Magazinrundschau - Archiv

The New Republic

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Magazinrundschau vom 24.04.2012 - New Republic

Der britische Schriftsteller Adam Thirlwell nimmt Claude Lanzmanns Erinnerungsband "Der patagonische Hase" zum Anlass, über Lanzmanns Vorstellung von Zeugenschaft nachzudenken. Lanzmanns Konzept für seinen Film "Shoah" war es, nicht auf - womöglich noch von der SS gefilmtes - Archivmaterial zurückzugreifen, sondern nur auf mündliche Zeugenaussagen. Wahr ist für Lanzmann, der sich als Seher beschreibt, nur die Vorstellung, das geistige Bild, das aufgrund dieser Aussagen entsteht. Thirlwell misstraut dem Mystizismus, der so entsteht: "Die Shoah war etwas Neues in der Geschichte der Menschheit, das ist wahr. Aber sie ist dennoch Teil dieser Geschichte. Sie mag die Grenzen des Menschlichen überschreiten, oder der Fantasie oder der Worte, aber das heißt nur, dass wir unsere Vorstellung von den Grenzen des Menschlichen, der Fantasie oder der Worte überdenken müssen. Ich denke an die gebrochenen Worte einer Überlebenden namens Grete Salus: 'Nie soll der Mensch so viel aushalten müssen, wie er aushalten kann, und nie soll ein Mensch sehen müssen, wie dieses Leiden höchster Potenz nichts Menschliches mehr hat.' Und doch, möchte ich so leise wie möglich hinzufügen, ist es immer noch menschlich. Es kann es nicht nicht sein. Die Fotografien vor dem Krematorium V verursachen einen tiefen und permanenten Schock - nicht wegen der Art, wie die Körper verstreut und aufgehäuft auf dem Boden liegen, sondern auch wegen der Art, wie die Männer des Sonderkommandos sich bewegen. Sie stehen mit den Händen in den Hüften, wie Mechaniker in einer Autowerkstatt."

Außerdem: Adam Kirsch liest Peter Nadas' "Parallelgeschichten" mit Interesse, aber es ist harte Arbeit, gesteht er: "Wenn ein Roman wenig stilistische Allüre hat und wenig erzählerisches Momentum und keinen Sinn für Humor und von der Geschichte eines unbekannten Landes handelt und über 1100 Seiten lang ist, dann werden seine Vorzüge viele Leser kalt lassen." John Gray bespricht Jonathan Haidts Band "The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion" als eins der klügsten zum Thema.

Magazinrundschau vom 01.05.2012 - New Republic

Mit dem Erfolg ihres zweiten Albums "21" ist Adele in die Top Ten der Top Money Makers im Musikgeschäft aufgestiegen und damit "eine von nur vier Frauen, die jemals 13 Wochen und länger mit einem Album auf der Nr. 1 der Charts standen. Adele ist damit neben Judy Garland, Carole King und Witney Houston eine der vier Göttinnen der Billboard Charts", schreibt David Hajdu, der auch sonst einige Gemeinsamkeiten zwischen diesen Musikerinnen sieht. Zum Beispiel waren sie alle superclean, als sie ihre größten Erfolge feierten. Das galt auch für die bei ihrem Konzert in der Carnegie Hall 1961 39-jährige Judy Garland: "Meine Mutter liebte die Garland-Platte, und sie war kein schwuler Mann. Wie Adele für eine andere Generation war Garland in ihrer Zeit ein weibliches Popidol mit einer mächtigen weiblichen Fangemeinde. Ich vermute, meine Mutter sah in Garland ein Rollenmodell für die mittleren Jahre, sie war das Symbol einer komfortabel enterotisierten mittelalten Stärke. Und ich denke für meine Nichten, deren Facebook-Playlists sich vor allem aus Songs aus Adeles Alben 19 und 21 zusammensetzen, steht Adele möglicherweise für etwas gar nicht so verschiedenes: eine Stärke, die komfortabel enterotisiert ist für Jugend in einer Zeit, in der junge Menschen bereits genug Sex in ihrem Leben haben."

Wenn man Judy Garland bei diesem Auftritt in den frühen Sechzigern sieht, versteht man, was Hajdu meint:



Außerdem: Eric Trager stellt den Muslimbruder Mohammed Morsi vor, der Ägyptens nächster Präsident werden könnte. Richard J. Evans bespricht lobend David Stahels Militärgeschichtsbuch "Kiev 1941: Hitler's Battle for Supramcy in the Middle East". Und Matthew Kaminski bespricht Lawrence Scott Sheets Reportagebuch über den Zusammenbruch der Sowjetunion, "Eight Pieces of Empire: A Twenty Year Journey Through the Soviet Collapse".

