Magazinrundschau

Zu viel Reverenz

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
16.10.2012. Der Verleger Colin Robinson schlägt 9,5 Thesen gegen Amazon an die Guardian-Wand. Gawker und Reddit streiten über das Recht auf Anonymität im Internet. In Outlook India erzählt Regisseur Karan Johar, welcher Schauspieler ihn ohnmächtig werden ließ. Der New Yorker rät ab vom Zugfahren in China. Armut gab's in Indien auch unter einer sozialistischen Regierung, erinnert sich Martha Nussbaum im TLS. Eurozine stellt die zwei armenischen Minderheiten in Ungarn vor. Elet es Irodalom feiert Peter Nadas. Rue 89 widmet sich dem Urheberschafts-Betrug.

Guardian (UK), 13.10.2012

Der Weg ins Himmelreich führt nicht über die Ablasszahlung an die Kirchenfürsten, das wusste schon Luther, meint der New Yorker Verleger Colin Robinson und schlägt seine eigenen Thesen gegen Amazon an die Wand: "Amazon hat den Verlagen eine Garrotte angelegt, es nutzt seine Marktmacht, um immer größere Rabatte von Verlagen zu verlangen, die im Gegenzug Preisnachlässe gewähren, um sich mehr Kunden zu sichern. Das ist nur möglich, weil der Behemoth ein direktes Verhältnis zu den Lesern hat. Um diesen Würgegriff aufzubrechen, müssen Verlage anfangen, direkt zu verkaufen. Die langfristigen Vorteile eines eigenen Kundenstamms, um zum vollen Preis zu verkaufen und die zusätzlichen Einnahmen ins Marketing zu leiten, werden die anfänglichen Unannehmlichkeiten wettmachen, die beim Umgehen des weltgrößten Buchhändlers auftreten können."

Jarvis Cocker ist ein so großer Beatles-Fan wie jeder, aber nachdem er ein Buch mit John Lennons gesammelten Einkaufslisten und Post-it-Zetteln gelesen hat, reicht es ihm. Diese ewige Rückschau noch auf die letzten Fitzel einer glorreichen Vergangenheit ist nicht hilfreich, meint er. "Warum war br**pop zum Scheitern verdammt? Viele Faktoren spielten eine Rolle, aber eine war sicherlich: zu viel Information. Zu viel Reverenz. Dieselben Klamotten tragen und dieselben Drogen nehmen, macht aus uns keine Beatles. Es macht uns fett und krank."

Außerdem huldigt Anne Enright der irischen Autorin Edna O'Brien, deren freizügigen Romane in den sechziger Jahren in Irland verboten wurden. Vorgestellt wird die Shortlist des Man-Booker-Preises.
Archiv: Guardian

Elet es Irodalom (Ungarn), 12.10.2012

Der ungarische Schriftsteller (und Fotograf) Péter Nádas ist am letzten Sonntag 70 Jahre alt geworden. Élet és irodalom hat (entsprechend der Zahl der von Nádas veröffentlichten Bücher) 27 Weggefährten gebeten, Texte in einer Länge von 70 Wörtern an und über den Autor zu schreiben. Der Essayist László F. Földényi würdigt Nádas mit den Worten: "Auf wen er seinen Blick richtet, der gerät unter eine Art Glasglocke. Aber auch das Chaos entfesselt er in ihm. So geht es zumindest mir mit ihm, bereits seit drei Jahrzehnten. Als würde sich das Leben um ihn herum kontinuierlich zu einem Roman formieren, zu dessen Figur auch ich geworden bin. Auch deshalb habe ich die 'Parallelgeschichten' regelrecht verschlungen; ich konnte nicht feststellen, wo die Grenze zwischen dem Leben und der Literatur verlief. Er vermint die Grundfesten der Existenz. Gleichzeitig wünscht er eine Ordnung um sich herum. Doch diese Ordnung vertieft sich, wenn man ihn liest, zu einem Abgrund."

