten der Vernichtung zu sein, und auf der anderen Seite die Raketenangriffe aus Gaza -, zu Nebensächlichkeiten erklärt werden. Das tut Gessen, offenbar um den Mangel ihres Arguments zu überspielen, beim Festvortrag mithilfe eines Herrenwitzes. ... Und als am Ende der Veranstaltung Arendt-Preisrichter Klaus Wolschner, Ex-taz-Redakteur, darauf drängt, doch auch etwas zur Rolle der Hamas zu sagen, reagiert Gessen unwillig. Und ebenso wollen Teile des Publikums lieber glauben, schon die Wahrheit zu wissen. Politische Diskussion findet nicht statt."

In der NZZ erklärt die Wiener Russlandexpertin Anna Schor-Tschudnowskaja den Begriff des "Homo postsovieticus", den der russische Soziologe Lew Gudkow in Anlehnung an Soziologen Juri Lewada entwickelt hat und auf die aktuelle russische Gesellschaft bezieht. "Gudkow attestiert diesem neuen Menschen noch mehr Zynismus als dem im utopischen Rausch sozialisierten Homo sovieticus... Individuelles Überleben und Fortkommen ist dann nur möglich, wenn man nicht einfach ein Opportunist ist, sondern grundsätzlich an keine standfesten Werte und wahren Überzeugungen glaubt. Menschen sind in ihrem Handeln gezwungen, sich an die repressive Herrschaftssituation anzupassen und die Vorstellung von individueller normativer Integrität und wertebasierter Autonomie fallenzulassen; öffentliches Handeln kann dann gänzlich dem privaten widersprechen, die Idee einer Verantwortungsethik ist in diesem Falle nicht möglich. "

In der taz würdigt Andreas Fanizadeh in einem Nachruf den italienischen Philosophen Antonio Negri als temperamentvollen Vertreter einer undogmatischen Linken: "Mitunter konnten seine Auftritte dabei eine durchaus dramatische Wendung bekommen. Es war 2004, als Toni Negri am Schauspielhaus Zürich auf einer Veranstaltung sprach, die ich moderierte. Teile der Autonomen-Szene aus dem Umfeld der Roten Fabrik warfen uns 'Ausverkauf' vor. Wir saßen tatsächlich vor ausverkauftem Saal auf der Bühne im Schiffbau des Schauspielhauses. Negri - ein Leben lang dem Gedanken nach einem autonomen Leben in Menschenwürde, sozialer Gerechtigkeit, Egalität und Freiheit verpflichtet - brachten die eindimensionalen Polemiken gegen ihn zur Weißglut. Die hinter Masken verborgenen anonymen Zwischenrufer schienen auf ihn herausfordernd und darin anregend zu wirken. Sofort verließ er seine Vortragsroutine. Jetzt ging es um etwas. Und Negri hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. ... einmal in Rage geredet, war der Philosoph ein Ereignis. Dann war Negri schlicht furios, wusste, wie er den Saal einfing, war witzig, scharf, eine authentische und integre Persönlichkeit. Er schien in völliger existenzieller Übereinstimmung mit dem zu sein, was er sagte und einforderte."

In der FAZ erklärt Christian Geyer: "In seinem 1982 bei Wagenbach auch auf deutsch publizierten Gefängniswerk spannt Negri die Linie Machiavelli-Spinoza-Marx. Als ein 'armes Doktorlein' wolle er zu den revolutionären Möglichkeiten der nicht-idealistischen Vernunft 'einen wahren Meister' befragen, so der Autor als einer den Ton setzenden Vorkämpfer des im industriellen Norditalien gegen ausbeuterische Verhältnisse der Fabrikarbeit gerichteten 'Operaismo'. Die Bestreikung von Automobilfabriken, dieser operative, immer weitere Branchen erfassende Protest, geschah im Zeichen des von Negri so genannten gesellschaftlichen Arbeiters. Der rabiaten, subversiv entgrenzten, jedenfalls nicht staatskommunistisch oder gewerkschaftlich gezähmten neomarxistischen Bewegung ging es um die biopolitisch geöffnete Subjektivität der Arbeiter von den Wohnverhältnissen bis zur Krankenpflege." In der SZ schreibt Willi Winkler den Nachruf auf Negri und erinnert sich an einen Philosophen, "der das Glück hatte, Ideologe und auch noch Träumer, Kommunist und trotzdem Romantiker zu sein".

