Magazinrundschau

Balanceakt zwischen Zeugenschaft und Voyeurismus

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
08.04.2024. Compact ruft uns die ethnische Säuberung der Armenier in Bergkarabach zurück ins Gedächtnis. In Eurozine erinnert der ukrainische Schriftsteller Mykola Rjabtschuk indes daran, wie auch die Westeuropäer die Ukraine verleugneten. Bei Denik Referendum prognostiziert der tschechische Politologe Jiří Pehe das Verschwinden Mitteleuropas im Spalt zwischen dem Westen und Russland. Newlines möchte von Nigeria wissen, wie es mit den restituierten Benin-Bronzen weitergeht. Und der New Yorker erinnert am Beispiel der Warhol-Muse Candy Darlin daran, wie trans Personen auch während der Schwulenbewegung im New York der Siebziger ausgegrenzt wurden.

Compact (USA), 28.03.2024

Es ist noch nicht lange her, aber bereits gründlich vergessen: die Vertreibung von über hunderttausend Armeniern aus der Region Bergkarabach vor etwas mehr als einem halben Jahr. Sie ist der vorläufige Endpunkt eines jahrzehntelangen Konfliktes in dem es auch zu massiven Vertreibungen von Aserbaidschanern durch Armenien gekommen war, 600.000 Flüchtlinge hatte es 1992 gegeben. "Was folgt, ist ein Bericht über die letzten Tage einer verschwundenen Gesellschaft, erzählt von sechs Frauen, die ihr Verschwinden überlebt haben", schreibt Sohrab Ahmari im neuen amerikanischen Online-Magazin Compact (about). "Basierend auf ausführlichen Interviews mit den Frauen, die in Armenien selbst geführt wurden, stellt diese Erzählung die erste 'oral history' eines der deutlichsten Fälle von ethnischer Säuberung im 21. Jahrhundert dar, die am helllichten Tag und unter minimalem Protest aus westlichen Hauptstädten durchgeführt wurde." Die Frauen schildern ein Chaos aus Hungersnot wegen der aserbaidschanischen Blockade, dann hektischen Fluchten innerhalb Bergkarabachs wegen der Angriffe der aserbaidschanischen Armee. Aber es kam auch zu Momenten trügerischen Friedens vor dem Exodus. "Als ich nach Hause kam, pflanzte mein Mann gerade Koriander im Garten", erinnert sich die 34-jährige Naira Danielyan, eine der vom Autor befragten Frauen. "Wenn ich jetzt zurückblicke, weiß ich nicht, ob ich verrückt, naiv oder patriotisch war. Aber obwohl wir das Geräusch der Panzer und anderer schwerer Militärtechnik hören konnten, die im Rahmen des Waffenstillstands an die Aseris übergeben wurden, fühlte ich mich ruhig. Ich ging in unser Schlafzimmer und schlief zum ersten Mal seit langer Zeit tief und fest. Dies ist mein Zuhause, sagte ich mir. Mein Verstand wusste, dass jederzeit alles passieren konnte. Aber ich war in meinem Zuhause."
Archiv: Compact

