Efeu - Die Kulturrundschau
Wenn man schick darüber grübeln kann
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Kunst
So lebensnah erscheinen Welt-Kritiker Boris Pofalla die Figuren von Frans Hals, dass er glaubt, ihr Lachen in den Sälen der National Gallery in London widerhallen zu hören. Spezifisch für das Werk des niederländischen Maler ist, weiß der Kritiker, dass er nicht nur angesehene Bürger malte, sondern sich auch in den schummrigeren Ecken der Gesellschaft umsah: "Recht bekannt ist sein Bild 'Malle Babbe'...Es zeigt aller Wahrscheinlichkeit nach eine geistig behinderte Frau, die in Haarlem stadtbekannt war. Wie malte nun Frans Hals diese Person, die am unteren Ende der sozialen Leiter stand? Mit genau derselben Individualität und Hingabe wie seine Auftragsporträts. Die Eule auf ihrer Schulter kann für das niederländische Sprichwort stehen, betrunken wie eine Eule zu sein, oder aber für Weisheit (eindeutig lesbare Symbole sind selten bei Hals). Das Lachen der 'verrückten Barbara' ist auf dem Bild direkt assoziiert mit dem geöffneten Zinnkrug, aus dem sie eben noch getrunken zu haben scheint."
Besprochen werden die Ausstellung Juergen Teller: "I need to live" im Grand Palais Éphémère Paris (FAS) und die Ausstellung "James Gillray: Charakters in Caricature" im Gainsborough's House in Sudbury (FR).
Literatur
Die Epaper-Beilage "Bilder und Zeiten" der FAZ läutet das Kafkajahr 2024 mit einem großen Dossier ein: Kafka war "jedwede Pathosformel fremd", schreibt Jürgen Kaube in seinem Editorial. "Er stellte sich 'eine Gesellschaft von lauter Niemand' vor und hätte sich vermutlich auch gegenüber den Steigerungen, ein nichtentfremdetes Leben sei wünsch- oder sogar greifbar, distanziert verhalten. ... Vielleicht ist es das, was ihn, hundert Jahre nach seinem Tod, mit uns verbindet. Wir sind der Sprüche leid, die uns unerreichbare Zukünfte in Aussicht stellen. Wir wissen längst, dass es keine paradoxiefreie Welt gibt. Wir glauben nicht, dass uns die Kunst, die Moral, die Politik oder die Liebe über all das Unglück hinwegtragen werden, das mit unserer Existenz einhergeht. Kafka, der Surrealist, war ein Realist."
Andreas Platthaus durchleuchtet die Literatur des 20. Jahrhunderts nach Kafkas Einfluss darauf und ist sich sicher: "Kafka wird auch der große klassische Schriftsteller für das aktuelle gequälte Jahrhundert sein." Friederike Wißmann erklärt, wie Kafka, selbst kein allzu großer Musikhörer, zu einem großen Einfluss für Komponisten des 20. Jahrhunderts wurde. Hubert Spiegel beleuchtet das Verhältnis zwischen Kafka und dem Theater. Jan Wiele widmet sich dem Einfluss Kafkas auf die Popmusik. Matthias Alexander beschäftigt sich mit der Darstellung von Architektur in Kafkas Werken. Tilman Spreckelsen überprüft, inwiefern Kafkas Texte ein junges Lesepublikum erreichen. Andreas Kilcher spricht über die von ihm herausgegebene Edition mit Kafkas Zeichnungen. Dass diese mehr sind als bloße Werksillustrationen, bekräftigt Stefan Trinks. Und Maria Wiesner holt die BluRay von Orson Welles' Kafka-Adaption "Der Prozess" aus dem Regal.
Außerdem: In der taz erzählt die Schriftstellerin Anne Rabe, deren Debütroman "Die Möglichkeit von Glück" 2023 Bestandteil der großen Debatte über das Verhältnis der Literatur zur DDR war, von ihren Eindrücken bei ihrer Lesereise, bei der sie oft auf Schweigen im Publikum stieß, wenn es um Gewalterfahrungen in der DDR ging. Leonie Gubela durchstreift für die taz die insbesondere in Booktok-Sphären gepushte Welt der boomenden "Romance", also Liebesromanen für "junge Erwachsene zwischen 18 und 30, die sich zwischen Selbstfindung und Einstiegsjobs das erste Mal so richtig prickelnd verlieben". In seiner Proust-Reihe für den Tagesspiegel wirft Gerrit Bartels einen Blick auf Marcels Liebe für Adeline in der "Recherche". Und das Team der FR empfiehlt Bücher aus dem Backkatalog, mit denen man sich für 2024 wappnen kann. Etwas Ähnliches versuchen auch wir mit unserem Büchertisch "24 Bücher um das Jahr 2024 zu verstehen".
