Bücherbrief

Frömmigkeit und Heimtücke

09.01.2017. Endlich: mit Wu Cheng'ens Roman "Die Reise in den Westen" ist eines der wichtigsten Werke der Weltliteratur nun auch auf Deutsch zu lesen. Viel gelobt auch die Romane "Die Farben des Nachtfalters" von Petina Gappah und "Fereydun hatte drei Söhne" von Abbas Maroufi. Zu den Sachbüchern des Monats gehört Adam Zamoyskis "Phantome des Terrors".
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Weitere Anregungen finden Sie in unseren Büchern der Saison, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen


Literatur

Wu Cheng'en
Die Reise in den Westen
Ein klassischer chinesischer Roman
Reclam Verlag, Ditzingen 2016, 1320 Seiten, 88 Euro



Keine Frage, Wu Cheng'ens Roman "Die Reise in den Westen", geschrieben im 16. Jahrhundert, ist eines der wichtigsten Werke der Weltliteratur. Jedes Kind in China kennt die Protagonisten und ihre Abenteuer, deren Einfluss auf die chinesische Populärkultur bis heute nachwirkt. Dennoch hat es fast fünfhundert Jahre gedauert, bis das Buch in vollständiger deutscher Übersetzung vorliegt. Die Leistung von Eva Lüdi Kong, die das Mammutwerk in zehnjähriger Arbeit sorgfältig übersetzt und kommentiert hat, ringt den Rezensenten tiefe Dankbarkeit und Bewunderung ab. Für Reinhard J. Brembeck (SZ) stecken die Geschichten so voller Komik, Erhabenheit, Fantastik, Verfressenheit, Frömmigkeit und Heimtücke, als hätten Homer, Cervantes, Chaucer und Dante an einem gemeinsamen Werk gearbeitet. Mark Siemons beschreibt das Buch in der FAZ als einen Mix aus "Comedy-Soap, Fantasy-Movie mit starkem Splatter-Einschlag, satirischer Parabel und anarchistischem Manifest" und freut sich, dass hier weder buddhistische noch konfuzianische oder taoistische Weisheiten in Ehren gehalten werden, sondern vielmehr der sinnfreie Nonsens, die Veralberung von Autoritäten und moralisierender Didaktik. Da kommt höchstens Rabelais in die Nähe, meint ein bestens unterhaltener Arno Widmann: "Heilsgeschichte als Nietzsches fröhliche Wissenschaft." Wer jetzt angefixt ist und gern neuere chinesische Literatur lesen möchte: Nicht in die ferne Vergangenheit, sondern in die nahe Zukunft führt ein chinesisches Werk, das Dietmar Dath in der FAZ nachdrücklich empfiehlt: Cixin Lius Science-Fiction-Trilogie "Die drei Sonnen"

Abbas Maroufi
Fereydun hatte drei Söhne
Roman
Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2016, 350 Seiten, 22,95 Euro



Abbas Maroufis Roman "Fereydun hatte drei Söhne" stammt aus dem Jahr 2004, spielt zu weiten Teilen während der islamischen Revolution im Iran von 1979 und ist doch hochaktuell, meint Andreas Platthaus in der FAZ. Denn nicht zuletzt ist es die Geschichte eines Flüchtlings, des aus dem Iran geflohenen Kommunisten Madjid, der als Patient einer Aachener Nervenheilanstalt seiner Vergangenheit begegnet. Zerrissen zwischen der alten und der neuen Heimat, verdichtet der Autor bittere eigene Erfahrungen exemplarisch zu einem Einblick in die gespaltene Seele eines nie wirklich in Deutschland Angekommenen, fasst Platthaus zusammen. "Leichtverdauliche Kost wird hier nicht geboten", warnt Angela Schader in der NZZ, lässt zugleich aber keinen Zweifel daran, dass die herausfordernde Lektüre lohnt: Wie der Maroufi mit einem zwischen Zeiten und Orten wechselnden, mitunter surrealen Szenario zwischen Faktennähe und Überhöhung die iranische Revolution genau abbildet als Geschichte von Verirrung und Verrat, findet Schader faszinierend. Anlässlich des Buches haben DW, DradioKultur und Qantara sich mit dem seit zwanzig Jahren im Berliner Exil lebenden Autor unterhalten. Für den Tagesspiegel hat ihn Carolin Haentjes porträtiert.