Und der Dichter Gábor Schein schreibt: "'Die Abstufungen von Schwarz und Weiß enthüllen die aufgrund der Farben abhanden kommenden Verbindungen. Die Gegenstände harren, von ihren Farben losgelöst, auf eine Ausbreitung, eine Form', notierte ich einst bei der Betrachtung von Péter Nádas' Bildern. Wenn von ihnen die Rede ist, muss man über das Licht sprechen. Über das unerreichbare, von peripheren Punkten einbrechende Licht. Über die schauderhafte Grausamkeit, mit der er die Körper durchleuchtet, und über die Sätze, die das Licht absorbieren. Darüber, was Nádas anders kann als alle anderen, die bislang über den Menschen sprachen."

Gawker (USA), 12.10.2012

In einer ausführlichen Reportage schildert Adrian Chen, wie es ihm gelungen ist, mit dem Reddit-User Violentacrez einen der umtriebigsten Trolle zu demaskieren, der für seine schäbigen und abstoßenden, aber nicht illegalen Aktionen berüchtigt ist. So hat er beispielsweise heimlich Frauen in der Öffentlichkeit fotografiert und Nahaufnahmen ihrer Brüste oder Hintern ins Netz gestellt. Bereits im Vorfeld hatte das communitybasierte Portal Reddit mit einer Gawker-Sperre auf den sich abzeichnenden Coup reagiert (mehr dazu hier), um damit seinen unbedingten "Free Speech"-Codex zu bekräftigen, den auch Violentacrez für sich beansprucht. Chen schreibt: "Ein Troll nutzt soziale Dynamiken ähnlich aus wie ein Computerhacker Sicherheitslöcher - und Violentacrez nutzte zur selben Zeit gleichermaßen die mächtige Empörungsmaschinerie und die Werte der freien Meinungsäußerung von Reddits Schwarmintelligenz aus. Es war dieses bis zum gewissen Grad mehrfach wiederholte Muster, das Violentacrez zu einem unwahrscheinlichen Helden von vielen der weißen, männlichen Geeks machte, die Reddit im Kern ausmachen. Violentacrez war für sie ein Verteidiger im Kampf gegen bevormundende Schullehrerinnen".

Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang im übrigen auch die Kommentare unter dem Artikel, in denen unter anderem die Frage verhandelt wird, ob die Entanonymisierung einer Person, die Spannerfotos (creepshots) veröffentlicht, im Sinne dieser Kampagne eine legitime Form der Gegenwehr oder eine Grenzüberschreitung mit weitreichenden existenziellen Konsequenzen darstellt (so hat Violentacrez unter seinem Klarnamen bereits verlauten lassen, dass er mittlerweile seinen Job verloren hat. Das hat auch bei Gawker zu einer neuen Debatte geführt).
Archiv: Gawker
Stichwörter: Gawker, Schwarmintelligenz, Trolle

Buzzfeed (USA), 13.10.2012

Reddit-Mitbegründer Alexis Ohanian, der maßgeblich am Fehlschlag von SOPA (Stop Online Piracy Act) und PIPA (PROTECT IP Act) beteiligt war, engagiert sich weiter politisch für ein freies Internet. Die Seite ist mit ihren 42 Millionen unique visitors im Monat so groß, dass kürzlich sogar Barack Obama eine Stunde lang Fragen von Reddit-Usern beanwortete. Andererseits ist auf Reddit auch das bösartige Verhalten eines Violentacrez erlaubt, solange es nicht gegen das Gesetz verstößt. "Diese Philosophie wird allerdings immer schwieriger aufrecht zu erhalten sein, je prominenter die Seite bei einem breiten Pulikum wird", schreibt John Herrman in einem Porträt Ohanians. "Die Behauptung, dass /r/spacedicks, ein Forum voller unverschämter, beleidigender Kommentare und beschrifteter Fotos von Pornografie und Tiersex auf einer neutralen Plattform koexistieren könne mit einer nur wenige Klicks entfernten Frage-und-Antwort-Sitzung mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, ist logisch - aber nur in der strikt philosophischen Bedeutung des Wortes. Für jemanden, der noch nie von Reddit gehört hat, klingt das völlig unglaubhaft. Man kann sich leicht vorstellen, wie politische Gegner daraus ihre Vorteile ziehen."
Archiv: Buzzfeed

