Heute in den Feuilletons

Der Raum in seiner ganzen Kontinuität

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.01.2012. Die NZZ hat in Detroit eine Entdeckung gemacht: auf den Brachen der Stadt wächst jetzt Spargel, und die Armen müssen ihn essen. In der taz erklärt die verabschiedete Freitag-Herausgeberin Daniela Dahn, was sie mit dem Freitag gemacht hätte, wenn sie tatsächlich Herausgeberin gewesen wäre: mehr über die produzierende Arbeitswelt. Viele Journalisten ärgern sich nach wie vor über den nicht zurücktretenden Christian Wulff.

TAZ, 06.01.2012

Stefan Reinecke unterhält sich mit Daniela Dahn, neben Friedrich Schorlemmer, György Dalos und Frithjof Schmidt eine der vier Herausgeberinnen des Freitag, die dessen Verleger Jakob Augstein vor die Tür gesetzt hat, über die Hintergründe des Vorgangs. "Ich wollte den Anspruch, Gegeninformationen zu liefern, nicht aufgeben und die analytische und intellektuelle Substanz bewahren. Auch wollte ich den neuen Alltagsteil nicht auf Zerstreuung, Lifestyle, Prominente der Kulturindustrie oder gar Boulevard-Stories beschränkt sehen. Die sollten zum Beispiel durch mehr Geschichten aus der akademischen und produzierenden Arbeitswelt ergänzt werden, Geschichten vom Überleben, die erzählen, wie die Wirtschaft in den Alltag ganz normaler Leute funkt."

Weiteres: Matthias Dell kommentiert das Fernsehinterview mit Christian Wulff und seine Ungleichzeitigkeiten: "Ob Christian Wulff als Bundespräsident noch eine Zukunft hat, ist eine Frage, die sich schon deshalb nicht stellt, weil Christian Wulff genug damit zu tun hat, seine Gegenwart zu behaupten." Christiane Müller wirft einen Blick in die aktuellen Ausgaben der Zeitschriften Lettre International und Sozial.Geschichte Online, die sich beide mit der griechischen Krise befassen.

Besprochen werden ein Album der britischen Postpunk-Band We Were Promised Jetpacks und das Buch "Das Ende des freien Marktes" des amerikanischen Politologen Ian Bremmer, der als Shooting-Star gehandelt wird (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 06.01.2012

Rudolf Stumberger berichtet aus dem Rust Belt, dass in den Industriebrachen von Detroit und Milwaukee die Hoffnung wieder keimt, denn es sprießt das Gemüse: "Zum Beispiel an der Mt. Elliott Street. Dort steht Shane Bernando im Spargelfeld und zupft an einer der feinblättrigen Pflanzen. Der 38-Jährige arbeitet für Earthworks, ein 'Urban Gardening'-Projekt des nahen Kapuzinerklosters. Urban Gardening meint hier ein vielseitiges soziales Programm. 'Wir beliefern mit den Produkten aus unseren sieben Gärten die Suppenküche für Arme', erklärt Bernando."

Paul Andreas besichtigt die Werkretrospektive des österreichischen Architekten Hans Hollein im Grazer Joanneum, dessen Vision er so umreißt: "Wider den Funktionalismus der Nachkriegszeit postuliert er Architektur als eine von Funktion und Struktur losgelöste autonome Kunst, die sich wie eine Supertechnologie den Raum in seiner ganzen Kontinuität bis hin zum Universum aneignet, um ihn komplett zu kontrollieren und zu beherrschen."

Außerdem besprochen werden eine Ausstellung zur Kultur der "Kykladen" im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe, Aufnahmen mit Opern von Händel und Bach-Kantaten der St. Galler Bach-Stiftung.