Petina Gappah

Die Farben des Nachtfalters
Roman
Arche Verlag, Zürich 2016, 352 Seiten, 22 Euro



Vor dem Hintergrund der Geschichte Simbabwes erzählt Petina Gappah in "Die Farben des Nachtfalters" von einer weißen Schwarzen, einer Albino-Frau, die wegen Mordes an ihrem Mann verurteilt wurde und auf ihre Hinrichtung wartet, fasst Susanne Mayer in der Zeit zusammen. Wie die Autorin in Form eines Briefromans die Erinnerungen ihrer Heldin freilegt, Abgründe und Familiengeheimnisse schleichend enthüllt und zugleich mit "überschießender Sprachmächtigkeit" von der Hysterie, dem Gekreische, dem Hass und der Verzweiflung eines Frauengeheimnisses erzählt, ringt der Rezensentin höchste Anerkennung ab. RBB und ZDF haben sich mit der Autorin getroffen. Mit ihrer Protagonistin Memory hat Gappah eine "leuchtkräftige Figur geschaffen", stellt Ulrike Baureithel im Tagesspiegel fest, während Britta Spichiger im SRF besonders die "heitere, farbige und lebensfrohe Note" des Romans hervorhebt. Für Juliane Bergmann (NDR) ist das Buch ein "detailliertes und stimmungsvolles Porträt des postkolonialistischen Simbabwe".

Angelika Meier
Osmo
Roman
Diaphanes Verlag, Zürich 2016, 272 Seiten, 22,95 Euro



Kein geringeres Vorbild als Thomas Pynchon kommt Tobias Lehmkuhl in der SZ bei der Lektüre von Angelika Meiers "schlau-verdrehtem, superrasantem" Roman "Osmo" in den Sinn. Die gleißende Helligkeit einer Solarkraftanlage in Kalifornien, ja die Sonne selbst erkennt er als Protagonistin dieser "schwindelerregenden und, ja!, schreiend komischen" Geschichte, bevölkert mit skurrilen Figuren und geschickt mit Krimi- und Science-Fiction-Elementen spielend. "Furiose Erzählfreude" gepaart mit einer "äußerst sparsamen Informationspolitik" attestiert Anja Hirsch im WDR dem Roman, stellt aber zugleich fest, dass er durchaus nicht im Reich des Absurden angesiedelt ist: "Der Teppich für den Roman aber sind dann doch die großen Konflikte Amerikas und der westlichen Welt", Hoheits-Streitereien zwischen Indigenen, Investoren und Ideologen, Ein- und Auswandererbiografien, Fragen von Schuld und Schuldausgleich.

Marina Colasanti
Mein fremder Krieg
Erinnerungen
Weidle Verlag, Bonn 2016, 264 Seiten, 20 Euro



In der Vielzahl der Zeitzeugenberichte vom Zweiten Weltkrieg ist Marina Colasantis Erinnerungsbuch "Mein fremder Krieg" eine Bereicherung, meint Fridtjof Küchemann in der FAZ. Das liegt für ihn an der ungewöhnlichen Perspektive, mit der die Autorin "unbekümmert und dabei wohl doch ungeschönt, ohne das Bedürfnis moralischer Stellungnahme" von ihrer Kindheit im Krieg und den Stationen ihres Lebens erzählt. Von Eritrea nach Italien und schließlich, nach Kriegsende, nach Brasilien verschlägt es die Familie, von wo aus Colasanti später zur Spurensuche nach dem verstorbenen Vater und den Ursachen der faschistischen Gesinnung des Mussolini bewundernden Industriellen aufbricht. Wie die Autorin eigene Kindheitserinnerungen mit denen ihres älteren Bruders, Anekdoten, Beobachtungen und späteren Reflexionen und Gedanken verwebt, verleiht dem Buch für Küchemann "eine erstaunliche Eleganz und Tiefe".