Rue89 (Frankreich), 14.10.2012

Alle schreiben über die Piraterie von Daten und Produkten, aber sein Gegenstück, der Urheberschafts-Betrug, wird fast nie thematisiert, wundert sich Pierre-Carl Langlais. Bei dieser Form des Betrugs behauptet man ein Urheberrecht an einem eigentlich frei zugänglichen Inhalt. Selbst angesehene Instititionen wie die französische Nationalbibliothek bedienten sich dieser fragwürdigen Praxis, was jedoch meist folgenlos bleibe. Besonders arg treibt es die Vereinigung der französischen Nationalmuseen: "Diese Institution versucht nicht nur, die Verbreitung zu beschränken, sondern tatsächlich das Urheberrecht zu privatisieren. So trägt eine Reproduktion der 'Mona Lisa' [auf der Website des Louvre] den Hinweis '© RMN-Grand Palais (Musee du Louvre) Michel Urtado', womit auf das Urheberrecht des Fotografen verwiesen wird. Sofern es sich jedoch um eine simple Wiedergabe ohne jegliches ästhetisches Zutun handelt, hat dieser Anspruch keinerlei Bedeutung - und wurde übrigens von der französischen Rechtssprechung auch immer bestritten."
Archiv: Rue89
Stichwörter: Louvre, Mona Lisa, Rue89, Urheberrecht

New Yorker (USA), 22.10.2012

Evan Osnos sieht in seinem Brief aus China das schwere Zugunglück, bei dem im Juli 2011 vierzig Menschen starben, als Symbol für die Schattenseite des chinesischen Booms, der sich in sagenhaftem Tempo vollzieht - und, weil politisch gewollt, vollziehen muss. "Skandale, welcher Art auch immer, sind zum Backbeat von Chinas Aufschwung geworden." Beim Bau von Bahnstrecken, fand Osnos heraus, sei nicht nur Bestechung, sondern auch kriminelle Energie am Werk: "Im November 2011 fand man einen ehemaligen Koch ohne jegliche Ingenieurserfahrung, der eine Hochgeschwindigkeitseisenbahnbrücke bauen sollte. Er setzte ungelernte Arbeiter ein, die Kies statt Zement ins Fundament kippten. In Bahnkreisen war diese Praxis immerhin verbreitet genug, um einen eigenen Begriff zu verdienen: touliang huanzhu - Träger klauen, um Pfeiler einzusetzen."

Weitere Artikel: David Sedaris denkt darüber nach, was ein Geschenk über den Schenkenden aussagt. James Wood widmet sich dem englischen Messbuch Book of Common Prayer von 1556, dessen Sprachkraft sich seinem Autor, dem Erzbischof von Canterbury Thomas Cranmer, verdankt, und in der englischen Literatur und Alltagskultur ihren Widerhall findet. Emily Nussbaum stellt die Sitcom "Parks and Recreation" vor.
Archiv: New Yorker

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 12.10.2012

Die argentinische Autorin María Sonia Cristoff erzählt in einem Brief aus Buenos Aires, wie sich ein Abendessen mit Freunden in einen Runden Tisch verwandelte über die Kasserolle als lexikalischen Begriff und die Cacerolazos als Protestwerkzeug in der jüngeren argentinischen Geschichte: "Heute muss ich wieder an dieses Essen und diese Diskussion vor ein paar Wochen denken, denn Mitte September hat es tatsächlich zum ersten Mal seit Jahren wieder einen richtig großen Cacerolazo in Argentinien gegeben; für den 8. November ist schon der nächste geplant. Die Diskussion am Esstisch ist offensichtlich in den öffentlichen Raum zurückgekehrt."

