9punkt - Die Debattenrundschau

Souverän ist anders

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.07.2017. Hätte nur irgendjemand auf die Experten gehört, bevor er den Brexit beschließt, stöhnt ein Experte im Independent. Deutsche Industrieunternehmen sind besonders unehrlich, beobachtet politico.eu, und die deutsche Regierung lässt es geschehen. Künstliche Intelligenz mag gefährlich sein, aber schon unsere natürliche Intelligenz hat manchen Schaden angerichtet, meint die Informatikerin Johanna Bryson in der taz. Die NZZ kritisiert die politisch korrekten Manipulationen der Spiegel-Bestsellerliste.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.07.2017 finden Sie hier

Europa

Mit Entsetzen blicken viele Briten auf immer neue Folgen des Brexit, vor denen vorher nur wenige warnten: Wer wusste in Britannien, dass der Ausstieg aus der EU den Ausstieg aus Euratom und damit die Versorgung von Röntgengeräten betrifft? Experten, schreibt der Experte Steve Bullock im Independent. Oder dass britische NGOs jetzt dumm dastehen, weil sie nicht mehr im Auftrag der EU arbeiten können (unter anderem weil sie der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs entzogen werden). "Mir war das klar, denn ich war der UK-Verhandler für die EU-Regeln in diesem Bereich. Tamsyn Barton, mein ehemaliger Boss im britischen Entwicklungshilfeministerium und jetzt Chef des britischen NGO-Netzwerks 'Bond', legt dar, dass britische NGOs, aber auch viele britische Firmen, die in ihrem Auftrag EU-Hilfen verwirklichen, davon betroffen sind. Die NGOs werden kämpfen müssen, den Firmen wird es noch schlimmer ergehen, und Entwicklungsländer werden auf Expertise verzichten müssen. Wer wusste das?"

Wenn Erdogan etwas sagt - und er hat zu allem eine Meinung - dann gilt das, ob wahr oder unwahr, schreibt der türkische Verleger Murat Belge in der NZZ. Über eine Behauptung wie "Amerika ist von Muslimen entdeckt worden" mag man noch lachen, doch in anderen Bereichen können die Folgen gravierend sein: "Die Propagandamaschine des Staatspräsidenten lässt verlautbaren, X oder Y hätten dies oder jenes unternommen, woraufhin die Polizei, um ihre Ergebenheit zu demonstrieren, die entsprechenden Leute in Untersuchungshaft nimmt und sie ohne jeglichen ernsthaften Beweis ('Amerika ist . . . ') den Staatsanwälten und Richtern überantwortet, die vom Präsidenten und von seiner Partei bestallt wurden. Wenn dann auch noch der Präsident höchstselbst erklärt, jene Menschen seien schuldig, würde ein Richter, der sie freispräche, damit verkünden, der Präsident habe nicht die Wahrheit gesagt."
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Gesellschaft

So kompliziert ist das manchmal mit den Fake- oder Nicht-Fake-News: Dass die Zahl der Insekten um "bis zu achtzig Prozent" zurückgegangen sei, war zwar ein kritiklos nachgebeteter Medienhype, der auf einer nur in Krefeld ermittelten Zahl beruhte (wie Meedia thematisierte, unser Resümee), das heißt aber nicht, dass die Zahl der Insekten nicht tatsächlich sinkt - und zwar besorgniserregend, schreibt Daniel Lingenhöhl bei spektrum.de. Schuld sind wir selbst, weil wir billig essen wollen und in unseren Gärten allzu radikal zu Werke gehen: "Hunderte Tonnen an Pflanzenschutzmitteln gehen jährlich für private Verbraucher in Deutschland über den Ladentisch. Oder aber die Gärten werden gleich auf Pflegeleichtigkeit optimiert und bestehen neben dem Zierrasen aus Kies und immergrünen Exoten. Hier lebt kein Insekt mehr. Die noch flächendeckend vorhandenen Straßenlaternen mit weißem Licht saugen dazu den Nachthimmel leer, weil nachtaktive Insekten von ihnen angezogen werden."

Deutsche Industriebetriebe scheinen besonders unehrlich zu sein, konstatiert Paul Taylor in politico.eu nach den jüngsten Enthüllungen über mögliche Kartellabsprachen und Manipulation von Abgaswerten in der Autoindustrie. Taylor zählt weitere Beispiele auf: Betrügereien der Deutschen Bank und Lieferungen von Siemens an Russland, die gegen Sanktionen verstoßen. "Eine Gemeinsamkeit bei all diesen Firmenskandalen ist, dass die deutsche Regierung nicht gerade ganz vorn dabei war, als es darum ging, sie aufzudecken oder zu untersuchen. Im Gegenteil, es waren Regulatoren in den USA (und zu einem geringeren Anteil in Brüssel), die der Deutschen Bank und Volkswagen die Maske abrissen."