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.12.2023 - Ideen

Das war die Woche Masha Gessens, die mit den deutschen Medien und der deutschen Öffentlichkeit ein gekonntes Spiel gespielt hat. Resümieren wir:

Am Montag resümiert der Perlentaucher ihren New-Yorker-Essay, wo die Autorin mit mehreren Hämmern jongliert: Die deutsche und polnische Gedenkkultur, schreibt sie, sei von rechtspopulistischen bis -extremen Kräften geprägt. Sie verstelle den Blick auf die Geschehnisse in Gaza. Ohne sie würde der Schleier fallen, und die Welt würde erkennen, dass die Israelis an der Zivilbevölkerung Vergeltung üben und das "Ghetto Gaza liquidieren". Die genozidalen Hamas-Verbrechen spielen in ihrem Essay nur eine untergeordnete Rolle.

Der Essay, stellt sich heraus, ist genau getimet und erscheint eine knappe Woche vor der geplanten Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für "politisches Denken". Zunächst thematisiert ihn nur der Perlentaucher, und auf Twitter wird debattiert. In einem Zeit-Interview, wo die Taten der Hamas nicht mal mehr ein Hintergrundrauschen sind, wiederholt sie am Mittwoch ihre Thesen (unser Resümee). Die Böll-Stiftung und die Stadt Bremen steigen aus der Preisverleihung aus. Aber wohlgemerkt: Sie bekommt ihren Preis, aber erst heute statt Freitag, sie bekommt auch ihr Preisgeld. Und die ersehnte Aufmerksamkeit für die Normalisierung einer Gleichsetzung, die laut IHRA-Definition antisemitisch ist, bekommt sie auch - auch wenn sie sich auf Twitter zunächst beschwerte, dass sich die deutschen Journalisten nicht schnell genug meldeten. Überhaupt: Eva Menasse in der Zeit und der NZZ, Deborah Feldman bei Markus Lanz, jetzt Gessen überall - ein Auftritt in den größten überregionalen deutschen Medien ist das neue "Ich-werde-mundtot-gemacht".

Laut Sonja Zekri, die Gessen für die SZ interviewt, ist die Reihenfolge sozusagen umgekehrt, und Masha Gessen ist diejenige, die "vom Eklat getroffen" sei. Aber Gessen konzediert auch, dass der Essay nicht zufällig genau vor der Preisverleihung erschien. "Sagen wir es so: Ich war mir bewusst, dass die Preisverleihung Aufmerksamkeit auf meinen Text lenken würde." Im Interview beteuert sie, dass ihre Gleichsetzung ein Vergleich sei. Aber sie muss auch zugeben, dass sie in ihrem historischen Eifer einen krassen Fehler begangen hat - ach nein, doch nicht sie: "Ich hatte den polnischen Historiker Jan Gross mit den Worten zitiert, dass Polen mehr Juden als Deutsche töteten, auf Englisch: 'Poles killed more jews than Germans'. Daraus war im Laufe dieses langen Prozesses geworden 'Poles killed more jews than Germans did', Polen töteten mehr Juden, als es die Deutschen taten. Ein Redigierfehler, den der New Yorker korrigiert hat."

Im FR-Interview mit Hanno Hauenstein verrät Gessen, wie die Preisverleihung heute morgen ablaufen wird: "Am Samstagmorgen gibt es eine halböffentliche Veranstaltung, an der auch ein Politikwissenschaftler aus Bulgarien, Ivan Krastev, teilnimmt. Ich werde einen Vortrag halten und ich schätze, es wird eine Diskussion geben." Auch bei Hauenstein klingt es so, als ob sie den Eklat geplant hat: "Es ist ein bisschen wie ein kontrolliertes Experiment." Ungeachtet der Tatsache, dass die BDS-Bewegung auf ihrer Website die Massaker der Hamas ausdrücklich begrüßt hatte (mehr hier) verteidigt sie BDS: "Es handelt sich um eine gewaltfreie Bewegung. Aufrufe zu einem Wirtschaftsboykott mit Gewalt und/oder Hassrede gleichzusetzen, ist ein Affront gegen die Meinungsfreiheit. Was wir tun sollten, anstatt BDS und seine Befürworter:innen zu deligitimieren, ist die Einwände oder Vorbehalte zu diskutieren, die Menschen - mich eingeschlossen - dagegen haben könnten."