Kathrin Röggla denkt über die Vielflieger nach, die links und rechts von ihr im Flugzeug sitzen: "Einer ist unterwegs, um kleinen NGOs in Kirgisien die Welt zu erklären, die Schulbuchwelten zum Beispiel, die Grundschulwelten, die sie organisieren wollen top down und die sich doch kaum von den afghanischen Grundschulwelten unterscheiden werden, strukturell, oder? 'Parachuting for two days' - mit dem Fallschirm in die Stadt und wieder aus ihr raus, und schon steht die Schulbuchwelt. Oder, auf dem Platz daneben, die Tante mit ihren Grenzkontrollchips für Kambodscha. Damit die Locals einfacher zu ihren vietnamesischen Märkten können, oder war es umgekehrt? Die Locals, die uns begegnen und merkwürdig langsam geworden sind, während wir immer schneller werden."

Times Literary Supplement (UK), 12.10.2012

Anlässlich zweier Mumbai-Reportagen denkt die Philosophin Martha Nussbaum darüber nach, wie sich sinnvoll über Armut schreiben lässt. Katherine Boos "Behind the Beautiful Forevers" ("Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben") und Siddhartha Debbs "The Beautiful and the Damned" findet Nussbaum ausgesprochen kraftvoll erzählt. Sie vermisst jedoch bei beiden eine historische und ökonomische Analyse, um die entfachten Emotionen in "konstruktives politisches Handeln" zu kanalisieren: "Vielleicht ist am fatalsten, dass Boos Erzählung keinen Sinn für Geschichte hat und uns daher nicht einmal zu fragen erlaubt, was von diesem Elend Folge eines liberalisierten Marktes ist und was schon seit langer Zeit da ist. Man muss nur Rohinton Mistrys Roman 'Das Gleichgewicht der Welt' lesen, der in der Hochphase sozialistischer Planwirtschaft spielt, um herauszufinden, dass die meisten der von Boo ausgemachten Nöte - allgegenwärtige Korruption, die Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber den Slumbewohnern, das regelmäßige Niederreißen der Slum, das enorme Scheitern der Bildungspolitik - schon vor fünfunddreißig Jahren unter dem Sozialismus in Mumbais Slums vorherrschten, wobei unter Indira Gandhis diktatorischer Herrschaft noch einige Schrecken dazu kamen, wie etwa die Zwangssterilisation der Armen."

Magyar Narancs (Ungarn), 20.09.2012

Nachdem die ungarische Regierung von Viktor Orbán zuerst die Wahlkreise umgekrempelt und dann das Wahlsystem geändert hat, um ihre Chancen zu einer Wiederwahl zu verbessern, wurde kürzlich auch ein neues Wahldurchführungsgesetz auf den Weg gebracht, das die Wahlberechtigung an eine vorherige Registrierung knüpft. Damit wird jedem, der sich nicht registriert, sein demokratisches Grundrecht auf eine Partizipation für vier Jahre entzogen. Die Registrierung selbst wird außerdem durch allerlei bürokratische Hindernisse erschwert. Die liberale Wochenzeitung Magyar Narancs hofft, dass diese bodenlose Unverschämtheit auch bisher Gleichgültige im In- und Ausland wachrütteln wird: "Dass eine Partei bzw. deren Führer mitten in der Legislaturperiode die Spielregeln der Wahlen eigenmächtig, entscheidend und ausschließlich gemäß den Interessen seiner Partei ändert, müsste allein schon Grund genug dafür sein, dass ein sich als Demokrat bezeichnender Bürger seine Stimme nie wieder für diese abgibt. Für eine vorherige Registration gibt es keinen, aber wirklich keinen Grund - außer, die ungarischen Wähler nach gesellschaftlichem Status und politischer Einstellung auszusortieren."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Grundrechte, Orban, Viktor

