Bücherbrief

Hinter einer regennassen Scheibe

07.01.2019. Michel Houellebecqs Schwanengesang auf den alten weißen Mann bringt die Kritiker in Wallung. Nora Bossong nimmt uns mit auf einen poetisch-politischen "Kreuzzug mit Hund" vom Okzident bis in den Orient, Gabriele Adamesteanu begibt sich auf eine rumänische "Suche nach der verlorenen Zeit", Helen Oyeyemi entwirft Geschichten wie kleine Traummaschinen und Masha Gessen erzählt die jüngste Geschichte Russlands als großen russischen Roman. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Januar.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Michel Houellebecq
Serotonin
Roman
DuMont Verlag. 330 Seiten. 24 Euro



Heute erscheint der neue Houellebecq und alle Zeitungen haben ihn besprochen. Hauptfigur ist ein Agronom, ein impotenter Ich-Erzähler am Rande des Selbstmords, der sich plötzlich noch einmal verliebt. Die Kritiken reichen von Lob für einen "tieftraurigen Liebesroman" (Jan Wiele in der FAZ) bis zu "welker, unglücklich gealterter Textsack" (Alex Rühle in der SZ). Auch Zeit-Kritikerin Iris Radisch hat für den weißen Mann in Gestalt seines letzten Herolds Michel Houellebecq nur übrig, was er verdient: Spott. Zwar hat man während ihrer ganzen Kritik das Gefühl, dass sie sich wider Willen prächtig amüsierte über diesen Roman eines französischen Beamten, der als Erzähler sämtliche Reiz-Reaktions-Schemata der heutigen Debatte mit virtuosem Gespür für den Fettnapf bedient. Aber insgesamt riecht ihr der Roman all zu sehr nach kaltem Rauch. Und schließlich meint sie, dass man Houellebecq als den Reaktionär, als der er sich permanent äußere, endlich auch politisch abhaken sollte. Die französische Kritik, behauptet Radisch, tue entschlossen so, als habe sie sich amüsiert. Aber so eindeutig ist das Verhältnis der Franzosen zu Houellebecq nicht. Le Monde hat vier Autoren gebeten, sich zu Houellebecq zu äußern. Catherine Millet, selbst Skandalautorin, schreibt: "Er sublimiert unsere Vulgarität, und anders als es die Einfachheit seines Stils erscheinen läst, stellt dies, da bin ich sicher, eine große Arbeit der Form dar." Antoine Compagnon dagegen, Literaturprofessor am Collège de France, schimpft über die "platte und instrumentelle Sprache Houellebecqs". Und "'Sérotonine', 'Subutex', même combat", schreibt er noch, auf Virginie Despentes anspielend: Aber ist es für Literatur nicht das höchste Gütesiegel, wenn sie es vom Literaturbeamten gerade nicht erhält?

Gabriela Adamesteanu
Der verlorene Morgen
Roman
Die andere Bibliothek. 500 Seiten. 42 Euro



Von den KritikerInnen als eine Art rumänische "Suche nach der verlorenen Zeit" und als wichtigstes Buch der Schriftstellerin Gabriela Adameşteanu  gewürdigt, liegt der 1983 im Original erschienene Roman "Der verlorene Morgen" nun erstmals in deutscher Übersetzung von Eva Ruth Wemme vor. Wenn Adameşteanu elegant mit den Zeitebenen, 1914 und Ende der 70er Jahre, sowie mit den Milieus, einerseits das Großbürgertum, andererseits die sozialistische Nomenklatura spielt, dabei sowohl Systemkritik am Ceausescu-Regime übt, als auch eine Liebeserklärung an Bukarest verfasst, hält FAZ-Kritiker den Roman für ein psychologisches wie literarisches Meisterwerk. Auch NZZ-Kritiker Jörg Plath staunt, wie die Autorin die Geschichte ihres Landes anhand zweier Frauenschicksale aus unterschiedlichen Milieus unterbringt, in einer raffinierten Romankomposition von Repression, Enteignung, Flucht, Opportunismus und Widerstand erzählt. Im Dlf hebt Katrin Hillgruber vor allem Adameşteanus sprachliche Virtuosität hervor. Wer jetzt angefixt ist, dem empfiehlt FAZ-Kritiker Andreas Platthaus unbedingt auch Adamesteanus 2001 fertig gestellten und nun im Wieser Verlag erschienenen Roman "Begegnung" der genauso politisch und sprachlich "intensiv" sei wie der Vorgänger.

