9punkt - Die Debattenrundschau

Insgesamt neutral

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.06.2023. Der schöne Kamerun-Saal im Humboldt-Forum könnte demnächst leerstehen, fürchtet die FAZ: denn eigentlich müssten laut einem "Atlas der Abwesenheit" sämtliche 40.000 kamerunischen Objekte aus deutschen Museen restituiert werden. "Das Deutsche ist womöglich viel gerechter, als wir es annehmen", meint der Übersetzer Jayrôme C. Robinet in der SZ, denn es gibt auch jede Menge generisches Femininum. Die Welt schildert die sadistische Hinrichtungspraxis der iranischen Geistlichen. Im Tagesspiegel kritisiert der Migrationsexperte Gerald Knaus die geplante Reform des EU-Asylsystems.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.06.2023 finden Sie hier

Kulturpolitik

Etwa 40.000 Objekte aus Kamerun lagern zur Zeit in deutschen Museen, die meisten aus der Zeit der deutschen Kolonialherrschaft von 1885 bis 1916, erläutert Andreas Kilb in der FAZ unter Hinweis auf einen "Atlas der Abwesenheit", der mit open Access auf der Website der TU Berlin veröffentlicht wurde und demnächst in den Buchhandel kommt. Die Konsequenz der Autoren erschließt sich laut Kilb indirekt aus der Lektüre: Alles muss zurückgegeben werden. Der schöne große Kamerun-Saal im nagelneuen Humboldt-Forum wird dann leerstehen: "Zwar sprechen es die Beiträge des Bandes nicht deutlich aus, aber die Konsequenz aus den Untersuchungen zum kamerunischen Kulturerbe in deutschen Museen, die eine von Bénédicte Savoy und Albert Gouaffo angeführte Forschergruppe zusammengetragen hat, ist klar: Restitution. 'Fehlen, Vermissen, Vergessen, Wiederhabenwollen', das seien die Reaktionen aus Kamerun auf den zur Kolonialzeit erlittenen und erst jetzt ganz begriffenen Kulturverlust, schreiben Savoy und Gouaffo in ihrem Vorwort. Der nächste Schritt wird nicht lange auf sich warten lassen. Die Regierung in Yaoundé, heißt es, habe bereits eine Kommission gebildet, um Rückgabeforderungen vorzubereiten."

Tobias Rapp schreibt für den Spiegel ein Porträt über den kamerunisch-deutschen Kurator Bonaventure Ndikung, den neuen Leiter des Berliner Hauses der Kulturen der Welt, das Ndikung mit Voodoo-Zeremonien und einem bunten Kunst-Sammelsurium vor einigen Tagen neu eröffnete. Ob seiner postkolonialen Positionen fürchten manche eine permanente Documenta-Debatte, so Rapp, zu Unrecht: "Tatsächlich dürften die Ängste ziemlich unbegründet sein. Nicht nur, weil man im Kanzleramt mittlerweile genau hinschaut, wenn es um BDS geht. Auch das Eröffnungswochenende und Ndikungs Programm spricht für sich, es macht aller Weltumarmung zum Trotz einen großen Bogen um den Nahen Osten. Außerdem waren nicht nur die antisemitischen Zeichen, die sich in mehreren Kunstwerken fanden, das Problem der Kasseler Kunstausstellung. Schwer wog auch die organisierte Verantwortungslosigkeit, mit der auf sie reagiert wurde. Da war einerseits die Politik, andererseits das hoffnungslos überforderte indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa, das so tat, als wäre es nur Gast auf der eigenen Veranstaltung."
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Europa