New Yorker (USA), 08.04.2024

Maggie Nelson hat ein neues Buch veröffentlicht, einen Band mit dem Titel "Like Love", der Essays aus rund zwanzig Jahren zusammenbringt, die Kulturkritikerin Lauren Michele Jackson interviewt sie dazu für den New Yorker. Die Essays, in denen sie sich mit Persönlichkeiten des künstlerisch-kulturellen Lebens wie Judith Butler, Fred Moten und Hervé Guibert auseinandersetzt, erfordern eine besondere Schreibpraxis, wie Nelson betont: "Das Schreiben kann so einsam sein. Aber diese Texte waren etwas, das man tut, um aus seinem eigenen Kosmos herauszukommen und versucht, in den einer anderen Person einzutauchen. Sich in deren Themen zu versenken und herauszufinden, wo sie sich mit deinen eigenen Interessen überschneiden. Ich mache das schon lange, aber mir ist aufgefallen, dass viele dieser Texte begraben waren und sich nicht zugehörig zu meinem restlichen Werk angefühlt haben. Ich war begeistert davon, sie einfach nur anzuschauen, und ich habe dabei aus vielen Texten auf meinem Computer ausgewählt. Es gibt noch so viele Gespräche mehr als die, die ich hier aufgenommen habe. Die Leute haben oftmals über mein Werk geredet als eines, das mit anderen im Gespräch ist, aber ich hatte das Gefühl, dass es sich dabei um Literarisierungen handelt. Selbst wenn du zitierst, streitest oder mit anderen Menschen auf dem Papier sprichst, ist es immer noch deine eigene Symphonie." Nelson hat auch über die Ermordung ihrer Tante geschrieben - ein schwieriger Balanceakt zwischen Zeugenschaft und Voyeurismus, wie sie ausführt: "Ich würde nie sagen, dass Zeugenschaft nicht ein Hebel des Handelns sein kann, oder dass es keinen intrinsischen Wert hat, oder dass es nicht in sich selbst sehr problematisch sein kann. Ich denke, es ist eher so wie in dem berühmten Susan Sontag-Zitat, ich habe es nicht ganz präsent, aber sinngemäß sagt sie so etwas wie 'Das Problem mit dem Mitleid ist, dass es verwelkt.' Es gibt eine Reihe an Möglichkeiten, etwas damit zu tun. Ich weiß, dass viele Menschen eine Art von Horror-Sättigungs-Müdigkeit erreicht haben, nicht mehr hinsehen können und sich schwere Fragen stellen müssen: Was bedeutet es, hinzusehen? Ändert es, was ich tue?"

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Candy Darling war eine schillernde und doch enigmatische Figur des New Yorks der Sechziger und Siebziger: Filmfan, Fotomodel, Muse für Lou Reed und Andy Warhol - und trans Frau. Sie ist 1974 an Krebs gestorben, wahrscheinlich durch die Hormone ausgelöst, die sie im Rahmen ihrer Transition genommen hat, vermutet Hilton Als, erst jetzt legt Cynthia Carr mit "Candy Darling: Dreamer, Icon, Superstar" eine erste Biografie vor, die sie euphorisch bespricht. "In ihrem verständnisvollen Text bewundert Carr Candy, sieht aber nicht über ihre Selbstbezogenheit hinweg, die, natürlich, ein Teil ihrer Selbsterhaltung war. Wenn sie über Candys apolitische Sicht der meisten Dinge spricht, erinnert Carr uns daran, was wirklich in der Welt um sie herum geschah. Candy hat nicht eine einzige Gay Pride besucht, aber was am 24. Juni 1973 bei einer solchen Parade geschehen ist, sagt eine Menge darüber, wie die trans Welt zu der Zeit selbst von der Schwulenbewegung gesehen wurde. Sylvia Rivera, ein Mitbegründerin von STAR (Street Transvestite Action Revolutionaries), war 'der Kristallisationspunkt der politischen Unruhen des Tages', schrieb Arthur Bell in der Village Voice. Rivera wurde auf dem Weg zur Bühne von den Paradeleitern verprügelt, als sie endlich das Mikrofon erreichen konnte, erklärte sie, dass sie im Namen der Homosexuellen da war, die im Gefängnis misshandelt wurden, wie es auch ihr passierte. 'Mir wurde die Nase gebrochen', erzählte sie der Versammlung. 'Ich bin ins Gefängnis geworfen worden. Ich habe meinen Job verloren. Ich habe meine Wohnung verloren für die Befreiung der Homosexuellen, und so behandelt ihr mich? Was zur Hölle ist falsch mit euch?' Es war 'falsch', trans zu sein. (…) Die Isolation, die Candy in jeglicher Art von Gemeinschaft spürte - in ihrer Familie, in der Schule, im Showbusiness - hat dafür gesorgt, dass sie als Erwachsene keiner Gruppierung mehr beitreten wollte. Und wer hätte sie auch aufgenommen? 'Ich fühle mich, als würde ich in einem Gefängnis leben', hat sie einmal in ihr Tagebuch geschrieben. 'Es gibt so viele Dinge, die ich nicht erleben werde. Ich kann nicht schwimmen gehen, keine Verwandten besuchen, nicht ohne Make up rausgehen, keinen Freund haben, keinen Job bekommen. Ich sehe so viel vom Leben, das ich nicht haben kann.'"
Archiv: New Yorker