Nora Bossong
Kreuzzug mit Hund
Gedichte
Suhrkamp Verlag. 101 Seiten. 20 Euro



In ihrem neuen Lyrikband nimmt uns die Schriftstellerin Nora Bossong mit auf einen "Kreuzzug mit Hund", vom Okzident bis zum Orient, von der deutschen Provinz bis nach Israel und in den Iran. Auf den reimlosen, poetisch-politischen Versen gleitet denn auch FR-Kritikerin Uta Grossmann in Bossongs lyrisches Universum, in Assoziationsräume, zu Erlebtem und Erfundenem, zu Erinnerungen an verlorene Geliebte, schließlich zu Tieren, laut Grossmann Boten der poetischen Welt. In der SZ preist Kristoffer Patrick Cornils indes Bossongs Fähigkeit, beobachtende Welterfahrung nicht zu reduzieren oder zu politisieren, sondern bei aller Knappheit der Sprache offen, urteilsfrei und mehrdeutig zu halten. Und wenn die Autorin soziale Realitäten und individuelles Wünschen aufeinandertreffen lässt, findet er, dass der Konflikt zwischen Sprache und Zeitgeschehen selten so lässig in Worte gefasst wurde. In der FAZ fühlt sich Michael Braun nur gelegentlich erleuchtet. "Sinnliche Zeilen, die lange nachhallen" und das Talent, die Brüsseler Bürokratie in Poesie zu fassen, bescheinigt Carsten Otte der Autorin im SWR. Im Dlf-Kultur spricht Bossong über ihr Buch.

Helen Oyeyemi
Was du nicht hast, das brauchst du nicht
Storys
CultureBooks. 288 Seiten. 20 Euro



In den Kritiken zu den Büchern der seit ihrem vierten Lebensjahr in London lebenden nigerianischen Schriftstellerin Helen Oyeyemi fallen immer wieder die Worte "Traum" und "Magie". Auch SZ-Kritikerin Insa Wilke verfällt im neuen Erzählband einmal mehr dem Zauber von Oyeyemis unkonventionellem Ton. Wenn die Autorin vordergründig komisch und unterhaltsam um das Leben junger Leute und verliebter Frauen kreist, dabei Poe und Realityshow mixt, erkennt die Kritikerin hinter den Geschichten eine handfeste feministische Haltung. Befreiend findet sie zudem den Verzicht auf die üblichen Zuschreibungen und grammatikalischen Festlegungen. "Geschichten wie kleine Traummaschinen" entdeckt auch Edelgard Abenstein im Dlf Kultur: Mit überschäumender Fantasie, einer guten Portion Groteske und an E.T.A. Hoffmann erinnernden "schrillen" Figuren lasse die Autorin den Boden der Wirklichkeit schwanken, meint sie und verzeiht gern gelegentliches "erzählerisches Knirschen".

Monica Sabolo
Summer
Roman
Insel Verlag. 253 Seiten. 22 Euro



Mit wesentlich weniger Getöse erreicht uns neben Houellebecq ein zweiter Roman aus Frankreich, der bisher vor allem in französischen Medien besprochen wurde. Immerhin Peter Henning erkennt in der SZ in Monica Sabolo eine der spannendsten Autorinnen der französischen Gegenwartsliteratur - und das nicht nur, weil er das Buch auch als Krimi liest. Wenn ihm die in Italien geborene Journalistin und Schriftstellerin hier von Benjamin erzählt, den das rätselhafte Verschwinden seiner neunzehnjährigen Schwester in den Siebzigern am Genfer See bis ins Erwachsenenalter nicht loslässt, beschleicht den Kritiker ein vages Unbehagen: Wie hinter einer "regennassen Scheibe inszeniert" erscheint ihm der Text, der die Grenzen zwischen Erinnerung und Fantasie des Erzählers immer wieder verschwimmen lässt. Der Sogkraft, die ihn hinter die Kulissen einer dysfunktionalen Familie zieht, kann er sich nicht entziehen und schließt: "Eine geschickt konstruierte Scharade, die auf keiner Seite langweilt."