Welt, 06.01.2012

Hellmuth Karasek findet in einem Kommentar zum Fernseh-Interview Christian Wulffs, das ihm wie eine Parodie vorkam, dass Wulffs Anruf beim Chefredakteur der Bild einer Bedrohung der Pressefreiheit gleichkam. Kolja Reichert porträtiert die israelische Künstlerin Yael Bartana, die sich mit dem polnisch-jüdischen Verhältnis auseinandersetzt und zur Zeit im Gropius-Bau ein Video zeigt (zu sehen in der Ausstellung "Tür an Tür"). Peter Dittmar fragt in der Leitglosse, ob Kunst sei, wenn man's selber macht, wie es der demnächst in London ausstellende David Hockney für sich reklamiert, oder ob die Arbeiten auch von Assistenten ausgeführt werden können wie bei Damien Hirst. Im Interview zum Siebzigsten versteht sich Eckhard Fuhr prächtig mit Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Besprochen wird ein Shakespeare-Medley an der Met.

Auf Seite 1 kommentiert Henryk Broder den Casus Wulff: "Was wir derzeit in der Bundesrepublik erleben, das ist Boulevard im Staatstheater. Für ein öffentliches Amt bedarf es keiner Qualifikation mehr, nur eines Netzwerks, das die Inthronisierung besorgt und angesichts eines Totalversagens dem Protagonisten 'hervorragende Arbeit' bescheinigt."

FR/Berliner, 06.01.2012

Birgit Walter gratuliert dem "erfolgreichsten Kulturstaatsminister aller Zeiten", Bernd Neumann, zum Siebzisgten: "Ein schönes Beispiel dafür, wie sture Beharrlichkeit in der Arbeit letztlich Lebensträume erfüllen kann." Im Aufmacher verabschiedet Christian Schlüter den verstorbenen Donald-Duck-Zeichner Victor Jose Arriagada Rios alias Vicar. Auf der Medienseite berichtet Ulrike Simon, dass sich der Freitag von seinen Herausgebern verabschiedet. Marcia Pally analysiert die Vorwahlen im amerikanischen Iowa.

Besprochen werden Christian Thielemanns Beethoven-Aufnahmen, Sebastian Borenszteins argentinische Parabel über die Sinnlosigkeit "Chinese zum Mitnehmen", der semidokumentarische Schulalltagsfilm "Jonas" und Henry Hathaways Western auf DVD.

SZ, 06.01.2012

In Bayern ist heute Feiertag. Wir wünschen schönes verlängertes Wochenende.

FAZ, 06.01.2012

Im Leitartikel auf Seite 1 glaubt Frank Schirrmacher Christian Wulffs Beteuerungen kein Wort: "Den Rollentext dieses Staatsoberhaupts hat nicht das Grundgesetz geschrieben, sondern Franz Kafka. In Abwandlung eines seiner berühmtesten Sätze ließe sich sagen: Die Fiktion wird zur Weltordnung gemacht. "

Weitere Artikel: Michael Hanfeld zeiht die öffentlich-rechtlichen Sender nach dem Fernsehinterview mit Christian Wulff der Hasenfüßigkeit. Gina Thomas rollt nach der nun erfolgten Verurteilung der Täter Geschichte und Nachspiel des rassistischen Mordes an Stephen Lawrence 1993 in London auf. In der "Kunststücke"-Kolumne liest Eduard Beaucamp die kontrovers diskutierte Biografie des Kunsthändlers Heinz Berggruen von Vivien Stein und kommt zu dem Schluss: "Die Erwerbsumstände, die Manöver des Schöpfers sind bald vergessen: Die Sammlung bleibt. Zu bereuen gibt es nichts." Jo Lendle stellt Alfred Wegener vor, der mit seinem heute vor hundert Jahren gehaltenen Vortrag über sich im Laufe der Erdgeschichte verschiebende Landmassen die bis dato geltende Theorie des geologischen Fixismus verabschieden wollte, aber nicht ernst genommen wurde. Andreas Kilb gratuliert Bernd Neumann zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Bildern von Marcel van Eeden auf der Mathildenhöhe in Darmstadt und Bücher, darunter Uwe Wittstocks Essay über die juristischen Auseinandersetzungen um Maxim Billers Roman "Esra" (mehr in unserer Bücherschau ab 14).