Magazinrundschau vom 03.04.2012 - New Republic

Für einen ganz großen Wurf hält der Historiker Timothy Snyder Paul Prestons Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs (nur mit dem Titel "The Spanish Holocaust" ist Snyder überhaupt nicht einverstanden). Am Ende sieht er eine Gemeinsamkeit der Regime von Franco, Hitler und Stalin 1939: "Alle drei Regime waren, trotz ihrer beträchtlichen ideologischen Unterschiede, Beispiele für das Aufkommen neokolonialer Praktiken in Europa selbst. Die Sowjets kolonialisierten sich selbst (Stalins Ausdruck), indem sie ihre Landwirtschaft kollektivierten, um eine Industrie aufzubauen; die Deutschen wollten Osteuropa kolonialisieren um ein landwirtschaftliches Paradies für die arischen Herrenmenschen zu schaffen; Franco brachte die Kolonialtruppen aus Afrika nach Spanien, um eine traditionelle bäuerliche Ordnung wiederherzustellen und die orientalisierte Landbevölkerung zu unterdrücken. Alle drei Vorhaben waren ideologische Alternativen zu einer Landreform unter demokratischen Bedingungen, die fehlgeschlagen war; alle drei waren wirtschaftliche Antworten auf die große Depression, die das Ende des Kapitalismus zu signalisieren schien; und alle drei waren politische Modelle für eine bäuerliche Herrschaft in einem Europa, in dem die Ausweitung der Seeherrschaft und damit traditioneller Kolonialismus nicht länger möglich zu sein schien... Das große Thema der europäischen Geschichte verschiebt sich von der Kolonialisierung zur Selbstkolonialisierung in den 1930ern."

Jacob Soll liefert einen ziemlich heftigen Verriss von Norman Davies' Buch über untergegangene Königreiche in Europa, wozu auch das polnische Königreich zählt. Und hier zeigt sich für Soll der Revisionismus Davies': "Seit Jahren macht Davies es zu seiner persönlichen Mission, die polnischen Toten im Zweiten Weltkrieg mit dem Holocaust gleichzusetzen. Nun kann niemand leugnen, dass sowohl Deutsche als auch Russen Polen ermordet haben. Polen wurde durch die Angriffe von Russland und Deutschland im Zweiten Weltkrieg verkrüppelt, die Ermordung der polnischen Elite in Katyn hat dem Land für eine Generation eine tiefe Wunde geschlagen. Aber Massenmord und Massenverschwinden sind zwei verschiedene Dinge und Davies kämpft mit beiden Konzepten zusammenhanglos und dubios. Jedesmal, wenn er den Tod von Juden erwähnt, erwähnt er akribisch den Tod von Polen als ebenso wichtig."

Magazinrundschau vom 20.03.2012 - New Republic

Warum ist es liberalen muslimischen Denkern wie Abdurrahman Wahid, dem 2009 verstorbenen ehemaligen Präsidenten Indonesiens, dem 2010 verstorbenen, aus Ägypten vertriebenen Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid, und dem Islamwissenschaftler Abdullah Saeed, von den Malediven nach Australien geflohen, nicht gelungen, die extremen Ideologien der Islamisten zu untergraben? Eine Antwort auf diese Frage suchen Paul Marshall und Nina Shea in ihrem Buch "Silenced: How Apostasy and Blasphemy Codes Are Choking Freedom Worldwide", so Paul Berman, der dem Buch eine lange Besprechung widmet: "Die gelehrten muslimischen Autoren, die Beiträge für dieses Buch geschrieben haben, erklären von ihrem nicht-radikalen Standpunkt aus, dass die Scharia eher als flexibler Weckruf für eine nachdenklich fromme Moral verstanden werden sollte denn als rigides Strafgesetz. Auch Blasphemie und Apostasie lösen bei den nicht-radikalen Gelehrten kein Entsetzen aus. Es gibt nicht einmal einen Konsens darüber, wie genau Blasphemie und Apostasie zu definieren sind. Statt dessen gibt es eine Debatte. Aber diese Debatte läuft nun einmal wie sie läuft. Die liberalen Gegenargumente werden niedergetrampelt. Die Grenzen dessen, was zu denken erlaubt ist, werden immer enger. Und der Erfolg der Radikalen verdankt sich maßgeblich einem großen und nachweisbaren Faktor, den Marshall und Shea sich bemühen zu dokumentieren: systematische Einschüchterung."