Zurecht wirft Gessen der Böll-Stiftung im FR-Interview Heuchelei vor. Sie zitiert aus einem Brief der Böll-Stiftung, der zeigt, dass sich die Stiftung allein aus Oppportunitätsgründen aus der Preisverleihung zurückgezogen hat: "Bitte seien Sie versichert, dass wir nicht in Frage stellen, dass Sie den Preis erhalten. Im Gegenteil, wir teilen das Lob und den Respekt für Ihre Arbeit (…) Aber, wie Sie in Ihrem Artikel im New Yorker bereits vorhergesehen haben, hat sich die öffentliche Debatte darüber in Deutschland sehr schnell ins Negative gewendet." Für Gessen ähnelt dieses Verhalten der Böll-Stiftung einem Muster der Vergangenheit: "Entschuldigen Sie, jetzt mache ich es schon wieder! Ich vergleiche. Diesmal das heutige Deutschland mit dem totalitären Deutschland. Ich will nicht behaupten, dass Deutschland heute ein totalitäres Land ist. Doch bestimmte Gewohnheiten haben so eine Art, ruhend weiter zu bestehen und dann plötzlich wieder aufzutauchen."

"In Deutschland herrscht eine Kultur des Mundtot-Machens", sagt Gessen dann noch wie erwartet im Spiegel-Interview mit Jonas Breng und Katja Iken. Aber in diesem Interview verwahrt sie sich gegen den Vorwurf, sie haben den Skandal bewusst herbeigeführt und beruft sich auf Hannah Arendt, die ebenfalls mit Gleichsetzungen hantiert hatte: "Arendt sah ideologische Parallelen. Warum sagte sie das laut? Weil sie wie andere intellektuelle Überlebende des Holocausts sehr rigoros in der Identifikation neuer Gefahren war. Und weil sie keine Angst hatte, das zu sagen. Unter den aktuellen Debatten-Bedingungen in Deutschland würde Hannah Arendt niemals den Hannah-Arendt Preis erhalten." Auch im Spiegel ist für Gessen ein Beharren auf der Singularität des Holocaust nur ein Instrument um eine Wahrheit zu verschleiern: "Was derzeit in Gaza passiert, ist sehr wahrscheinlich ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit."

In keinem der Gespräche werden den Verbrechen der Hamas mehr als zwei Zeilen gewidmet.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.12.2023 - Ideen

Die Meldungen über Masha Gessen klingen etwas widersprüchlich. Die Böll-Stiftung Bremen und Bund und die Stadt Bremen haben sich zwar aus der Preisverleihung zurückgezogen und distanzieren sich von ihrem New-Yorker-Essay (unser Resümee), aber sie bekommt den Preis, das Geld (10.000 Euro) und auch eine Preisverleihung, nur anders. Ein Twitter-Thread der Böll-Stiftung klingt geradezu euphorisch: "An der Preisverleihung nicht teilzunehmen bedeutet für uns aber ausdrücklich nicht, dass wir Masha Gessen diesen Preis absprechen, gar aberkennen wollen oder dass wir die Würdigung des Werkes in Frage stellen. Wir werden uns um ein anderes Format mit Masha Gessen bemühen, in dem ein differenzierter Dialog möglich sein kann, den wir in diesen Zeiten notwendiger brauchen denn je." Gessens differenziert zu diskutierende These in dem Essay ist bekanntlich, dass eine von Rechtsextremen beeinflusste oder manipulierte deutsche Gedenkkultur den Blick darauf versperrt, dass Israel das "Ghetto" Gaza liquidiert.

Masha Gessen selbst äußerte sich auf Twitter zunächst ungeduldig, dass sie trotz des Tohuwabohus nicht mit Presseanfragen überhäuft wird: "Kein einziger deutscher Journalist hat sich dazu geäußert. Ein US-Journalist schon. Die gesamte Berichterstattung erfolgte ohne Input/Reaktion meinerseits. Ungenauigkeiten häufen sich."