Besprochen werden unter anderem Joy Williams' Erzählungsband "Stories" (Intellectures), Sofia Andruchowytschs "Die Geschichte von Uljana" (FR), Marlen Pelnys "Warum wir noch hier sind" (taz), Paul Lynchs "Prophet Song" (taz), Nathan Hills "Wellness" (Presse), Zadie Smiths "Der Betrug" (SZ) und Lutz Rathenows "Trotzig lächeln und das Weltall streicheln" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Architektur
Film
2023 war das Kinojahr von Greta Gerwig, die in den letzten rund 15 Jahren eine ziemlich beachtliche Karriere hingelegt hat, wie Julia Lorenz auf Zeit Online erzählt: Als Schauspielerin begann sie in Lowest-Budget-Indie-Filmen, deren Zusammenhang man rasch Mumblecore nannte, fand dann rasch in größeren Indie-Produktionen wie "Frances Ha" (unsere Kritik) ihren Platz, als Regisseurin wurde sie 2023 mit "Barbie" (unsere Kritik) die kommerziell erfolgreichste Filmemacherin Hollywoods - und prägte in dieser Zeit ganz nebenbei zahlreiche Millennials und gab der Gegenwartsgeschichte des Feminismus ein Gesicht: "Sehr vieles an 'Barbie' zeigt, wie sich die Bildsprache des Mainstreamfeminismus im Jahrzehnt seit 'Frances Ha' verändert hat, was schiefgelaufen ist und was beinahe richtig: Frauen dürfen nun auch in Hochglanzproduktionen am Leben im Patriarchat verzweifeln, nur sind solche Darstellungen heute eher Teil des Verkaufsspektakels als Rebellion. ... 'Barbie' steht nun da als Monolith in der Welt, das Film gewordene Dilemma des längst gut durchkritisierten Anything-goes-Feminismus der Zehnerjahre, der von der Frauensportgruppe bis zur Botoxbehandlung alles als feministisch begreift, was den weiblichen Leidensdruck auch nur für kurze Zeit lindert. Wer ein wenig politische Sozialisation durchlaufen hat und genau in sich hineinhört, dürfte hier und da schon noch auseinander bekommen, was wirklich lebenserhaltend ist und was eine legitime, aber bequeme Kapitulation vor dem berühmten male gaze. Doch wer will das schon, wenn man so schick darüber grübeln kann?"
Außerdem: Marc Hairapetian plaudert für die FR mit Sofia Coppola über deren "Priscilla"-Biopic. Für die FAS spricht Mariam Schaghaghi mit Willem Dafoe über dessen Rolle in Yorgos Lanthimos' neuem Film "Poor Things". Patrick Holzapfel schreibt im Filmdienst einen Nachruf auf den georgischen Autorenfilmer Otar Iosseliani. Das Team der Presse nennt seine Highlights des Kinojahres 2023.
Besprochen werden Andrew Legges Zeitreise-Film "L.O.L.A." (Standard, mehr dazu hier), Olivier Nakaches und Éric Toledanos "Black Friday for Future" (online nachgereicht von der FAZ), Zack Snyders "Rebel Moon" (Presse, vom TA für die SZ online nachgereicht, unsere Kritik), die im Ersten gezeigte Serie "Power Play" (FAZ, FR) und die von Arte online gestellte Serie "Haus aus Glas" (FAZ).
Bühne
Musik
Außerdem: Die Kritiker des Tages-Anzeigers küren ihre Lieblingssongs 2023. In der FR gratuliert Christina Mohr den Violent Femmes zum 40-jährigen Bestehen. Jakob Biazza liefert in der SZ das in diesen Tagen wahrscheinlich zehnte Joan-Baez-Gespräch in den deutschen Feuilletons. Besprochen wird ein Auftritt der Crucchi Gang in Berlin (Tsp).