Magazinrundschau vom 21.02.2012 - New Republic

Die Redakteure des New Republic sind verstört über den immer heftiger geführten Krieg gegen Frauenrechte. Längst geht es nicht mehr nur um Abtreibung. Auch Krebsvorsorgeuntersuchungen und Verhütungsmittel sollen nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt werden: "Die Rhetorik von Rick Santorum - den in Umfragen stärksten Republikaner - ist schon fast salopp fies. Nicht zufrieden mit der Forderung, alle Abtreibungen zu kriminalisieren, selbst in Fällen von Vergewaltigung und Inzest, hüllt er seine Verbotsideologie in blasierte Herablassung. Eine Frau, die durch eine Vergewaltigung schwanger wird, soll nach Santorum 'das beste aus einer schlimmen Situation machen'. Einzeln genommen, scheinen diese Ereignisse Ausnahmen zu sei sein. Zusammengenommen zeigt sich jedoch ein beunruhigender Trend. Wenn es um Frauenrechte geht, sehen wir bei der Rechten einen immer stärkeren nicht Konservatismus, sondern Radikalismus: ein Gebot, die erreichten Ziele und Freiheiten abzuschaffen, die der Feminismus für Frauen erkämpft hat."

Außerdem: Die vielgerühmte Durchlässigkeit der amerikanischen Gesellschaft ist inzwischen nur noch ein Mythos, stellt Timothy Noah fest, nachdem er sich durch einige Studien gearbeitet hat.

Magazinrundschau vom 31.01.2012 - New Republic

Paul Berman erinnert sich, wie er Vaclav Havel 1996 im Schloss interviewte. Vor allem wollte er wissen, was Havel meinte, wenn er Heideggers 'Sein' und einen neuen Multikulti-Gott beschwor. Berman knabbert heute noch daran: "Havel hatte Angst vor dem Atheismus. In seinen Augen war der Kommunismus die Apotheose des Atheismus. Der Kommunismus verführte jeden dazu, sich auf die materiellen Umstände zu konzentrieren und davon zu träumen, diese Umstände zu verbessern, und von nichts anderem zu träumen. Denn warum sollte irgendjemand von etwas anderem als materiellen Verbesserungen träumen? Mehr gab es nicht. ... Die Wahrheit sagen dagegen erforderte einen Glauben an etwas, das materiellen Dingen überlegen zu sein schien. Ein mehr, das besser war als ein Auto und darum etwas, für das man seine Chance auf ein Auto freiwillig aufgab. Aber man musste erklären können, wenigstens vor sich selbst, was so großartig an der eigenen Würde war. Havels 'Sein', wo auch immer seine Herkunft bei Heidegger liegt, war im Grunde eine scharfe Erwiderung auf Marx' berühmte Behauptung, 'Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.'"

Magazinrundschau vom 02.01.2013 - New Republic

Anne Applebaum empfiehlt allen, die nicht ganz verstehen, warum Polen über den Zweiten Weltkrieg oft so anders zu denken scheint als Westeuropäer und Amerikaner, zwei gerade neu auf Englisch erschienene Bücher: Witold Pileckis "The Auschwitz Volunteer", ein Bericht aus Auschwitz, den Pilecki schrieb, nachdem er sich 1940 in das Lager hatte schmuggeln lassen, um Augenzeuge zu sein (nach dem Krieg wurde er von den polnischen Kommunisten hingerichtet), und ein Band der britischen Historikerin Halik Kochanski: "The Eagle Unbowed: Poland and the Poles in the Second World War". Letzteres ist für Applebaum "schon der Natur seines Gegenstandes nach ein außerordentlich ehrgeiziges Buch. Kochanski versucht, erstmals auf Englisch die verschiedenen Stränge der polnischen Kriegserfahrung zusammenzuführen. Diese schließen unter anderem ein: die Geschichten der deutschen Besetzung Westpolens, die sowjetische Besetzung Ostpolens, der Holocaust, die polnischen Piloten, die in der Luftschlacht um England kämpften, die polnische Infanterie, die mit den Alliierten bei Monte Cassino kämpften, die polnischen Soldaten, die mit der Roten Armee kämpften und die Polnische Heimatarmee - der militärische Arm der Widerstandsbewegung - die im Warschauer Aufstand 1944 entsetzliche Verluste erlitt." Allein wie Kochanski das erzählt, die Struktur des Buchs, ringt Applebaum gehörigen Respekt ab. (Richard J. Evans, der das Buch im Guardian besprochen hat, und der Economist (hier) bemängelten allerdings beide, dass Kochanski keine deutschen und russischen Quellen benutzt hat und kaum polnische.)