Newlines Magazine (USA), 08.04.2024

Nachdem der ehemalige nigerianische Präsident Mohammedu Buhari per Dekret verfügt hatte, dass die Benin-Bronzen an Oba Ewuare II übergeben werden sollen, entbrannte erneut der Kampf zwischen dem Königspalast und der Nationalen Kommission für Museen und Denkmäler (NCMM), die für die Bewahrung, Förderung und Entwicklung des kulturellen Erbes Nigerias verantwortlich ist. (Unsere Resümees) Seit Buharis Aussagen wurden von den verunsicherten europäischen Museen keine Bronzen mehr an Nigeria zurückgegeben und auch über den Verbleib der bisher restituierten Bronzen ist nichts bekannt, weiß Noah Anthony Enahoro. Auch die nigerianische Kulturwelt ist in der Frage über den rechtmäßigen Besitz gespalten, große Hoffnungen werden in die lang ersehnte  Eröffnung des Edo Museum of West African Art in Benin City gesetzt, das mit der Ernennung der in London lebenden Künstlerin und Schriftstellerin Aindrea Emelife zur Kuratorin für moderne und zeitgenössische Kunst zur Heimat von Artefakten aus dem Königreich Benin werden soll: "Im Gespräch mit The Art Newspaper betonte Emelife, dass die Zusammenarbeit mit westlichen Museen von entscheidender Bedeutung ist, insbesondere wenn es um die Rückgabe von Kunstwerken geht. 'Auf dem Weg zu einem wirklich globalen Kunst-Ökosystem könnte man sich eine echte und gleichberechtigte Zirkulation der Kulturen vorstellen', sagte sie. 'Wenn Kunstwerke, egal ob italienische oder nigerianische, große kulturelle Botschafter sind, sollten diese Werke und der in sie eingebettete Dialog und die Geschichte weltweit zirkulieren, auch in afrikanischen Institutionen.'" Außerdem ernannte Präsident Bola Tinubu Yusuf Tuggar, "der als Botschafter in Deutschland dazu beigetragen hatte, die Übertragung des Eigentums an mehr als 1.000 Bronzen aus Benin im Jahr 2022 auszuhandeln - zum Außenminister. Dies deutet darauf hin, dass sich die neue Regierung darauf vorbereitet, bei der Restitution weiter zu gehen als ihre Vorgänger."

Das Streiten über den Ramadan hat in Tunesien mehr oder weniger Tradition, erklärt Ahmed Nadhif, und verschafft uns einen geschichtlichen Überblick über die tunesische Debatte des Fastenbrechens. Es war der tunesische Präsident Habib Bourguiba, der den Stein ins Rollen brachte, indem er während der Fastenzeit im Jahr 1962 demonstrativ ein Glas Orangensaft trank und seine Mitmenschen aufforderte, es ihm gleich zu tun, erzählt Nadhif. Bourguiba bekam für seinen progressiven Anlauf nicht die Unterstützung, die er sich erhofft hatte - vielmehr forcierte er die Spaltung zwischen konservativen und modernistischen Kräften in Tunesien. Gleichzeitig wurde die Kontroverse um den Ramadan zum Barometer für die politische Stimmung im Land. Dieses Jahr allerdings ist der "heilige Monat seltsam ruhig", beobachtet Nadhif. Ein Grund zur Erleichterung ist das nicht. Seit Juli 2021 hat der autoritär regierende Präsident Kais Saied "sowohl die konservativen als auch die modernistischen Stimmen effektiv an den Rand gedrängt und den politischen Diskurs und die öffentliche Meinung monopolisiert. Diese Dominanz hat einen Schatten auf die übliche Inbrunst der Ramadan-Debatten geworfen und stellt eine deutliche Abweichung von der Norm dar. Man könnte diese Ruhe den konservativen Neigungen Saieds zuschreiben, der eine eher gedämpfte öffentliche Sphäre bevorzugt. Möglicherweise ist sie aber auch auf die harte wirtschaftliche Realität zurückzuführen, mit der die Tunesier konfrontiert sind, einschließlich der steigenden Lebenshaltungskosten und der weit verbreiteten finanziellen Belastung. Während die Bürger mit wirtschaftlicher Not zu kämpfen haben, tritt der Luxus, über Ramadan-Rituale zu debattieren, hinter dringenderen Sorgen zurück. Der gedämpfte Charakter des diesjährigen Ramadan spiegelt nicht nur die politische Stagnation wider, sondern auch die harte Realität des Alltags der Tunesier."

