Magazinrundschau - Archiv

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Magazinrundschau vom 28.02.2023 - Wired

Wikipedia in allen Ehren, aber die ältere crowdgesourcte Wissensdatenbank im Netz ist eindeutig die Internet Moviedatabase - kurz IMDb -, das für Filmfans unverzichtbare Online-Filmlexikon, dessen schier unfassbare Informationshöhe und -dichte seit den frühen Neunzigern auf der Arbeit von Abermillionen von Beiträgern aufbaut. Dies ist vor allem das Verdienst von "Supercontributors", die im hohen sechs- bis siebenstelligen Bereich Wissen (von simplen Credits bis zu ausformulierten Biografien) zur Verfügung gestellt haben. Einige von ihnen stellt Stephen Lurie in seiner Reportage vor - darunter etwa den Filmnerd, der in den Sechzigern Tonnen von Hollywood-Pressemappen gesammelt und diese im hohen Alter für die IMDb ausgewertet hat. Die jüngste Generation wählt aber längst andere Mittel, um auf einen der begehrten "Top-Contributor"-Plätze zu gelangen: Eine Userin namens Ines Pape macht ihn mit ihren 22 Millionen Updates ziemlich stutzig: "Supercontributors mögen in die Hall of Fame vorstoßen, indem sie Prosa schreiben, aber um an die Spitze zu gelangen, muss man programmieren können. Zwar sind mir Ines Papes Methoden nicht bekannt, aber der Topcontributor des letzten Jahres hat mir erzählt, wie er das geschafft hat." Und zwar "schrieb Simon Lyngar Programme, um von den Schnittstellen von Spotify und norwegischen Rundfunkanstalten Daten zu ziehen, und zwar insbesondere Podcast-Daten, um sie zur IMDb beizusteuern. Heute, erzählt er, 'kann ich mein Programm am Morgen starten, es macht alles auf eigene Faust. Wenn ich von der Universität nach Hause komme, habe ich 100.000 weitere Aktualisierungen unter meinem Namen beigesteuert.' Einige der Contributors, die in den Foren der Website solche Automatisierungen diskutieren, sehen das gar nicht. Für sie handelt es sich dabei um eine Schummelmethode, um nach vorne zu kommen. ... IMDb selbst schürft als Firma derzeit noch keine Informationen auf diese Idee, aber man kann sich kaum vorstellen, dass eine Amazon-Tochter solche Werkzeuge liegen lässt, wenn sie ihren Wert unter Beweis gestellt haben."

Magazinrundschau vom 21.02.2023 - Wired

Vor 50 Jahren erschien Thomas Pynchons irrwitziger Fiebertraum-Roman "Die Enden der Parabel". Die hochgradig paranoide, legendär enzyklopädisch zerfranste Geschichte rund um die V2 der Nazis ist heute vielleicht noch aktueller als damals, findet John Semley - und dies gerade weil die Realität heute noch viel absurder wirkt als Pynchon es sich damals um 1970 unter schwerem Hasch-Einfluss ausgemalt hatte. Die Idee, die der Roman durchspielt, dass Konzerne den Nationalstaat verdrängen - was der Kritiker Edward Mendelson als 'Pynchons neuen Internationalismus' bezeichnete -, erwies sich als die zutreffendste Vorhersage des Autors. Im Jahr 1973, als der Kalte Krieg noch schwer auf der Welt lastete, mag die Vorstellung, dass Nationen und Ideologien zur Nebensache werden, noch wie ein Stoff aus Science-Fiction-Groschenromanen ausgesehen haben. Noch bevor Don DeLillo und George Romero Supermärkte und Einkaufszentren als Tempel spiritueller Sehnsüchte zeigten, Jahrzehnte bevor Fukuyama 'das Ende der Geschichte' ausrief, sah Pynchon, dass die neue Weltordnung eine Einverleibung sein würde: ein technologisches Arrangement des globalen Kapitals, das Nationalitäten und moralische Bedenken hinter sich lassen würde. 50 Jahre später wirkt diese Ballung allumfassend. Die Imperien Einzelner konkurrieren mit dem Bruttoinlandsprodukt vieler Länder. Private Industrielle haben die Fantasie von Pynchons geistesgestörtem Captain Blicero umgesetzt, der seine(n) Raketenabschussrampe/Sexkeller als seinen 'kleinen Staat' bezeichnet. Und die tatsächlichen Männer, die all dieses Kapital befehligen (einige der wohlhabendsten Männer der Welt), zeigen sich nun, genau wie ihre Vorgänger in den alten Imperien, besessen von diesem pynchonoidestem Totem der megalomanen Techno-Eitelkeit: der Rakete. Die aufgeblasenen Fantasien von der Eroberung des Weltraums und des Raketenmystizismus wurden von Multimilliardären wie Jeff Bezos, Richard Branson und Elon Musk aufgegriffen. Sie haben sich ihre eigenen Raketen-Kartelle aufgebaut und kleiden ihre Pläne erdgebundener Ausbeutung in wahnhafte Träume von der Eroberung der Sterne. Lass die Vollpfosten nur weiter in den Himmel stieren, verblendet vom - wie es Walter Dornberger, der Kopf des V2-Programms der Nazis einst nannte - 'uralten Traum' der Sternfahrt oder von der Science-Fiction-Fantasie lebhaft wuselnder Mars-Kolonien, dann werden sie vielleicht nicht merken, was du hier unten auf dem langweiligen alten Planeten Erde so alles treibst. Es ist lebendig gewordene pynchonoide Geschichte."