Aber dann kamen die Anfragen doch, seufzt sie zufrieden und instruiert Journalisten über das protokollarische Prozedere:


In der SZ macht der Historiker Volker Weiß in Gessens Essay nicht nur "erhebliche Schwächen", sondern teils "brachiale Fehler" aus: "So fand sich in Gessens Text zunächst die Forschung des polnischen Historikers Jan Gross durch die groteske Behauptung verzerrt wieder, die Polen hätten während der Besatzung mehr Juden ermordet als die Deutschen. Tatsächlich hatte dessen Forschung ergeben, dass während des Zweiten Weltkrieges Polen mehr Juden als Deutsche getötet hatten, was natürlich eine völlig andere Aussage ist. Der New Yorker gilt als vorbildlich für sein Fact-checking, das macht den Fauxpas umso größer. Die Passage musste nachträglich vom New Yorker korrigiert werden; Gross, den Gessen eigentlich als Beispiel für die fatale Geschichtspolitik des polnischen Staates genannt hatte, dürfte das geschadet haben. Dieser brachiale Fehler, auch aber eine sehr unscharfe Übersetzung des deutschen Begriffs 'Staatsräson' sowie die Darstellung deutscher Debatten um BDS lassen die Frage aufkommen, wie gut der Kenntnisstand Gessens über die deutsche Gesellschaft eigentlich ist. Die von ihr angeführten persönlichen Kontakte in das Berliner Kulturestablishment sind kaum repräsentativ genug, um gegen die in langen Auseinandersetzungen erarbeitete und bis heute umkämpfte deutsche Gedenkkultur zu Felde zu ziehen."

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"Zunächst einmal war Masha Gessen eine würdige Preisträgerin", meint Hannah-Arendt-Biograf Thomas Meyer im FR-Gespräch mit Michael Hesse: "Der Artikel im New Yorker stellt das infrage. Sachliche Fehler, krude Konstrukte sind das eine und gehören in einer demokratischen Gesellschaft zur Meinungsfreiheit. Die Gleichsetzungsmanie zwischen Israels Krieg in Gaza und den Taten der Nationalsozialisten ist etwas anderes. Das ist eine völlige Entgleisung, von der ich nur hoffen kann, dass dahinter kein Programm steht. Dass sich die Böll-Stiftung zurückzog, begrüße ich. Arendt als Gewährsfrau für diese Geschichtsverdrehungen fällt vollständig weg - sie ist hier bloßes Dekor." Er stellt klar: Arendt "war sicherlich keine Israel-Kritikerin in dem Sinne, dass sie das faktische Existieren Israels jemals infrage gestellt hat. Sie hat jedoch den Staatsbildungsprozess sehr kritisch begleitet und war auch der Überzeugung, dass die Art und Weise, wie Israel etabliert und mit welchen Argumenten die Staatsgründung durchgesetzt wurde, falsch waren. Die Gründung beruhte ihrer Meinung nach auf einem veralteten Nationalstaatskonzept. Aber in dem Moment, wo Israel als Staat existierte, hatte sie ein klassisch-kritisches Verhältnis zu einzelnen Politikern. Der Staat stand dann außer Frage."

In der Berliner Zeitung fragt Ulrich Seidler: "Ist der den Holocaust relativierende Gaza-Ghetto-Vergleich eine plumpe Provokation, die politisches Denken vermissen lässt? Oder sollte er die Beteiligten mit Absicht in Nöte bringen, die nun solche unwürdigen Sperenzchen nach sich ziehen? Diese Sperenzchen erzeugen jedenfalls mehr Aufmerksamkeit als die Preise selbst, geschweige denn eine würdige Debatte."

Der Rat für deutsche Rechtschreibung will Gendersternchen, Doppelpunkt und Unterstrich als "Sonderzeichen" ins amtliche Regelwerk aufnehmen, meldet Hannes Stein in der Welt und glaubt: "Die Dringlichkeit, mit der der Beschluss nun in der letzten Sitzung der laufenden Amtsperiode des Rechtschreibrats von den Gender-Befürwortern durchgesetzt werden soll, rührt wohl auch daher, dass die 'gendergerechte Sprache' immer mehr politischen Gegenwind bekommt. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Gendersprache nach wie vor ab. Die Landesregierung in Sachsen hat das Gendern in öffentlichen Schreiben und Bildungseinrichtungen explizit verboten."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.12.2023 - Ideen