Outlook India (Indien), 22.10.2012

Zum 70., beziehungsweise 80. Geburtstag würdigt Bollywood-Regisseur Karan Johar die beiden zentralen Größen Amitabh Bachchan und Yash Chopra, die Johar seit seinen eigenen Kindheitstagen kennt, mit einem sehr persönlichen Text, in dem man viel über den fast gottgleichen Status erfahren kann, den große Bollywood-Stars in Indien genießen: "Ich war ein Nervenbündel, als ich Onkel Amit für meinen zweiten Film, 'Sometimes Happy, Sometimes Sad', vor der Kamera hatte. Ich wurde ohnmächtig am Set, ich musste mich ganz auf meine Choreografin Farah Khan verlassen. Es war schwierig, mich mit der Tatsache zu arrangieren, dass ich Herrn Bachchan Anweisungen gab. Die Leute denken, dass man sich an die Stars gewöhnt, wenn man in der Industrie tätig ist. Dass es keine große Sache ist, wenn man erstmal drin ist. Jedoch, das Gegenteil ist der Fall: die Sache ist eine umso größere. Da man die Mechanismen kennt, ist man sich der Position des Stars und dessen, was ihn zum Phänomen macht, noch um einiges deutlicher bewusst. Für mich war es eine außerkörperliche Erfahrung, zu Onkel Amit 'Action' und 'Cut' zu rufen." Kein Wunder, Bachchan war und ist schließlich der "Don":


Archiv: Outlook India
Stichwörter: Bollywood, Johar, Karan

Telerama (Frankreich), 13.10.2012

Valerie Lehoux berichtet über die nicht immer redlichen Praktiken, mit denen Radiomacher, die nicht nur durch Videokanäle wie YouTube unter Druck geraten sind, ihre Playlists zusammenstellen. Demnach muss man sich vom Mythos, dieser Berufszweig entscheide nach Hören und Qualität, endgültig verabschieden. So gibt es neben den diversen Druckmitteln, mit denen die Plattenindustrie darüber mitentscheidet, was gespielt wird oder nicht, "noch eine weitere Form, die einen mit den Zähnen knirschen lässt: die Co-Ausnutzung. Das Prinzip ist überall das gleiche: Ein Radiosender beschließt, über seine Playlist und rabattierte Werbung einen Sänger zu unterstützen; im Gegenzug erhält er dafür Prozente am Plattenverkauf, häufig mit einem garantierten Minimum. Das heißt: Je öfter ein Sender einen Titel spielt, desto mehr verhilft er ihm zum Verkauf und desto größer sind seine Chancen, Geld zu machen."
Archiv: Telerama
Stichwörter: Geld

Economist (UK), 13.10.2012

Weder die Indifferenz der Romney-Rechten gegenüber sozialen Missständen, noch die Steuererhöhungen der Obama-Linken für Wohlhabende und Reiche sind dafür geeignet, in Krisenzeiten auf globaler Ebene ökonomisches Wachstum bei gleichzeitiger Eindämmung von Wohlstandsscheren zu erzielen, stellt der Economist fest. Sein Lösungsvorschlag als Synthese beider politischen Lager: "True Progressivism" nach dem Vorbild der wirtschaftlichen Blütezeit der USA kurz vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: "Die Priorität sollte in einem Roosevelt'schen Angriff auf Monopole und Kapitalinteressen liegen, ob es sich dabei nun um staatseigene Unternehmen in China oder um große Banken an der Wall Street handelt. ... Dann sollten die öffentlichen Mittel gezielt für die Armen und Jungen aufgebracht werden. ... Größter Reformbedarf herrscht dabei in den Wohlfahrtsstaaten der reichen Welt. Angesichts deren alternden Gesellschaften können die Regierungen nicht darauf hoffen, für die Alten weniger ausgeben zu müssen, doch sie können die Geschwindigkeit dieser Kostensteigerung drücken - etwa, indem sie das Renteneintrittsalter dramatisch höher ansetzen oder indem sie die Absicherung bedürfnisorientierter gestalten. ... Und zuletzt: Steuerreformen, die nicht die Reichen bestrafen, sondern Geld effizienter und fortschrittlicher einholen."