Magazinrundschau vom 07.02.2023 - Wired

Als der Messengerdienst Telegram vor einigen Jahren öffentlichkeitswirksam an den Start ging, war es dem russischen Gründer Pavel Durov noch wichtig, einen digitalen Kommunikationsweg anzubieten, der insbesondere den russischen Behörden nicht zugänglich war. Die gängige Ansicht, dass dieser Dienst per se abhörsicher sei, war zwar immer schon eher ein pr-trächtiger Mythos als realer Fakt. Aber zumindest mit bestimmten Einstellungen sollte der Schutz der Privatsphäre sehr, sehr hoch sein. Dennoch berichten zahlreiche russische Aktivisten von mehr und mehr Hinweisen darauf, dass Putins Ermittler wohl mitlesen. Ob die Geheimpolizei tatsächlich tief in den Gräten der Software sitzt oder ob sie sich einfach nur Spionagesoftware auf die Telefone der Aktivisten gepackt hat, lässt Irene Suosalo in ihrer Reportage zwar offen. Aber lesenswert ist sie alleine schon deshalb für das, was sie über den Wandel des Verhältnisses von Telegram zur russischen Obrigkeit und der Verfilzung damit zu berichten hat: Noch 2018 gab es seitens der Behörden rigorose Blockier-Versuche, weil Telegram die Herausgabe privater Daten verweigerte. 2020 aber platzte einen Milliardendeal, der den Service in wirtschaftliche Bedrängnis brachte. Nur wenige Wochen später "schlugen zwei Abgeordnete der Pro-Kremlin-Partei im russischen Parlament vor, das Telegram-Verbot aufzuheben, weil der Dienst ein wichtiges Kommunikationstool für die Regierung in Zeiten der Krise sein könnte. Durov postete auf Telegram seine Unterstützung für diesen Antrag, weil die Präsenz seiner Firma in Russland die technologische Innovation des Landes, aber auch die 'nationale Sicherheit' stärken könne. Auch behauptete er, dass sein Team die 'Methoden, um extremistische Propaganda aufzuspüren und zu entfernen' seit 2018 verbessert habe. ... Namentlich nicht genannte Quellen aus der Regierung erzählten der russischen Nachrichtenagenture Interfax, dass Telegram zugestimmt hatte, mit den Sicherheitsbehörden in bestimmten Fällen zu kooperieren. ... Einer Quelle aus der Regierung zufolge, die mit dem Deal vertraut ist, war auch die russische Staatsbank VTB, die mit dem Kremlin eng verbandelt ist, an den Verhandlungen beteiligt. Im Januar 2021 kam ein Bericht heraus, demzufolge Telegram VTB angeheuert hat, um den Wert der Firma zu schätzen: etwa 124 Milliarden Dollar im Jahr 2022. Telegram kündigte auch an, dass sie fünfjährige Anleihen anbieten würden. VTB wäre dabei behilflich, sie an Investoren zu verkaufen. Im März 2021 hatte Telegram von diesen Unterstützern mehr als eine Milliarde eingeholt. ... 'Telegram ist heute das zentrale Rückgrat für die russische Desinformationsmaschinerie', sagt Jānis Sārts, Leiter des NATO Strategic Communications Centre of Excellence. 'Und es ist auch ihr Werkzeug, um all die Straßenblockaden zu umfahren, die westliche Plattformen errichtet haben.'"