In der Titelgeschichte erzählt Ada Calhoun, wie schwierig es heute in den USA ist, eine ärztlich überwachte Abtreibung vorzunehmen, weshalb immer mehr Frauen es allein tun. Immer weniger Krankenhäuser führen Abtreibungen durch - in manchen Bundesstaaten gibt es grad noch eins. In den ersten neun Wochen könnten schwangere Frauen zwar Abtreibungspillen nehmen, aber auch deren Gebrauch wird immer stärker eingeschränkt. "Mehrere Bundesstaaten wollen den Zugang zu Abtreibungspillen im Netz und anderswo immer erschweren. 2011 verabschiedete Wisconsin eine Maßnahme, wonach Ärzte potenziell strafrechtlich belangt werden können, wenn sie bestimmte Vorschriften nicht einhalten, etwa den Patienten drei mal vorher sehen zu müssen. Die Kliniken von Planned Parenthood haben in diesem Staat im April alle Abtreibungen mit Medikamenten eingestellt und gegen das Gesetz geklagt. Unterdessen nehmen Frauen Abtreibungspillen ohne medizinische Betreuung, was gefährlich und voller Risiken ist."

Außerdem: Pankaj Mishra fürchtet, dass Indien sich immer mehr dem autoritären Staatswesen Chinas annähert. Paul Starr liest mit einigem Gewinn Nate Silvers Buch über Methoden für das Vorhersagen: "The Signal and the Noise" (Leseprobe)

Magazinrundschau vom 13.12.2011 - New Republic

Der Historiker Pertti Ahonen stellt Edith Sheffers Buch "Burned Bridge: How the East and West Germans Made the Iron Curtain" vor. Schaffer beschreibt die innerdeutsche Grenze zwischen den Zwillingsstädten Sonneberg und Neustadt an der Grenze zwischen Bayern und Thüringen. "Scheffer macht sich daran, 'Aufstieg und Fall des Eisernen Vorhangs' am Beispiel dieser Gegend zu beschreiben und verfolgt dabei gleichzeitig eine ehrgeizige, umfassendere Agenda. Ihrer Ansicht nach verändert das Buch 'die konventionelle Vorstellung vom Eisernen Vorhang in Deutschland. Die physische Grenze zwischen Ost und West wurde nicht einfach von den Supermächten des Kalten Krieges auferlegt, sondern war auch ein ungeplanter Auswuchs der ängstlichen Nachkriegsgesellschaft.'" Dieser Nachweis gelingt ihr nach Ansicht des Rezensenten nicht so ganz, aber dennoch findet Ahonen das Buch sehr interessant und vor allem "klar und robust geschrieben".
Stichwörter: Eiserner Vorhang, Thüringen

Magazinrundschau vom 15.11.2011 - New Republic

John Gray ist wohl der trübste Pessimist unter allen Denkern der modernen Linken, und da fällt ihm mit Francis Fukyamas neuem Buch "The Origins of Political Order - From Prehuman Times to the French Revolution" (Auszug) ein optimistisches Gegenstück in die Hände, das er genüsslich zerfleischt. Denn Fukuyama hält an der Idee des Fortschritts fest und behauptet frech, dass die Geschichte nur in Demokratie enden kann: "Was Fukuyama gar nicht in Erwägung zieht, ist, dass das von ihm als alternativlos betrachtete System der Modernisierung sich im Niedergang befinden könnte. Niedergang ist ein Begriff, der bei Fukuyama immer nur auf andere zutrifft. Andere Regimes steigen auf und sinken herab, der demokratische Kapitalismus hingegen stellt sich Herausforderungen, die er stets bewältigt. Wir müssen Fukuyamas Blick auf die Finanzkrise im annoncierten zweiten Band abwarten, die das politische System der USA in den Infarkt und das der EU in die Lähmung führt - beides angeblich universale Modell, die im Moment eher aussehen wie Sackgassen."
Stichwörter: Gray, John, Abwärts

Magazinrundschau vom 27.09.2011 - New Republic

Seit es E-Books gibt, ist es leichter als je zuvor, eine aktualisierte Version eines Textes zu veröffentlichen. Das gab es natürlich auch schon bei gedruckten Büchern, aber Laura Bennett erkennt einen großen Unterschied: Beim E-Book "ersetzt die revidierte Version buchstäblich den ursprünglichen Text. Einmal heruntergeladen, verdrängt in den meisten Fällen das neue E-Book den originalen Text, als hätte dieser nie existiert. Bei gedruckten Büchern kann eine zweite Fassung neben der ersten existieren, ein E-Book dagegen löscht die Aufzeichnung dessen, was davor war."
Stichwörter: Ebooks