Sachbuch

Masha Gessen
Die Zukunft ist Geschichte
Wie Russland die Freiheit gewann und verlor
Suhrkamp Verlag. 639 Seiten. 26 Euro



Masha Gessen nennt ihr Buch selbst einen "faktografischen Roman". Sie verwebt das Schicksal einiger tatsächlich lebender Personen mit der jüngsten Geschichte Russlands. Hans von Trotha bringt das Buch in seiner Besprechung für Dlf-Kultur in Zusammenhang mit der großen Tradition des russischen Romans: Gessens Buch gelinge, weil sie "mit großem Rechercheaufwand und nicht minder großem Einfühlungsvermögen - das sind dann wohl zwei der Ingredienzien für einen großen russischen Roman - die Geschichten einer Handvoll Protagonistinnen und Protagonisten, die alle kurz nach 1980 geboren sind, ineinander und in eine Erzählung von Russland webt". So wie die Autorin, nämlich historisch und persönlich, hat noch niemand den Bogen gespannt von der Perestroika bis Putin, meint auch Barbara Kerneck in der taz. Im amerikanischen Fernsehsender PBS kann man ein einstündiges Gespräch mit Gessen über das Buch und die jüngste Geschichte Russlands sehen.

Volker Reinhardt
Leonardo da Vinci
Das Auge der Welt
C.H. Beck. 383 Seiten. 28 Euro



Erst am 02. Mai jährt sich Leonardo da Vincis Todestag zum 500. Mal, aber die Zeit widmete bereits schon jetzt ein ganzes Feuilleton dem Universalgenie, und auch neue Biografien stehen natürlich schon in den Bücherregalen. Empfehlenswert scheint jene des Historikers Volker Reinhardt zu sein, wenn man den KritikerInnen vertraut. Als einen der "profiliertesten Renaissance-Historiker seiner Generation" würdigt ihn FAZ-Kritiker Benjamin Paul und bespricht dessen Buch im Vergleich zur ebenfalls gerade erschienenen Biografie des Journalisten Walter Isaacson. Während Isaacson Leonardo zu sehr verkläre, schätzt der Kritiker Reinhardts Buch nicht nur für dessen brillante und wissenschaftlich korrekte Beschäftigung und die kritische Quellenanalyse, sondern verdankt dem Historiker auch eine höchst raffinierte Analyse des "Abendmahls". Auf die ein oder andere steile, mitunter auch polemische These, etwa zu Leonardos Atheismus, hätte er indes verzichten können. Allzu viel Neues über Leonardo lernt NZZ-Kritiker Andreas Beyer bei Reinhardt zwar nicht - macht aber nichts, meint er, denn der Leser bekommt dafür auf Leonardos Notizbücher zurückgehende Fakten und ein ebenso schlüssiges wie elegantes, entlang des Werkkataloges erzähltes Bild, das nicht zuletzt die Machtkonstellationen um da Vinci und den soziopolitischen Hintergrund konzis beleuchten. Auf literaturkritik.de empfiehlt Stefanie Leibetseder das Buch und im WDR steht ein Gespräch mit Volker Reinhardt über Leonardo online.