Sachbuch

Adam Zamoyski
Phantome des Terrors
Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit
C. H. Beck Verlag 2016, 618 Seiten, 29,95 Euro



Der amerikanische Historiker Adam Zamoyski erzählt in seinem Buch "Phantome des Terrors" am Beispiel der Restauration, die auf die Französische Revolution folgte, wie die europäischen Staaten aus Angst vor einer ähnlichen Revolte die Freiheit ihrer Bürger noch stärker unterdrückten und ihre Spitzelsysteme ausweiteten - und damit auslösten, was sie doch um jeden Preis vermeiden wollten. In der Zeit ist Volker Ullrich voll des Lobs für Zamoyskis Darstellung, die er nicht nur informativ, sondern auch humorvoll und unterhaltsam findet. In der FAZ stimmt Johannes Willms, selbst Autor einer Talleyrand-Biografie in das Lob ein: Anhand einer Indizienkette kann ihm Zamoyski verdeutlichen, wie die Politik Österreichs, Russlands und Preußens die Entwicklung Europas folgenreich blockierten. SZ-Kritiker Jens Bisky lernt "Schritt für Schritt", wie sich Europas Mächtige mit ihrer Unterdrückungs- und Überwachungspolitik ihr eigenes Grab schaufelten. "Am verheerendsten aber, so Zamoyski in einer kecken Schlusswendung, wirkte eine neue, der Einbildung entsprungene Sichtweise auf Politik und Gesellschaft insgesamt: sie wurden fortan als dauernder Kampf zwischen denen da unten und denen da oben verstanden." Das ist beunruhigend aktuell, findet Bisky.

Alec Ash
Die Einzelkinder
Wovon Chinas neue Generation träumt
Hanser Berlin, Berlin 2016, 320 Seiten, 24 Euro



Anhand von sechs präzisen Porträts macht der englische Journalist Alec Ash, Sohn des Historikers Timothy Garton Ash, eine ganze Generation von über 300 Millionen jungen Chinesen greifbar, freuen sich die Rezensenten. Die östlichen Altersgenossen der Millennials sind von der Ein-Kind-Politik geprägt, früh verhätschelt und mit Bildung und Komfort unterstützt, aber auch einem enormen Druck ausgesetzt, erfährt Thomas Speckmann (Zeit) und freut sich, dass der Autor durch die Auswahl der Einzelfälle völlig auf Verallgemeinerungen verzichten kann. Für Tim Neshitov (SZ) wird beim Lesen spürbar, dass der Autor die Vorbilder für seine Figuren jahrelang begleitet hat, ihnen in ihre Heimatdörfer gefolgt ist und ihre Probleme, wie den Heiratsdruck und die Wohnungsnot, kennengelernt hat. Marko Martin (Welt) ist fasziniert von der Ambivalenz gegenüber persönlicher Freiheit und kapitalistischem Effizienzdenken, in dem die jungen Chinesen aufwachsen. Und Ruth Kirchner (DLF) ist gespannt, wie diese Generation das Land prägen wird, wenn sie einmal am Ruder ist.

Jörg Schweinitz (Hg.), Margrit Tröhler (Hg.)
Die Zeit des Bildes ist angebrochen!
Französische Intellektuelle, Künstler und Filmkritiker über das Kino. Eine historische Anthologie 1906-1929
Alexander Verlag, Berlin 2016, 768 Seiten, 29,90 Euro



Schon in der Frühphase des Films war das Medium für französische Intellektuelle und Kritiker Gegenstand theoretischer Untersuchung, während ihre deutschen Kollegen noch unter dem Schock standen, den das Bewegtbild für den traditionellen Kunstbegriff darstellte. Die Filmwissenschaftler Jörg Schweinitz und Margrit Tröhler haben nun eine Auswahl der wichtigsten filmtheoretischen Texte der Stummfilmzeit versammelt und bieten so einen Überblick über die ersten Debatten zur Ästhetik und den Möglichkeiten des Kinos. "Es herrscht eine unbändige Euphorie in diesem Band, die bis zur Ekstase führen kann", stellt Fritz Göttler in der SZ begeistert fest und liest gebannt, wie Colette die Schönheit des Augenblicks besang (im Gegensatz zur späteren Dominanz von Handlung und Dramatik), Jean Epstein mit "Bonjour Cinéma" das aufregende Schreiben über Film begründete, und Abel Gance lernte, Stimmen zu sehen oder auch das Flüstern der Vögel im Wind. Auf einer eigens eingerichteten Webseite der Universität Zürich sind die Originaltexte und diverse Links und Querverweise zu finden.