Im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg kämpften die Hui-Muslime erbittert für China, heute steht das chinesische Regime den über 8 Millionen in China lebenden Hui-Muslimen feindselig gegenüber, schreibt Steven Zhou. "Mit Blick auf die Uiguren waren sie "zwar nicht das primäre Ziel des harten Vorgehens der Regierung gegen den Islam, aber sie werden dennoch zunehmend misstrauisch beäugt. Dieses Misstrauen zeigt sich nun in materieller Form. Eine Analyse der Financial Times von über 2.300 Moscheen in ganz China ergab, dass etwa drei Viertel von ihnen entweder von 'nicht-chinesischen' Merkmalen befreit oder sogar völlig zerstört wurden. Die islamische Symbolik wird vom derzeitigen Regime als Bedrohung für China angesehen. Die Geschichte der Hui-Integration ist jedoch eine Geschichte der Suche nach Koexistenz durch Rechtfertigung der Loyalität gegenüber der kaiserlichen und nationalen Führung. Die muslimische Präsenz in China besteht seit etwa einem Jahrtausend - unermesslich länger als die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas. Zu dieser Geschichte gehört auch die Aufopferung von Hui-Leben während des antijapanischen Widerstands, bei dem religiöse Argumente von chinesischen Muslimführern aggressiv eingesetzt wurden, um die Beteiligung der Hui am Kampf gegen die Japaner zu fördern. All dies scheint im heutigen China vergessen zu sein, wo ein mehrheitlicher Ethno-Nationalismus herrscht. Es ist noch gar nicht so lange her, dass eine starke muslimische Gemeinschaft als wichtiger Bestandteil des Aufbaus einer Nation in China angesehen wurde. Jetzt wird die Han-Mehrheit Chinas durch eine zunehmende Welle der Unterdrückung gegen die muslimischen 'Randgebiete' des Landes ausgespielt, deren Loyalität als verdächtig gilt."

Eurozine (Österreich), 08.04.2024

Jahrelang war die Ukraine Opfer von zwei Verleugnungen, erinnert der ukrainische Schriftsteller Mykola Rjabtschuk: der europäischen Verleugnung ihrer Zugehörigkeit zu Europa und der russischen Leugnung der Existenz der Ukraine: "Während die Angst der Russen auf dem Gefühl beruhte, dass ihre imperiale Identität ohne die Ukraine unvollständig war, beruhte die Angst der Westeuropäer auf dem gegenteiligen Gefühl, dass ihre Identität (und nicht nur ihr Wohlergehen) durch einen fremden Körper bedroht sein würde. Es war ganz natürlich, dass Westeuropa seine alte 'Ukraine-Leugnung' in eine Leugnung der europäischen Identität und Zugehörigkeit der Ukraine umwandelte." Deshalb war es, so Rjabtschuk, trotz allem ein historischer Tag als in der Versailler Erklärung von 2022 im Angesicht der russischen Bedrohung, die Ukraine als Teil "unserer europäischen Familie" deklariert wurde. Dass in diesem Jahr der "dornige Weg zur EU-Mitgliedschaft eröffnet wurde, hat die ukrainischen 'europäischen Träume' näher an die Realität gebracht als je zuvor. Mit der russischen Invasion sind jedoch auch die 'eurasischen Alpträume' der Ukraine realer denn je geworden. Dadurch wird der Einsatz des Kampfes enorm erhöht. Die Notwendigkeit, alle verfügbaren Ressourcen, einschließlich des symbolischen Kapitals, zu mobilisieren, ist entscheidend geworden. Die öffentliche Meinung ist eine solche Ressource. Im Inland ist sie leichter zu nutzen, da sich die Ukrainer sehr wohl bewusst sind, worum es in diesem Krieg geht und wofür sie kämpfen. In den letzten Jahren haben sie jegliche Ambivalenz gegenüber Russland, dem Westen oder der nationalen Unabhängigkeit verloren; sie wissen heute, dass es sich um einen Krieg um das nationale Überleben handelt. Sie verwenden keine hochtrabenden Worte wie 'Freiheit', 'Würde' und 'Souveränität', um ihre Gefühle auszudrücken; es ist die Aufgabe von Intellektuellen, über diese Dinge zu diskutieren. Gewöhnliche Menschen bevorzugen Kategorien wie 'unser Land' oder 'unser Land', 'richtig' oder 'falsch', 'wahr' oder 'falsch'. Wie Oleksandr Vilkul, der Bürgermeister von Kryvyi Rih (und einer von vielen ukrainischen Politikern, die früher als 'pro-russisch' bezeichnet wurden), es ausdrückte: 'Wir sind hier geboren. Die Gräber unserer Verwandten sind hier. Wir können nirgendwo hingehen'…Die Ukrainer von heute haben vielleicht nicht dieselben Illusionen über den Westen wie Kundera und seine Generation, aber sie haben sicherlich mehr Selbstvertrauen, das aus einer neu erworbenen historischen Handlungsfähigkeit resultiert."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Ukraine, EU, Russland, Putin, Ukraine-Krieg