Magazinrundschau vom 06.12.2022 - Wired

Twitter geht zum Teufel: Täglich neue Musk-Kapriolen, Massenabwanderungen der Werbepartner und Nutzer, Massentlassungen hinter den Kulissen und in Folge bereits eine spürbar steigende Zahl von Fehleranfälligkeiten, Störungen und nervenden Hass-Acounts - und der Aktienkurs? Im Sinkflug. Dass da manche die Plattform schon endgültig am Ende sehen, findet Eve Fairbanks zunächst einmal sehr plausibel - stieß sie vor kurzem doch noch in dasselbe Horn. Aber bei genauerem Hinsehen ist Twitter es wert, gerettet zu werden, findet sie. Nicht nur, weil die Plattform einen zentralen Stellenwert im Ökosystem der Medien hat - und sei es nur als Peilsender für Befindlichkeiten sowie als Rekrutierungsort für neue Stimmen und Positionen. Sondern auch, weil Twitter in manchen Regionen dieser Welt das Forum politischer Meinungsbildung schlechthin darstellt. Beispiel Simbabwe, wo die freie Meinungsäußerung von der Regierung im Alltag für gewöhnlich rigoros unterdrückt wird: "Twitter ist 'unser politischer Treffpunkt' geworden, erzählt der simbabwische Journalist Tinashe Mushakavanhu. Die Anonymität der App gestattet 'einen sehr freien, sehr kritischen Austausch über das Land'. Mitternacht ist die Stunde, zu der man das simbabwische Twitter aufsuchen sollte, sagt Mushakavanhu. Dann wird das Handynetz günstiger; auch deshalb ist Twitter unersetzlich. Bild- und videolastige Apps verbrauchen einfach zu viel Datenvolumen, was sich die meisten Simbabwer schlicht nicht leisten können. ... In Simbabwe sehen sich die Politiker dazu gezwungen, auf Twitter-Aufruhr zu reagieren. Twitter ist auch der Ort, an dem Leute, die das Land verlassen mussten, in gewisser Weise nach Hause zurückkehren können. Während sie im Ausland auf Asyl warten, können Tausende politische Flüchtlinger 'legal nicht arbeiten', erzählt Mushakavanhu. 'Das sind Leute, die nicht nach Hause fahren können, um ihre Eltern zu beerdigen.' Also 'werden sie auf Twitter ziemlich rege. Twitter ist das einzige, was sie haben. Es ist der Ort für Fantasien und wo sie ihre Verzweiflung artikulieren. Es ist ein Heimatort.' ... Mushakavanhus Eindruck ist, dass die ihm bekannten Simbabwer auf Twitter sich geradezu anstrengen, nicht darüber zu reden, was geschehen würde, wenn die App untergehen sollte. Musks Streiche sind für sie ganz und gar nicht lustig. 'Wir haben nicht den Luxus, einfach weiterzuziehen', reflektiert er. Twitter 'ist kostenlos und einfach praktisch. Neuen Plattformen dürfte es schwerfallen, erneut diesen entwickelten Gemeinschaftssinn aufzubauen, den wir dort genießen."
Stichwörter: Twitter, Musk, Elon, Simbabwe, Asyl, Luxus