Martin Seel
Nichtrechthabenwollen
Gedankenspiele
S. Fischer Verlag. 160 Seiten. 18 Euro



Ein Buch mit dem Titel "Nichtrechthabenwollen" möchte man so manchem Zeitgenossen gerne auf den Nachtisch legen. Aber nur dafür wären die "Gedankenspiele" des Frankfurter Philosophen Martin Seel wohl zu schade. Als Fest des Denkens erscheinen etwa Maja Becker in der Zeit die Experimente des Autors, der in unterhaltsamen, witzigen, scharfen und nicht zuletzt enorm anregenden Abschweifungen, Aphorismen und Assoziationen dem Zwang zum Rechthabenwollen zu entkommen versucht. Schlicht "brillant" nennt auch NZZ-Kritiker Thomas Ribi Seels Texte, die ihn weg von der Sinnsuche und hin zur Evidenz führen. Wenn der Philosoph sich hier in assoziativen Denkbewegungen in Passagen aus Literatur, Kunstwerke, Szenen aus Filmen und vor allem in die Jazzmusik begibt, Theorien und Zwänge weit hinter sich lässt und allerlei "Gelegenheitsfunde" auftischt, nimmt der Kritiker viele "erfrischend schwebende" Erkenntnisse aus der Lektüre mit. In der ZDF-Mediathek steht Martin Seels Besuch auf dem blauen Sofa online.

Frank Rexroth
Fröhliche Scholastik
Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters
C.H. Beck Verlag. 505 Seiten. 29,95 Euro



Fast uneingeschränkt positive Kritiken erntet der Göttinger Historiker Frank Rexroth für sein Buch "Fröhliche Scholastik", in dem er das Aufkommen wissenschaftlichen Denkens im 12. Jahrhundert rund um die Kloster- und Domschulen bis hin zur Entstehung der Universität nachweist. Während FAZ-Kritiker Ulrich von Rauchhaupt staunt, wie Rexroth neben der konfliktbeladenen Herausbildung einer ganz neuen soziokulturellen Gelehrsamkeit, knapp, klar und wortgewandt auch die schiere Freude der frühen Scholastik am (Gegen-)Argument ins Bild setzt, erkennt Susanne Reichlin in der SZ in den von Rexroth beleuchteten Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Institution und Gesellschaft auch eine subtile Spur bis ins Heute, die sie zum Nachdenken über aktuelle universitäre Verhältnisse anregt. Der Historiker Valentin Groebner erfährt in der NZZ, wie sich Wissenschaftsjargon und Lehrercharisma ausbildeten, welche Spielregeln in den Diskursgemeinschaften galten, auch Rexroths Überlegungen zum Verhältnis zwischen Askese und Profit in den frühen Lehranstalten findet er klug. Dass der Autor Wissenszentren wie Bagdad oder Konstantinopel unberücksichtigt lässt, kann er allerdings ebenso wenig verstehen wie den Umstand, dass äußere Faktoren für den Aufbruch Europas ins Zeitalter des Wissens (Geld, Eroberungen, Bevölkerungswachstum) im Buch kaum vorkommen.

Eleonore Büning
Sprechen wir über Beethoven
Ein Musikverführer
Benevento Verlag. 352  Seiten. 24 Euro



Wenn die ehemalige Musikredakteurin der FAZ, Eleonore Büning, über Beethoven spricht, hören ihr ihre Kritiker-KollegInnen gebannt zu. Bereits Anfang der Neunziger promovierte Büning über Beethoven, nun wollte sie sich ein Bild über den aktuellen Forschungsstand verschaffen, wie sie im SWR-Gespräch mit Ines Pasz erzählt. Einfach phänomenal nennt NZZ-Kritiker Alain Claude Sulzer denn auch das Buch, das er Laien und Liebhabern gleichermaßen empfiehlt: Die Einblicke der Autorin, etwa zu Karajans Fähigkeit, Beethovens detaillierte Vorgaben zu erfüllen, ihr gekonntes Springen zwischen Werkgattungen, Epochen und Interpretationsstilen sowie die implizite Aufforderung, die Lektüre immer wieder mit Hörbeispielen zu untermalen, bereiten dem Kritiker viel Freude. Dazu Bünings intime Quellenkenntnis, ihre Kenntnis der Interpretationsgeschichte und der Biografie des Künstlers, vor allem aber die Leichtigkeit, mit der sie ihr Wissen präsentiert und Sulzer ist rundum glücklich. Im br-Interview mit Sylvia Schreiber spricht Büning ebenfalls über ihr Buch.