Nach dem verheerenden Schiffsunglück vor der griechischen Küste werden noch 568 Menschen vermisst, berichtet Ferry Batzoglou in der taz, "maßgeblich Frauen, Kinder und Alte". Sie dürften "eingepfercht im Zwischendeck und Rumpf des etwa 30 Meter langen Fischkutters am vergangenen Mittwoch schnell auf dem Meeresgrund in einer Tiefe von an dieser Stelle mehr als 5.000 Metern gelandet sein. So könnten 646 Menschen bei dem verheerenden Bootsunglück gestorben sein." Die Frage ist nun, ob die Griechen die Katastrophe hätten verhindern können: "Die Griechen ließen den Fischkutter, kein Sprinter auf dem Meer, in der von ihr kontrollierten Search-and-Rescue-Zone mutmaßlich lange in Richtung Norden einfach weiterfahren, statt einzugreifen. Die offenkundige Strategie: Immerhin will das Migrantenboot die griechische SAR-Zone nur durchqueren. Das Wirken der Griechen kam einem unsichtbaren Durchwinken auf hoher See gleich. Getreu dem Motto: 'Freie Fahrt! Auf Nimmerwiedersehen!'" In der FAZ erzählt Andreas Rossmann von einer Gruppe des Roten Kreuzes in Catania, die hilft Flüchtlinge zu identifizieren, die im Mittelmeer ums Leben kam.

Im Interview mit dem Tagesspiegel kritisiert der Migrationsexperte Gerald Knaus die geplante Reform des EU-Asylsystems: Grenzverfahren werden nicht funktionieren, meint er, solange Herkunftsländer nicht bereit sind, irreguläre Migranten zurückzunehmen. "Statt sich auf verpflichtende Grenzverfahren zu konzentrieren, sollten wir zunächst dafür sorgen, dass andere Staaten zu sicheren Drittstaaten werden wollen - und zwar durch Anreize. Damit Marokko zu einem sicheren Drittstaat werden will, könnte ein Angebot der Visafreiheit für Reisende aus dem nordafrikanischen Land einen großen Anreiz bieten. Und warum bietet man Tunesien nicht an, dass ein Kontingent junger Menschen jährlich über geregelte Zuwanderung nach Deutschland auf den Arbeitsmarkt kommen kann, die dort auch gebraucht werden? Das würde einen Anreiz schaffen, im Gegenzug abgelehnte tunesische Asylbewerber schnell zurückzunehmen. Und potenzielle irreguläre Migranten zu entmutigen."

Der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche geht auf der "Gegenwart"-Seite in der FAZ die Friedensschlüsse von 1815, 1918/19 und 1945 durch und sucht Kriterien für einen möglichen Frieden zwischen Russland und der Ukraine. Eine seiner Folgerungen: "Ohne faktische Kapitulation kein Kriegsende. Faktisch, denn die Kapitulation musste nicht formell ausgesprochen werden, es reichte, sie zu vollziehen." Eine andere Lehre aus der Geschichte: "Friedensschlüsse waren nur von Dauer, wenn mächtige Staaten sie garantierten oder wenn aus ihnen Staaten hervorgingen, die als Nationalstaaten Legitimität beanspruchen konnten. Vorausgesetzt, sie hatten sich im Krieg behauptet. Kriegserfolg legitimiert. Das wird vermutlich auch für den Ukrainekrieg gelten, in dem es darum geht, ob die Ukraine sich als Nationalstaat gegen den russischen Versuch, ihn zu vernichten, behaupten kann."

Der als wichtig geltende russische Außenpolitikexperte Sergej Karaganow erläutert unterdessen auf der Website Russia in Global Affairs, wie man in Russland über Frieden nachdenkt: Er befürwortet einen nuklearen Erstschlag durch Russland, berichten Friedrich Schmidt und Reinhard Veser in der FAZ. "Die Antwort auf einen Erstschlag werde nicht schlimm sein: Angesichts des russischen Atomwaffenarsenals sei kein amerikanischer Präsident bereit, etwa - so Karaganows Beispiel - Boston für die polnische Stadt Poznan (Posen) zu opfern. China würde laut Karaganow einen russischen Atomangriff nicht öffentlich, aber 'im Geiste' gutheißen, da er die USA schwäche."