Die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken an Masha Gessen, die morgen in Bremen stattfinden sollte, ist abgesagt. Gestern schickte die Böll-Stiftung eine Pressemitteilung, dass sie sich "aus der Veranstaltung zur Preisverleihung zurückzieht". Grund ist die Kritik an Gessens New Yorker-Essay (unsere Resümees). Gessen kritisiert dort, dass deutsche Gedenkpolitik den Blick auf die Geschehnisse im Gazastreifen versperre. Die Böll-Stiftung stört sich vor allem an einer Passage über den Gazastreifen als "Ghetto": "Sie impliziert, dass Israel das Ziel hat, Gaza wie ein Nazi-Ghetto zu liquidieren. Diese Aussage ist kein Angebot zur offenen Diskussion, sie hilft nicht, den Konflikt im Nahen Osten zu verstehen. Diese Aussage ist für uns nicht akzeptabel und wir weisen sie zurück." Auch andere Träger des Preises ziehen sich zurück, teilt die Bremer Grünen-Politikerin Helga Trüpel auf Twitter mit: "Böll Stiftung Bremen und Bund und Bremer Senat haben sich aus der Preisverleihung verabschiedet."

Auch Zeit online berichtet über die Absage und zitiert aus einem offenen Brief der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bremen, der zur Absage des Preises auffordert: "Es ist uns unbegreiflich, wie ein/e so erfahrene/r Wissenschaftler:in wie Masha Gessen, die sich so große Verdienste um die kritische Analyse des russischen Imperialismus erworben hat, ernsthaft Gaza mit den Vernichtungs-Ghettos der Nazis gleichsetzen kann." Auch zwei Gründungsmitglieder des Vereins Hannah-Arendt-Preis haben laut Zeit schon am Montag die Absage des Preises gefordert: "Lothar Probst und Helga Trüpel schreiben, Masha Gessen habe sich 'mit Äußerungen zum Nahost-Konflikt in einer Art und Weise disqualifiziert, die alle an der Preisverleihung Beteiligten, vor allem aber die deutsch-jüdische Denkerin Hannah Arendt, diskreditieren würde'."

Offenbar ist aber nur die Preisverleihung abgesagt, und der Preis wird Gessen nicht aberkannt, berichtet Benno Schirrmeister in der taz: "Masha Gessen erhält den Hannah-Arendt-Preis - aber weder Bürgermeister-Grußwort noch Rathaus-Empfang." Schirrmeister zitiert Peter Rüdel vom Verein Hannah-Arendt-Preis, der sich anders als Trüpel und Probst ein Festhalten an der Preisverleihung gewünscht hätte: Es sei "aus seiner Sicht weder denkbar, noch gerechtfertigt, die Preisvergabe zu canceln. 'Dieser Festakt ist eine Gelegenheit, um solche Kontroversen auszutragen. Was, wenn nicht das, ist politisches Denken.' Hinzu kommt: Einen einmal zugesprochenen Preis abzuerkennen, ist bereits rechtlich unzulässig. Es käme einer Ent-Ehrung gleich - und würde die Meinungsfreiheit der Juror*innen beschneiden. 'Wir fühlen uns als Vorstand des Vereins an die Entscheidung der Jury gebunden', sagt dementsprechend Rüdel." Mehr bei der SZ.

Ganz scheint der Streit jedenfalls nicht ausgestanden zu sein, denn auf der Seite des "Vereins Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V." wird der Rückzug von Böll-Stiftung und der Stadt Bremen mit Bedauern zur Kenntnis genommen: "Der 'Hannah Arendt Verein für politisches Denken' ist eine unabhängige Institution, die von der Heinrich Böll Stiftung und vom Senat der Hansestadt gefördert wird. Der Verein ist keine Stiftung der Heinrich Böll Stiftung. Wir finden es bemerkenswert, dass der öffentliche Streit um das Verstehen und das Be- und Verurteilen der Terrorangriffe der Hamas auf Israel und der Bombardierung Gazas durch Israel dadurch blockiert wird, dass eine politische Denkerin boykottiert wird, die darum bemüht ist, Kenntnis, Einsicht und ein scharfes Denkvermögen in diesen Streit einzubringen. Der 'Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken' steht für eine offene Streitkultur, für das Zulassen und das Aushalten von Kontroversen, für unangenehme Einsichten, neue Verständnisweisen und kenntnisreich geführte öffentliche Debatten."