Und dann noch dieser automatische Staubsauger von Roomba, der laut Jan Wolfe bei Reuters, seine Kartierung von Wohnungen demnächst an Amazon oder Google verkaufen könnte. "Der Spion, der aus der Küche kam", titelt Zeit online dazu.
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Wissenschaft

Künstliche Intelligenz mag gefährlich sein, und Algorithmen sollten womöglich staatlicher Prüfung unterliegen, aber das ändert nichts daran, dass wir Menschen den Mitwesen mit unserer Intelligenz längst schon geschadet haben, sagt Johanna Bryson, Informatikprofessorin in Princeton, im Gespräch mit Marie Kilg von der taz: "Bis zu dem Zeitpunkt, als die Schrift erfunden wurde, gab es mehr Makaken als Hominiden auf dem Planeten. Jetzt haben wir dieses exponenzielle Wachstum, plötzlich sind wir sieben Milliarden Menschen. Das ist eigentlich großartig, denn es zeigt, dass wir sehr gut darin sind, zusammenzuarbeiten. Das Problem ist nur: Niemand hat sich je hingesetzt und gesagt: 'Hey, lasst uns alle anderen Säugetiere ausrotten.' Aber genau das tun wir, und für die längste Zeit wussten wir es nicht einmal. Künstliche Intelligenz ist nicht das Problem, wir sind das Problem."

In der SZ informiert Bernd Graff über "einen neuen Meilenstein" der Künstlichen Intelligenz: Forschern ist es gelungen, mithilfe einer Audiodatei Barack Obamas ein lippensynchrones Video herzustellen.
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Religion

Religionskritik war auch schon mal besser, schreibt Theologe Friedrich Wilhelm Graf, der für die FAZ Peter Sloterdijks neuen großen Wurf "Nach Gott" bespricht: "Zur 'Summe der Unwahrscheinlichkeiten, die sich Christentum nennen', fällt Sloterdijk allerdings nichts wirklich Originelles ein. In Sachen Christentumskritik argumentierten die theologischen Aufklärer des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ungleich prägnanter, begriffsschärfer als der Karlsruher Zeitgeistdeuter, der im Wust seiner unterhaltsamen Assoziationen oft den roten Faden zu verlieren droht."
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Politik

Donald Trump hat seinen Anteil am Zustandekommen illegitimer Gesetze in Polen, schreibt der polnische Soziologe Slawomir Sierakowski in der New York Times und erinnert an Trumps Autritt in Warschau: "Trump kam sicher nicht, um Kaczynskis Machtergreifung zu unterstützen. Aber da er bei seinem Besuch keinen Druck auf den Führer der PiS-Parti ausübte, Demokratie zu respektieren, gab er sein indirektes Plazet für eine neue Kampagne, um diese Gesetze durchzusetzen."
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Geschichte

Zar Peter nimmt König Ludwig XV. auf den Arm. Ein kleiner faux pas: Den König fasst man nicht an.
In der NZZ stellt Peter Kropmanns eine Ausstellung im Grand Trianon über den Frankreichaufenthalt Peters des Großen während seiner Europareise 1717 vor: "Hier wird deutlich, dass ihm weniger an Produkten des Luxus und der Mode, etwa an Porzellan, gelegen war als an russische Forschung und Wissenschaft beflügelnden Instrumenten, die sich etwa in der Schifffahrt einsetzen ließen." Gezeigt werden außerdem Porträts des Zaren, bei denen Kropmanns einen interessanten Wandel der Kleidung beobachtet, "die anfangs nach russischer, ungarischer oder niederländischer Art gestaltet war, später dem Modell des französischen Absolutismus nahekam. ... Ein Historienbild von 1838 zeigt, wie Peter der Große bei einer Audienz Ludwig XV. auf den Arm nahm - der Knabe war sieben Jahre alt - und damit für protokollarische Verlegenheit sorgte, denn den französischen König fasste man nicht einmal an.
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Medien

Wer glaubte, die real existierende Spiegel-Bestsellerliste entspreche einer Wirklichkeit, sieht sich getäuscht. Bei Spiegel online erklärt die stellvertretende Chefredakteurin Susanne Beyer, warum der Spiegel das missliebige Buch "Finis Germania", das nur durch die Manipulation eines Spiegel-Kollegen bekannt wurde (unsere Resümees), von der Liste entfernte: "Das Buch 'Finis Germania' hat in der Spiegel-Bestsellerliste von Heft 29 Platz 6 erreicht. Ohne die Empfehlung unseres Kollegen hätte das Werk des im vergangenen Jahr verstorbenen Autors es unserer Einschätzung nach nicht in die Liste geschafft; das Buch ist in einem kleinen und durch rechtsextreme Publikationen geprägten Verlag erschienen. Insofern haben wir in diesem Fall eine besondere Verantwortung. Deswegen haben wir das Buch in Heft 30 von der Liste heruntergenommen."

So macht man Schlimmes noch schlimmer, meint Rainer Moritz in der NZZ: "Wer im Nachhinein leugnen will, dass sich ein Buch gut verkauft, greift genau zu jenen Maßnahmen, die man den sogenannten Rechtspopulisten liebend gern vorwirft. Warum nur halten es manche so schwer aus, dass ihre eigenen Gedankengebäude und ihre offenbar für unangreifbar gehaltenen Überzeugungen angezweifelt werden? Warum streitet man nicht, warum diskutiert man nicht, warum macht man sich nicht daran, das Verachtete zu widerlegen, anstatt vom hohen Ross aus Geringschätzung zu zeigen? Es zu negieren und voreilig aus dem demokratischen Diskursfeld zu entfernen, ist ein Armutszeugnis." Auch Martin Oehlen meint in der Berliner Zeitung: "Souverän ist anders!"

Mehr zum Thema im FAZ.Net (hier), im Tagesspiegel (hier) und beim Deutschlandfunk (hier).
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