Außerdem: In der FAZ bilanziert der ukrainische Kunsthistoriker Konstantin Akinscha Schäden an ukrainischen Kulturstätten und Museen, die durch die Sprengung des Kachowka-Staudamms verursacht wurden.
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Politik

In der Welt erinnert Shila Behjat an die zehn Frauen, die 1983 im iranischen Schiras hingerichtet wurden, darunter Mona, die in einem Schulaufsatz gefragt hatte, warum sie ihre Gedanken nicht frei äußern dürfe. "Die Schülerin, die diese Zeilen zu Beginn der 1980er-Jahre ihrem Lehrer vorlegte, wurde dafür nicht nur vor den Schuldirektor gebracht. Wenig später wurde sie gemeinsam mit ihrem Vater inhaftiert. Und dann, am 18. Juni 1983 wurde Mona Mahmudnejad erhängt. Sie war 17 Jahre alt. Unweit eines Polofelds in der Stadt Schiras war sie mit neun weiteren Frauen aufgereiht und hingerichtet worden. Die zehn Frauen von Schiras. Darunter auch Roya Eshraghi, die 23-Jährige junge Frau, die mitansehen musste, wie ihre Mutter Ezzat erhängt wurde. Die Wachen vollzogen die Hinrichtungen dem Alter nach, sodass die Jüngeren den Älteren beim Sterben zusehen mussten. Oder der Krankenschwester Tahereh Arjomandi Siyavashi. Nur zwei Tage vorher war ihr Mann Jamshid bereits hingerichtet worden, als einer von sechs Bahai-Männern."

Daniel Ellsberg ist gestorben, der Mann, der das Wort "Whistleblower" auch im Deutschen bekannt machte. Ellsberg hatte 1971 mit der Veröffentlichung der "Pentagon Papers" das wahre Ausmaß der amerikanischen Beteiligung am Vietnamkrieg aufgedeckt. In der Welt erinnert sich Angela Richter an einen Besuch bei Ellsberg 2014: "Die Welt, so schien es, wollte nicht immer die Wahrheit hören. Und nur wenige trauen sich diese zu enthüllen. Als ich ihn darauf ansprach, dass es Millionen von Menschen gab, die über die NSA-Massenüberwachung ebenso Bescheid wussten wie Snowden, aber lieber den Mund hielten, antwortete er: 'Menschen tun alles, um die Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe nicht zu verlieren, selbst wenn ihnen klar wird, dass sich diese Gruppe nicht mehr anständig verhält, dass sie in dunkle Machenschaften verstrickt oder kriminell geworden ist. Sie können den Gedanken nicht ertragen, aus dieser Gruppe ausgeschlossen und gesellschaftlich geächtet zu werden. Kaum einer ist bereit, das auf sich zu nehmen.'" In der FAZ schreibt Andreas Diekmann.

Für Zeit online unterhält sich Juliane Schäuble mit der ehemaligen Facebook-Mitarbeiterin und Whistleblowerin Frances Haugen, die interne Facebook-Dokumente veröffentlicht hatte, die belegen, wie wenig Facebook willentlich gegen Desinformation unternimmt. Die Freude darüber, dass jetzt viel mehr Menschen wissen, wie gefährlich soziale Medien sein können, ist jedoch getrübt, bekennt sie: "Mich macht nervös, dass es zwei Möglichkeiten gibt, darauf zu reagieren: China verbietet soziale Medien oder reguliert sie stark. Europa versucht, das Risiko zu managen und das Machtgefälle ausgleichen. In den USA haben die Bundesstaaten Utah und Montana nun Gesetze verabschiedet, die dem chinesischen Weg ähneln. Im Fall von Utah haben Eltern Einblick in alles. In Montana wurde TikTok verboten."
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Gesellschaft

In der von Stukturwandel betroffenen Region Lausitz in Südbrandenburg ist der Rechtsextremismus besonders stark (unser Resümee). Das liegt auch an einer Landespolitik unter Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), die das Problem eher mit Ost-Identitätsdebatten verdrängen will, meint der Potsdamer Politikwissenschaftler Gideon Botsch im Gespräch mit Uwe Rada von der taz: "Ich habe den Eindruck, dass wir zunehmend wieder in die Richtung segeln, das Problem kleinzureden und nicht sehen zu wollen. Gerade in den Regionen, die die Landesregierung besonders fördert und wo sie die Förderziele nicht gefährden möchte. Das scheint mir ein Rückschritt in die späten Neunziger zu sein."