New Statesman (UK), 05.04.2024

Lawrence Freedman zeichnet die Entwicklung des Ukrainekonflikts aus Sicht Putins nach. Putin hat sich so sehr seinem eigenen Radikalismus verschrieben, argumentiert Freedman, dass es für ihn kein Zurück mehr geben kann. Gleichzeitig wird die innenpolitische Lage schwieriger, insbesondere nach der IS-Attacke auf eine Konzerthalle bei Moskau. Die Reaktion des Regimes, das entgegen aller Evidenz versuchte, die Ukraine mit dem Angriff in Verbindung zu bringen, war alles andere als souverän. Das zunehmend irrationale Verhalten Putins kann auch nicht bloß auf demagogische Taktik reduziert werden: "Für den Kreml sind Lug und Betrug Mittel zum Zweck einer höheren Wahrheit. Sie helfen dabei, die Botschaft zu verbreiten, dass alle Feinde Russlands unter einer Decke stecken, und dass sich eine Nazi-Islamismus-Globalismus-Satanismus-Achse gegen die russische Zivilisation verschworen hat. Wenn das so ist, dann muss alles getan werden, um die Menschen vor der Gefahr zu warnen und sie für den Abwehrkampf zu mobilisieren. Die Ukraine muss einfach von Nazis angeführt werden, ganz egal was die tatsächlichen Hintergründe und Aussagen der entsprechenden Politiker sind, weil jeder, der gegen Russland kämpft, ein Nazi ist, und weil Russland immer dann am besten ist, wenn es gegen Nazis kämpft, wie zwischen 1941 und 1945. Mit Blick auf Putins Statement zum Angriff auf die Konzerthalle, in dem er die Ukraine beschuldigt, schlägt der Historiker Tim Snyder folgende Erklärung vor: 'Das ist nicht mehr der wendige post-truth-Putin, der in der Lage ist, wenn nötig augenzwinkernd eine Lüge durch eine andere auszutauschen. Dies ist ein Putin, der tatsächlich glaubt, was er sagt - oder der zumindest nicht mehr fähig ist, kreativ auf die Ereignisse in der Welt zu reagieren.'"

Lisa Klaassen beschäftigt sich währenddessen mit einem wenig kommentierten Aspekt russischer Machtpolitik: den teilweise durchaus erfolgreichen Versuchen, in Afrika an Einfluss zu gewinnen. Eine Schlüsselrolle kommt dabei ausgerechnet der berüchtigten Gruppe Wagner zu, deren ehemaliger Anführer Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin letztes Jahr den Aufstand gegen Putin geprobt hatte und bei einem Flugzeugabsturz starb. Inzwischen heißt die Gruppe nicht mehr Wagner, sondern Afrikakorps, wird von Prigoschins Sohn Pawel Jewgenjewitsch geleitet und unterstützt eine Reihe von Militärdiktaturen in Zentral- und Westafrika. "Die Entwicklung des Afrikakorps verfolgt zwei strategische Ziele. Zum einen geht es darum, einen Aufstand des jüngeren Prigoschin zu verhindern, zum anderen darum, Russland freie Bahn für seine Sicherheitspolitik in Afrika zu verschaffen. Der neue Name verschafft der Gruppe ein äußerst notwendiges Gegenmittel gegen die Folgen der Untaten, die die Gruppe Wagner im Namen der 'Anti-Terror Einsätze' der Gruppe beging. Aufgrund ihrer Treue zur Maxime Stalins, derzufolge die Menschen das Problem sind, wurde die Gruppe, laut einem Bericht des Economist, der Daten der NGO Armed Conflict Location and Event Data Project aufarbeitete, angeklagt, an Massakern beteiligt gewesen zu sein, die seit 2017 mehr als 1800 afrikanischen Zivilisten das Leben kosteten. Drei russische Zivilisten, die zu den vom Kreml unterstützten Wagner-Aktivitäten in Afrika recherchierten, wurden ermordet. Allein in Mali hat sich die Gewalt gegen Zivilisten verdreifacht, seitdem Wagner begonnen hat, das Vakuum zu füllen, das Frankreich hinterlassen hat."
Archiv: New Statesman