Magazinrundschau vom 22.11.2022 - Wired

Träumen Künstliche Intelligenzen von elektrischen Schafen? Das könnte man in Anlehnung an einen Science-Fiction-Klassiker von Philip K. Dick fragen, liest man, was Kevin Kelly über den Fortschritt schreibt, den Künstliche Intelligenzen im Bereich Bildgeneration in den letzten Monaten gemacht haben (für viele Beispiele und anregende Texte zu den Implikationen, die damit einhergehen, empfiehlt sich ein Blick ins Archiv von René Walters "Good Internet"-Newsletter). Tools wie etwa Dall-E, Stable Diffusion, Midjourney und Artbreeder gestatten es, auf Grundlage einer Analyse von mehreren Milliarden von Bildern, die das Internet heute problemlos zur Verfügung stellt, teils herrlich skurrile, teils umwerfende Bilder zu produzieren - ganz einfach, indem man den entsprechenden Wunsch in einen Textschlitz schreibt: Je präziser die Angaben, desto atemberaubender das Ergebnis - je diffuser und knapper, umso surrealer. Schon schlagen Künstler Alarm, weil ihre Arbeiten ausgeschlachtet würden, um typische Stile zu simulieren. Kelly hingegen schlägt vor, K.I.-Bilder zu einer eigenen Kunstform zu erklären: "Es ist nicht ungewöhnlich, für ein herausstechendes Bild 50 Arbeitsschritte zu veranschlagen. Hinter dieser neuen Art von Zauberkunst steckt die Kunstfertigkeit der Texteingabe. Jeder Künstler oder Designer entwickelt beim Raffinement seiner Texteingabe eine ganz spezielle Art, um die K.I. dazu zu verführen, ihr Bestes hervorzubringen. Nennen wir diese neuen Künstler K.I.-Flüsterer oder Texteingabekünstler oder einfach Souffleure. Die Souffleure arbeiten fast wie Regisseure, indem sie die Arbeit ihrer fremdartigen Kollaborateure in Richtung einer vereinheitlichen Vision leiten. Der vielschichtige Prozess, den es braucht, um einer K.I. ein erstklassiges Bild zu entlocken, entwickelt sich gerade rasch zu einer künstlerischen Fertigkeit. Überdurchschnittliche Texteingaben umfassen nicht nur das Subjekt, sondern beschreiben auch die Ausleuchtung, die Perspektive, die evozierte Stimmung, die Farbpalette, den Grad an Abstraktion und vielleicht noch ein Referenzbild zur Imitation." Aber "nicht jeder Souffleur verspürt auch den Drang, seine Geheimnisse preiszugeben." Mario Klingemann etwa "ist berühmt dafür, seine Eingaben nicht zu teilen. 'Ich glaube, alle Bilder existieren bereits', sagt er. 'Man erstellt sie nicht, man findet sie. Wenn clevere Texteingaben dich zu einem bestimmten Ort führen, dann verstehe ich nicht, warum ich die ganze Welt dorthin einladen sollte.'"

Ein paar Beispiele gefällig? Der Spieledesigner Jason Allen hat kürzlich auf einer Messe den Preis als bester Nachwuchskünstler gewonnen - mit einem ziemlich Aufsehen erregenden Bild, das er mit Midjourney erstellt hat. Ein Garant für wochenlange Albträume ist diese tolle Galerie mit Hippies, deren okkulte Drogenexperimente irgendwann ganz schreckliche Auswüchse angenommen haben. Und die VFX-Jungs von Corridow Crew überlegen gerade, wie sie K.I. nutzen können - dazu ein vergnügliches Video:

Magazinrundschau vom 18.10.2022 - Wired

Nancy Scola porträtiert Tara McGowan, die im Journalismus begann, dann Obamas Wahlkampf zur Wiederwahl vor allem auf Social Media aufmotzte und jetzt mit einer Agenda in den Journalismus zurückkehrt: Mit ihrem Projekt "Courier Newsrooms" gründet sie in den USA zahlreiche linksliberale Onlinemedien, die via präzise lancierter Social-Media-Werbung Einfluss auf das Wahlverhalten nehmen sollen. Dafür will McGowan zum einen verloren gegangenes Vertrauen in den Journalismus wiederherstellen und dies zum anderen ummünzen, indem sie das brachliegende Potenzial der gewaltigen Menge an Nichtwählern für die Demokraten nutzbar macht. Alleine in den letzten drei Jahren sind dafür fünf Millionen Dollar alleine an Facebook und Instagram für Werbeanzeigen gegangen, erfahren wir. "Unterstützt vom Billionär und LinkedIn-Gründer Reid Hoffman, dem liberalen Philanthropisten George Soros und anderen hat sie alleine in der ersten Hälfte dieses Jahres 15 Millionen Dollar an Mitteln einholen können, und sie zielt auf mehr. Ihre Kritiker hassen, was McGowan im Schilde führt. Wähler zu mobilisieren, das 'ist einfach nichts, was Newsrooms tun', wie es Caitlin Sutherland, die Geschäftsführerin der rechtsneigenden Nonprofit-Organisation Americans for Public Trust, ausdrückt. McGowan widerspricht dem nicht. Sie findet, dass genau darin das Problem liegt. Ihr Argument geht so: Zu viele Newsrooms haben sich verrannt, indem sie nur noch Elite-Leser ansprechen und hinter Paywalls Zuflucht nehmen (vor einem Jahrzehnt noch eine Seltenheit, heute haben dreiviertel aller US-Zeitungen eine solche). Unterdessen mussten seit 2004 mehr als 2000 Zeitungen im ganzen Land den Betrieb einstellen und ließen damit Heerscharen von Amerikanern ohne jene Sorte vertrauenswürdiger Informationen zurück, die sie zur Wahl bewegen könnten. Stattdessen haben 80 Millionen, die in der Schicksalswahl zwischen Donald Trump und Joe Biden mitabstimmen hätten können, dies nicht getan. ... McGowan setzt als erstes und am meisten auf die These, dass Nachrichtenkonsum tatsächlich das Wählerverhalten beeinflusst. Dahinter steckt eine bahnbrechende Studie von 2006 zu dem, was deren Autoren den Fox-News-Effekt nennen. Die Forscher fanden heraus, dass die Dauerberichterstattung des konservativen Kanals, als er seinen Betrieb aufnahm, ausreichte, um 200.000 Menschen davon zu überzeugen, diesmal die Republikaner zu wählen - genug, um George W. Bush zum Präsidenten zu machen."

Außerdem berichtet Tom Simonite von Forschungen an einer Pille, die die Lebenszeit von Hunden verlängern könnte - und vielleicht sogar die von Menschen.

Magazinrundschau vom 29.08.2022 - Wired

Sakie Miura porträtiert die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata, die im englischsprachigen Ausland bereits ziemlich gefeiert wird und auch in Deutschland in den letzten Jahren allmählich entdeckt wird. Dass deren Arbeiten oft von entfremdeten Selbstbeobachtungen handeln, hat auch damit zu tun, dass die Autorin selbst, gelinde gesagt, zu der einen oder anderen Wunderlichkeit neigt - etwa dass viele ihrer Freunde rein imaginiert sind und sie mit einem dieser imaginierten Freunde gerade eine offenbar sehr innige Liebesbeziehung pflegt. Ein Unbehagen in der Kultur zieht sich durch all ihre Romane. "Ihre Figuren können die Gesellschaft nicht im Ganzen von sich weisen, also leben sie missbehaglich darin. Sie handeln so, als wäre der Gesellschaftsvertrag auf dem Weg zu ihnen in der Post verloren gegangen oder als hätten sie vergessen, ihn zu unterzeichnen. Liest man Murata, beginnt man unweigerlich damit, all die Vertragsklauseln der Allgemeinen menschlichen Geschäftsbedingungen zu hinterfragen, über die man sich zuvor nie Gedanken gemacht: Hey, dieser Sache mit dem Baby-Kriegen habe ich nie zugestimmt! Muratas Arbeiten neigen dazu, auf das Problem, einen Uterus zu haben, mit unvollkommenen Alternativen statt Lösungen zu reagieren. Ihre Geschichten handeln von künstlichen Unterleibern, einer kontaktfreien Besamung und männlichen Schwangerschaften. Aber ihre Visionen für eine bessere Welt krümmen sich oft in Richtung des Monströsen. In einem ihrer populären, aber noch unübersetzten Bücher mit dem Titel 'Geburtsmord auf Japanisch' gibt die Regierung einen bizarren Anreiz, um die im Schwinden begriffene Bevölkerung zur Fortpflanzung anzuregen: Jeder mit zehn Babys darf eine Person seiner Wahl ermorden. ... In dem Roman, an dem Murata aktuell schreibt, werden andere lebende Wesen dazu gezwungen, Babys für die Menschen auszutragen. 'Ich dachte einfach, das würde Frauen sehr entlasten', sagt sie zu dieser süffisanten Idee und lacht. 'Aber es wurde einfach immer höllischer. Ich habe damit gar nichts gelöst.'"