So wie es ein generisches Maskulinum gibt, gibt es in der deutschen Sprache auch ein generisches Femininum, meint in der SZ der Autor und Übersetzer Jayrôme C. Robinet. Die Frage: "Möchten Sie diesen Text lesen?" richte sich schließlich an beide, Leser und Leserinnen. Robinet ist sich daher sicher : "Das generische Femininum steht die ganze Zeit vor uns. Es wird aber weder erkannt noch beachtet. Welches Potenzial kann diese Einsicht entfalten? Wenn wir uns 'die Autoren' anschauen, könnte eine Interpretation sein, dass das generische Femininum die in Gleichzeitigkeit mit dem generischen Maskulinum Autoren sich gegenseitig aufheben, die Form also nicht nur männlich, sondern auch weiblich und insgesamt neutral ist. Das Deutsche ist womöglich viel gerechter, als wir es annehmen."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

In der NZZ schreibt Thomas Ribi zum vierhundertsten Geburtstag des französischen Philosophen Blaise Pascal, "ein Wunderkind. Ein Genie", so Ribi, ein großer wissenschaftlicher Denker, der unter anderem zusammen mit Pierre de Fermat die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelte. Und dann sind da noch die "Pensées": "Die auf Hunderten von Seiten verstreuten Gedankenfetzen sind glühende Funken, die noch heute das Denken entflammen. Wer in den 'Pensées' liest, entdeckt im Gelehrten einer vergangenen Zeit einen Denker für das 21. Jahrhundert. Pascal ringt mit Fragen, die uns heute noch umtreiben: die Einsamkeit des Menschen, der Zwiespalt von Wissen und Glauben, die Unzulänglichkeit eines Lebens, das sich in Zerstreuungen zu verlieren droht. Vor allem: Pascal weiß, dass es Fragen gibt, die mit der Vernunft nicht lösbar sind. Und dass es gerade die Fragen sind, die den Menschen existenziell betreffen. Gott zum Beispiel."
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Stichwörter: Pascal, Blaise, Aufklärung

Medien

Im Interview mit der NZZ erklärt der Medienanwalt Thomas Höppner, warum Google den Zeitungen seiner Ansicht nach Millionen schuldet: Anderes als früher will es die Nutzer gar nicht mehr auf andere Seiten weiterleiten, sondern versucht, sie auf der Googleseite zu halten, meint er. "Gehen Sie zum Beispiel einmal auf die Startseite der Google-App. Dort finden Sie eine vorinstallierte, regelmäßig personalisierte Nachrichtenübersicht. Das nennt sich Google Discover. Dort kann man mal schnell einen Überblick erhalten, was denn Neues passiert ist. Dafür brauche ich gar keine Suchanfrage mehr zu stellen. Nur wenn mich etwas im Detail interessiert und ich Zeit habe, dann klicke ich weiter. ... Bisher konnten einige argumentieren, das System schaffe eine Win-win-Situation: Du wirst mit Teilen deiner Inhalte angezeigt, dafür bekommst du aber einen Klick. Das ist seit Chat-GPT und neueren Systemen wie Bard von Google und Bing-AI von Microsoft vorbei. Diese Dienste fassen ganze Artikel in wenigen Sekunden so umfassend zusammen, dass niemand mehr auf die Quelle klicken muss, um Details zu erfahren."

Der Springer Verlag plant einen massiven Stellenabbau bei der Bild-Zeitung, meldet das Handelsblatt. "Einige Regionalbüros sollen geschlossen, andere zusammengelegt werden, erfuhr das Handelsblatt von mehreren Unternehmensinsidern. Auch der 2021 gestartete Fernsehkanal Bild TV soll weiter schrumpfen. Dieser Umbau soll zu einem erheblichen Stellenabbau führen. Betroffen seien Beschäftigte in dreistelliger Höhe, heißt es in Unternehmenskreisen. Die ungefähr 600 Beschäftigten in der Redaktion von Europas größter Boulevardzeitung sollen am Montag über die Pläne informiert werden, heißt es intern."
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