Tom Vanderbilt
Geschmack
Warum wir mögen, was wir mögen
Carl Hanser Verlag, München 2016, 368 Seiten, 24 Euro



Geschmack gehört zu jenen Dingen, "über die sich niemand Gedanken macht und die umso interessanter werden, je mehr man über sie erfährt", stellt Stephan Wackwitz in der FAZ bei der Lektüre von Tom Vanderbilts Abhandlung fest. Was freilich nicht nur am Thema liegt, sondern auch daran, dass es der Autor gut recherchiert und mit philosophiehistorischer Tiefenschärfe zu präsentieren vermag, wie der Rezensent versichert. Auch Tabea Grzeszyk gerät im DradioKultur ins Schwärmen: Über Museumsbesuche, Bierwettbewerbe und Amazon-Algorithmen nähert sich der Journalist Vanderbilt seinem Untersuchungsgegendstand und kann stets keinen intrinsischen Geschmack entdecken, sondern lediglich einen in komplexer Abhängigkeit von sozialen Kontexten, persönlichen Erinnerungen und historischen Konjunkturen entwickelten. Für Grzeszyk tun sich dadurch "faszinierende Abgründe und fesselnde Paradoxien" auf. Weniger begeistert ist Ullrich Fichtner (Spiegel), der letztlich etwas überfordert konstatiert: "Die vielen, vielen Eindrücke wollen sich nicht fügen zu maßgeblicher Erkenntnis."

Stephan Braese
Jenseits der Pässe: Wolfgang Hildesheimer
Eine Biografie
Wallstein Verlag, Göttingen 2016, 588 Seiten, 44,90 Euro



Pünktlich zum hundersten Geburtstag legt Stephan Braese die erste Biografie über Wolfgang Hildesheimer vor. Dass es ihm gelingt, Licht in die frühen Jahrzehnte des Schriftstellers und Künstlers zu bringen, freut Sven Hanuschek (FR) ungemein, aber auch zur Bedeutung der "jewishness" für Hildesheimer und seinem illustren Freundes- und Bekannten-Netzwerk erfährt der Rezensent von Braese viel Neues. Spannend findet Hilmar Klute (SZ), wie der Autor Hildesheimers "sanften Radikalismus" einfängt, wenn er eine intensive Werkexegese mit einer genauen Darstellung der literarischen Milieus im Nachkriegsdeutschland verbindet, in denen Hildesheimer noch immer als Jude gekennzeichnet wurde. Besonders aufschlussreich findet Jochen Schimmang (FAZ) Braeses Darstellung von Hildesheimers Übersetzerarbeit bei den Nürnberger Prozessen und deren Auswirkung auf die spätere Hörspielarbeit und Prosa des Autors. Hartmut Buchholz lobt die Biografie in der Badischen Zeitung für ihre "Materialfülle und stringente Argumentation". Tobias Schwartz begrüßt Braeses Buch im Tagesspiegel als "eine überfällige Ergänzung" zum Leben Wolfgang Hildesheimers.

Rebekka Habermas
Skandal in Togo
Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, 400 Seiten, 25 Euro



Mit ihrem Buch "Skandal in Togo" hat Rebekka Habermas eine mikrohistorisch angelegte Studie zur deutschen Kolonialgeschichte vorgelegt, die weit über den geschilderten Einzelfall einer durch einen hochrangigen Kolonialbeamten vergewaltigten minderjährigen Afrikanerin hinausweist, meinen die Kritiker einhellig. Gleichermaßen "Bahnbrechend" ist die Untersuchung für Micha Brumlik (taz) und Markus Schwering (FR), wobei ersterer das Buch als präzise Beschreibung des kolonialen Herrschaftsmodells preist, während es für letzteren eher eine unschätzbare Materialsammlung mit ausbaubarem Analyseteil bietet. Besonders aufschlussreich findet Sabine Fröhlich in der NZZ, was bei dem Skandal nicht skandalisiert wurde: der generelle Rassismus nämlich, der der kolonialen Idee zwingend zugrundeliegt. Für den DLF hat sich Britta Fecke mit Rebekka Habermas über das Buch unterhalten.