Merkur (Deutschland), 01.04.2024

Der Kampf um Gaza ist zum "Katalysator für eine neuerliche Zweiteilung der Welt" geworden, konstatiert der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke, der zunächst die akademische Spaltung nachzeichnet und dann auf die "Achsendrehung der globalen Konfrontation" eingeht, die er als "historischen Wendepunkt" bezeichnet: "Die dominierende Bruchlinie verläuft hier nicht mehr zwischen West und Ost, wie noch in den Auflösungskriegen des alten Sowjetblocks bis hin zum Kampf um die Ukraine, sondern zwischen Nord und Süd. In dieser imaginären Topografie ist Israel 'Norden', Palästina 'Süden'. Russland, das im Widerstand gegen die US-Hegemonie eine Führungsrolle beansprucht, ist vom 'Osten' in den 'Süden' gewechselt, desgleichen China. Auch die Erzählung vom 'clash of civilizations' zwischen dem Westen und dem Islam buchstabiert sich entlang der Nord-Süd-Frontlinie neu aus. Entsprechend sind die aktuellen Debatten um Gaza von der gewachsenen Polarisierung zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden beherrscht. Das macht es möglich, sogar eine fundamentalistische Terrortruppe wie die Hamas in den Rang einer Befreiungsbewegung zu erheben. Aus Sicht des Westens stellt sich der Niedergang seiner Hegemonie zugunsten eines multipolaren Systems konkurrierender Mächte so dar, als sei er gleichbedeutend mit dem Rückfall in eine überwunden geglaubte Epoche des gesetzlosen Kampfes aller gegen alle. Aus Sicht der neuen Formation des globalen Südens, zu der sich nun auch der vormalige Osten gesellt, ist es dagegen an der Zeit, ein altes Unrechtssystem, das seine Wurzeln in der europäischen Expansion seit dem 16. Jahrhundert und im Kolonialismus hat, endlich aus den Angeln zu heben. Infolgedessen nimmt die Zahl der Anspruchsberechtigten zu. Mit der Angleichung der Machtverhältnisse verschärft sich nicht nur die weltweite Konkurrenz um materielle Ressourcen und übt zusätzlichen Druck auf die Wahrnehmung lokaler Konfliktherde aus. Auch Gemeingüter symbolischer Art - Anerkennung, Hoffnung, Möglichkeitssinn, Vorstellbarkeit einer gemeinsamen Zukunft - geraten unter das Vorzeichen zunehmender Verknappung. Für die vormals Benachteiligten ist der Tag der Aufrechnung gekommen, und wieder läuft das auf eine weit zurückgreifende Rückabwicklung der Vergangenheit hinaus."

Weitere Artikel: Der Politikwissenschaftler Armin Schäfer denkt über das Verhältnis von Repräsentation und Repräsentativität im Parlament nach.
Archiv: Merkur