Unterfüttert wird das Plädoyer durch diesen ausführlichen Hintergrundartikel. Hier erfährt man, dass der "True Progressivism" derzeit am ehesten in den Ökonomien der Schwellenländer reift, wohingegen in den USA noch viel Arbeit zu leisten ist (wobei Obama hier nur minimal besser dasteht als Romney). Ein weiterer Artikel blickt unterdessen in die Geschichte der politischen Manöver zur Moderation gesellschaftlicher Missstände.
Archiv: Economist

New Statesman (UK), 15.10.2012

Auch Experimente haben ihre Grenzen, konstatiert Comic-Ikone Chris Ware, der im Interview mit Alex Hern über seine "Building Stories" spricht. Ein Teil von ihnen erschien zuerst als Tablet-App (mehr hier) für Dave Eggers Magazin McSweeney's: "Ich fand die Vorstellung richtig aufregend, Zeichnungen in etwas Tastbares zu verwandeln und die Vorteile dieser neuen technischen Möglichkeiten zu nutzen. Ich schrieb darüber, wie physische Berührung in einer Beziehung von Zuneigung in Aggression übergehen kann. Zugleich hatte (und habe) ich große Bedenken gegenüber der Idee, den Comic in ein Medium zu übertragen, das ganze Filme genauso leicht abspielt wie einzelne Bilder... Ich fühle mich nicht wohl dabei, Geld für etwas Immaterielles zu verlangen, und auch wenn ich den Strip extra so entwarf, dass man ihn berühren und manipulieren konnte wie die Figuren, von denen er erzählt, ziehe ich grundsätzlich das Solide vor, Papier, die unplugged Version, die man auch noch in fünf Jahren lesen kann, was ich bei der E-Pub-Version bezweifeln würde."
Archiv: New Statesman

Eurozine (Österreich), 10.10.2012

Es gibt zwei verschiedene armenische Minderheiten in Ungarn, lernen wir aus einem Artikel von Kinga Kali in den Acta Ethnographica Hungarica (auf Englisch in Eurozine), die sogenannten Ungarn-Armenier und die sogenannten Ostarmenier. Erstere kamen schon um 1700 nach Ungarn und Transsylvanien (heute Rumänien). Sie assimilierten sich und sprechen heute Ungarisch. Die anderen kamen erst nach dem türkischen Genozid um 1915. Administrativ sind beide Minderheiten zu einer Gruppe zusammengefasst, sie können sich allerdings gegenseitig nicht riechen: "Die Ungarn-Armenier unterhalten engere Beziehungen zu den Ungarn-Armeniern aus Transsylvanien als mit Armeniern aus der Türkei, Armenien oder gar Berg-Karabach, Syrien oder Libanon, die in der selben Stadt leben mögen aber erst nach dem Genozid ankamen und noch Armenisch sprechen."
Archiv: Eurozine

Vanity Fair (USA), 01.11.2012

Bei einem Ausflug mit seinem älteren Bruder geht der zehnjährige Saroo Munshi Khan in einem indischen Zug verloren. Saroo, der weder den Namen seines Heimatdorfes noch seinen eigenen Nachnamen weiß, landet in einem Kinderheim in Kalkutta und wird schließlich von einem Ehepaar aus Tasmanien adoptiert. David Kushner erzählt die bewegende Geschichte, wie sich Saroo zwanzig Jahre später mit Hilfe von Google Earth daran macht, seine Familie wiederzufinden: "Ihm wurde klar, dass er seine Suche systematisieren musste. Wenn er am frühen Abend im Zug eingeschlafen und am nächsten Morgen in Kalkutta angekommen war, müssen wohl etwa 12 Stunden vergangen sein. Wenn er wüsste, wie schnell der Zug gefahren ist, könnte er die ungefähre Strecke ausrechnen. Aus dem auf diese Weise entstandenen Ring ließen sich wiederum Gegenden ausschließen, in denen nicht Hindi gesprochen wurde, oder in denen kaltes Klima herrschte."

Außerdem: Joshua Hammer berichtet ausführlich über die Kunstfälscher Wolfgang und Helene Beltracchi. Ebenfalls online ist ein Auszug aus Mark Bowdens Buch über das Attentat auf Osama bin Laden.
Archiv: Vanity Fair