Magazinrundschau vom 02.08.2022 - Wired

Wie kriegen wir unseren übermäßigen CO2-Ausstoß wieder aus der Atmosphäre? Oder wenigstens: Wie schaffen wir es, dass der CO2-Ausstoß in der für die Energiewende nötigen Übergangsphase gar nicht erst in die Atmosphäre gelangt? In Texas bemüht sich eine ganze Reihe von Projekten, dafür eine Lösung zu finden, berichtet Jeffrey Ball - und natürlich geht dies im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nur unter der Bedingung, dass ein neuer Markt entsteht: "Die Idee dahinter ist, dass die größten Emissionsverursacher ihren Ausstoß einsaugen und dafür zahlen, dass dieser durch Druck in flüssige Form gebracht und - sicher und dauerhaft - zurück in die selben Gesteinsschichten injiziert wird, aus denen er ursprünglich gekommen ist. Dabei soll Kohlenstoff in einem Maßstab eingefangen und eingelagert werden, der weltweit seinesgleichen nicht kennt, umfassend genug, um dem Klimawandel ordentlich etwas entgegen zu setzen." Steueranreize sollen die Sache nun ins Laufen bringen, "mit dem Ergebnis, dass sich heute, mehr als ein Jahrhundert nachdem Glücksritter in den Golf von Mexiko ausschwärmten, um von seinem Kohlenwasserstoff zu profitieren, ein neuer Schwarm in die Gegend zieht - diesmal, um jene Schäden abzumildern, die Kohlenwasserstoff verursacht. Eine Suche, die noch vor wenigen Jahren ein rein wissenschaftliches Projekt war, ist nun ein Spiel mit hohem Einsatz, um geeignetes Gestein für sich zu beanspruchen. In einem Kreis von 75 Meilen rund um Port Arhur befinden sich mehr als eine halbes Dutzend von Projekten von industriellen Ausmaßen in verschiedenen Phasen der Vorbereitung. Ihre Finanziers sind Ölgiganten wie ExxonMobil, ConocoPhillips, BP und TotalEnergies, die die Aussicht in den Raum gestellt haben, mehr als 100 Milliarden Dollar zu investieren; große Pipeline-Anbieter, die menschengemachtes CO2 als riesigen neuen Markt betrachten; Entwickler aus dem Bereich erneuerbarer Energien, die fossilen Treibstoff einst verteufelten, ihn jetzt aber entkohlen wollen, um daraus Gewinn zu schlagen; und Landbesitzer, die erahnen, dass sich mit ihrem Schmutz auf neue Weise Geld machen lässt. Ein Massenansturm auf Kapital, Landrechte und offizielle Genehmigungen durch die Behörden ist in vollem Gang. ... Kohlenstoff in einer Menge einzulagern, um dem Klima materiell zu helfen, ist heute nach Ansicht vieler Wissenschaftler ein Must. Doch wäre es dafür nötig, sich mit teuflisch schwierigen Dilemmas zu konfrontieren, die rein technische Fragen übersteigen und in den Bereich der Philosophie vordringen. Welchen Grad an Zuversicht sollten die Regulatoren ansetzen, bevor sie einem CO2-Einlagerungsprojekt ihren Segen geben, dass es wohl schon nicht lecken wird? Wer sollte juristisch haftbar sein, um die Sicherheit, injizierten Kohlenstoffs zu überwachen und für wie lange? Und welche Strafen sollte es geben, wenn die Sache scheitert? Die Auseinandersetzungen zwischen Umweltschützern und der Industrie über solche Fragen gewinnen immer mehr an Schärfe."

Außerdem: John Semley wirft einen Blick darauf, wie (und warum) Wissenschaftler zur Entwicklung psychedelischer Drogen der Zukunft forschen.