Deník Referendum (Tschechien), 09.04.2024

Schon vor dem Stichwahlergebnis der slowakischen Präsidentschaftswahlen - bei denen der russlandfreundliche Populist Peter Pellegrini gewann - diagnostizierte der tschechische Politologe Jiří Pehe vor wenigen Tagen, dass Mitteleuropa im Verschwinden sei. Das intellektuelle Konzept Mitteleuropas als eigener Kulturraum, den Milan Kundera 1983 in seinem berühmten Essay als den nach Osten "entführten Westen" bezeichnete und den viele nach dem Fall des Kommunismus im Rahmen eines freien Europas wiederzubeleben hofften, präsentiere sich nun eher als ein "unsicherer Spalt zwischen dem Westen und Russland". Schon die Sache mit dem eigenen Kulturraum sei von Anfang an eher fragwürdig gewesen: "Im Rahmen der Visegrád-Gruppe V4 entstanden zwar diverse Mechanismen und Institutionen zur kulturellen Zusammenarbeit, es hat sich jedoch gezeigt, dass die Öffentlichkeit aller vier Länder, besonders die jungen Menschen, eher zur westlichen Kulturproduktion aufsehen als zu einem gemeinsamen kulturellen Erbe. Und dass die jeweilige Gesellschaft das kulturelle und intellektuelle Geschehen in den anderen Visegrád-Ländern, wenn überhaupt, eher als Ergänzung zur kulturellen Produktion des Westens betrachtet." Auf politischer Ebene habe sich die jeweilige Erfahrung der V4-Länder zwischen den beiden Weltkriegen als wesentlich erwiesen, so Pehe. "Während die Tschechoslowakei zu jener Zeit ein demokratisches Land war (dessen östliche Hälfte - die Slowakei - freilich vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs in den Faschismus abglitt), funktionierten Ungarn und Polen als autoritäre Systeme. Viele der Ideen, die die Politik der Zwischenkriegszeit in diesen Ländern bestimmten, begannen nach 1989 auch die Politik der neuen Demokratien nach und nach zu beeinflussen. (…) Mit anderen Worten, es hat sich ergeben, dass die politischen Vermächtnisse der einzelnen V4-Länder womöglich mehr Unterschiede in sich bergen als etwas, was diese Länder produktiv miteinander verbindet." Durch das Gewicht Polens ergebe sich zudem eine politische Asymmetrie: Polen hat "mehr Einwohner als die anderen drei Länder zusammen und gehörte damals nur marginal zum Habsburger Mitteleuropa." Der Ukrainekrieg wirft nun ein neues Scheinwerferlicht auf die Region, deren politische Ambivalenzen ebenso in Österreich zutage treten, so Pehe. Die Tschechische Republik bewege sich auf schmalem Grat, denn Umfragen deuteten an, "dass sie bei den nächsten Wahlen ins Lager von Slowakei und Ungarn wechseln könnte. Sollte dies geschehen, wäre das die ironische Widerlegung von Kunderas These vom 'westlichen Mitteleuropa', das gewaltsam von der Sowjetunion nach Osten entführt wurde."

HVG (Ungarn), 03.04.2024

Der Verleger Ádám Halmos war Programmdirektor und Anteilseigner von Libri, der größten Buchhandelskette Ungarns, bis die gegenwärtige Regierung die Übernahme durch eine Regierungsinstitution forcierte. Halmos verkaufte seinen Anteil und gründete das unabhängige Verlagshaus Open Books. Er wollte seine Unabhängigkeit behalten, erklärt er seine Entscheidung und gibt Einblick in den Zustand des Buchmarktes in Ungarn: "Für einen Verleger bedeutet Unabhängigkeit heute nicht, dass eine allmächtige Person unsere großen Schriftsteller zensiert oder verbietet. Auch im Spätsozialismus hat man das kaum noch getan. Unabhängigkeit bedeutet für mich, ob ich moralisch, wirtschaftlich und menschlich autonom entscheiden kann. Kann ich eine vielfältige, offene, marktwirtschaftlich orientierte Organisation führen, oder muss ich vorsichtig sein? Niemand hat sonst Entscheidungsgewalt bei der Art des Buches, das ich veröffentlichen will. Aber die Verpackung und die Aufmachung werden bereits vom Staat geregelt und bei 'Abweichung' bestraft. Auch die Werbung, die ein Buch oder ein Autor erhalten darf, wird nicht nur nach Marktgesichtspunkten entschieden (...) Die staatliche Kulturpolitik zielt auf eine institutionelle Zentralisierung und die Schaffung eines zunehmend monochromen kulturellen Raums ab. Libri ist Eigentum der MCC, die von staatlich Beauftragten geleitet und mit Hunderten von Milliarden öffentlicher Gelder finanziert wird. Das Ziel von Libri ist immer noch, der einflussreichste Akteur auf dem Markt zu sein, was für manche Menschen eine bequeme Umgebung ist, für mich weniger. Jeder soll an der eigenen Position sein. Ich ziehe es vor, etwas aufzubauen und meine Meinung frei zu äußern."
Archiv: HVG

Elet es Irodalom (Ungarn), 09.04.2024

Sándor Biszak, Gründer des digitalen Archivs Arcanum, spricht unter anderem über den Zustand der Bibliotheken und Archive in Ungarn, sowie über die drei größten Gefahren für Bücher: "Wir bekommen schreckliche Materialien. Die Bibliothekare sollten mir nicht sagen, dass ich barbarisch bin, denn Bibliotheken sind oft in barbarischen Zuständen. Niemand kennt die Zeitschriftenlager der Region besser als ich. Es gibt verschimmelte, zerfledderte, halb gefaltete, zerrissene Zeitschriften. Unser Erbe, unsere Schätze gehen vor die Hunde und werden vernichtet. Viele von ihnen werden in einem besseren Zustand zurückgegeben, als wir sie geholt haben. Aber es wird auch viel weggeworfen, und leider sind wir nicht immer vor Ort. (…) Fest gebundene, große Bände lassen sich mit keiner anderen Methode digitalisieren als unsere. Es bricht mir das Herz, wenn ein Dokument mühsam digitalisiert wird aber die Mitte nicht sichtbar ist, weil zwei oder drei Wörter fehlen und der Text durch die Biegung schwer zu lesen ist. Der größte Feind des Buches ist der Leser. Er reißt (Seiten) heraus, schneidet Artikel mit einer Rasierklinge aus, aber auch der Bibliothekar kann durch falsche Aufbewahrung Schaden anrichten. Erst an dritter Stelle würde ich den Digitalisierer nennen, denn natürlich gibt es beim Digitalisieren Kollateralschäden. Aber am Ende glättet man die Seiten, bügelt sie aus und klebt sie. Für manche Zeitungen ist es die Erlösung, wenn sie digitalisiert werden."

Boston Review (USA), 02.04.2024

Ja, dass Pitchfork von Condé Nast als Musiksparte von GQ abgewickelt wird, ist ein Verlust, konzediert auch Eli Zeger. Vielleicht steckt darin aber auch eine Chance, argumentiert er weiter. Denn die meisten Vorab-Nachrufe auf Pitchfork spielten die Schwächen des tonangebenden Online-Musikmagazins zugunsten schwärmerischer Verklärungen ziemlich herunter. Dabei ließe sich auch argumentieren, dass Pitchfork selbst unter dem höhen wirtschaftlichen Druck, unter dem das Magazin stand, den Niedergang der Albumrezension als journalistisch-literarisches Format maßgeblich mit vorangetrieben hat. "Vom Schreiben über Musik zu leben ist genauso wenig nachhaltig wie vom Musikspielen leben zu wollen. Will ein Künstler oder Kritiker sich zumindest ein klitzekleines bisschen Einkommen unter den Nagel reißen, ist er dem von oben nach unten durchgereichten Druck ausgesetzt, formelhaft zu sein - auf Kosten von Originalität, Experimentierfreude und sorgfältigem Handwerk. Musiker optimieren sich selbst für Streaming-Plattformen, indem sie ihre kreativen Entscheidungen darauf gründen, was ihre monatliche Zuhörerschaft boostert und ihre Stücke auf stimmungsbasierte Playlists bringt. ... Während Spotify das Entdecken neuer Musik monopolisiert hat, hauen Pitchfork, genau wie Spin, Consequence of Sound und andere Musik-Seiten in Konzernbesitz in einem vergeblichen Wettrennen mit den Algorithmen Content raus. Die Folge sind unausgegorene, meistens kurz angebundene Reviews, die Pressemitteilungen nachplappern. Man gesteht den Schreibern nur kostbar wenig an Zeit, Geld und Raum zu - Rahmenbedingungen, die es kaum ermöglichen, mehr als bloß zu schludern. Die Kritiker fliehen derweil zu Newsletter-Anbietern wie Substack und Ghost, um jene Reichweite, die sie sich erschrieben haben, in Geld umzusetzen. Während das Klima für ernsthafte Kritik in sich zusammenbricht, nutzen sie die einzige ihnen verbliebene Rückzugsmöglichkeit und vergraben sich jeder für sich in digitale Höhlen. ... Aber Warten ist nicht die einzige Option. Der Vorschlag des früheren Pitchfork-Redakteurs Cat Zhang, eine genossenschaftlich organisierte Publikation zu schaffen, sollte nicht vergessen werden. ... Eine im Besitz der Schreiber befindliche Publikation, die auf geduldige Kritik in langen Texten setzt, könnte zwischen den Musikarbeitern Solidarität schaffen, die sich ansonsten nie als derselben Klasse zugehörig empfunden hätten - eine Art ästhetisches Gegenseitigkeitsverhältnis oder in anderen Worten: eine neue Kultur, die Tiefe und Analyse gegenüber Hype und flüchtigen Beschäftigungen priorisiert."
Archiv: Boston Review