Magazinrundschau vom 14.06.2022 - Wired

Geoffrey Cain hat sich in Kiew mit Wolodimir Selenski getroffen. In dem Gespräch geht es insbesondere um digitale Infrastrukturen: Die via Satellit dank SpaceX bewerkstelligten Internet-Zugänge etwa sind "sehr effektiv. Sie halfen uns sehr, vor allem wenn Städte und Ortschaften blockiert waren. So konnten wir mit den besetzten Gebieten Kontakt halten. Manchmal verloren wir die ganze Kommunikation mit diesen Orten. Doch verliert man den Kontakt zu den Leuten, dann bedeutet dies den totalen Kontrollverlust, einen umfassenden Realitätsverlust. Glauben Sie mir: Die Leute, die es aus den besetzten Gebieten raus schafften und keine SpaceX-Anbindung hatten, erzählten uns, dass die Russen ihnen gesagt haben, dass die Ukraine nicht mehr existiert - und manche glaubten das sogar. ... In den ersten Kriegstagen widmeten wir einen beträchtlichen Teil unserer Zeit der Logistik für den Kampf im Cyberspace. Ich denke, darin liegt die Zukunft - und ich glaube, hier entstand unsere dritte Armee. Wir haben heute wahrscheinlich verschiedene Armeen: die Volksarmee, das bewaffnete Heer der Ukraine und die IT-Armee. Die IT-Armee setzte sich energisch für den Cyberschutz unserer Institutionen ein, die harten Angriffen ausgesetzt waren. Die Angreifer wollten die Nationalbank und das Abgeordnetenkabinett zu Fall bringen. Sie wollten alles niederreißen, damit wir keine Löhne und Renten mehr zahlen können, damit das Licht und die Kommunikation ausfallen, sodass die Leute nicht mehr hören könnten, was ich ihnen sage, was wir alle zu sagen haben, was es an aktuellen Informationen gibt. Unsere IT-Armee hat hier ganze Arbeit geleistet."

Magazinrundschau vom 17.05.2022 - Wired

Dezentrale Daten, Antikapitalismus, Partizipation und immense Freiheiten: Die Versprechen, mit denen das blockchainbasierte Web3 für sich wirbt, klingen fast schon nostalgisch stimmend nach jenen, mit denen schon das ursprüngliche Netz und das Web 2.0 an den Start gegangen sind, nur zu einem bitteren Erwachen (Überwachung, Datensilos, Machtkonzentration) zu führen. Was ist also vom Web3 zu halten, fragt sich Gilad Edelman in seiner Reportage. Blockchain, also die Technologie, die Kryptowährungen ermöglicht, gestattet es ja, Daten dezentral über das Netzwerk hinweg zu speichern, statt lediglich zentrale Datenserver in einem dezentralen Netzwerk miteinander zu verbinden. Das Problem dabei: Bis solche Technologien in den Bereich der Anwenderfreundlichkeit geraten, ist es noch ein langer Weg. "Die Nutzer-Unfreundlichkeit von Krypto-Techniken belegt das ganze Ökosystem mit dem erheblichen Druck, genau das zu tun, für was es nicht angelegt ist: zu zentralisieren." In einem Blogbeitrag schrieb der Kryptographer Moxie Marlinspike, "dass die meisten Menschen sich nach Bequemlichkeit sehnen, weshalb sich letzten Endes immer zentralisierte Dienste auf dezentralen Strukturen setzen. In den Anfangstagen von Web 1.0 dachten einige noch 'wir werden alle unsere eigenen Webserver haben, unsere eigenen Mailserver für unsere eigene E-Mail', schreibt er. ... Dieses Muster wiederholt sich bereits im Hinblick auf Web3. Dass eine App auf unserem Handy mit der Blockchain kommuniziert, gestaltet sich noch als sehr schwerfällig, wenn es überhaupt möglich ist. Also sind fast alle Web3-Apps auf eine von zwei Firmen angewiesen - Infura und Alchemy -, um dies zu bewerkstelligen. Ähnlich verhält es sich mit den digitalen Geldbeuteln, die die meisten Leute nutzen, um ihr digitales Vermögen zu verwalten. Anders gesagt: Nahezu jedes Web3-Produkt muss sich auf einen Mittelsmann verlassen, um einem zu sagen, was auf der Blockchain vor sich geht. Das setzt ein gehöriges Maß an Vertrauen voraus für ein System, das mal darauf angelegt war, Vertrauen obsolet zu machen."
Stichwörter: Blockchain, Web3, Antikapitalismus