Bücherbrief

Flamingofarben und noir

06.08.2018. Julia von Lucadou springt mit einem glänzenden Satz in eine eiskalte Dystopie, Gaito Gasdanow reiht Schicksals-Skizzen kleiner Leute im Paris der Zwischenkriegsjahre aneinander, Lisa Halliday erzählt weit mehr als die Geschichte ihrer Affäre mit Philip Roth. Madeleine Albright,  Steven Levitsky und Daniel Ziblatt warnen vor dem Zerfall der Demokratie. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats August.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Julia von Lucadou
Die Hochhausspringerin
Roman
Hanser Berlin Verlag. 288 Seiten. 19 Euro

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Genau der richtige Roman für heiße Sommertage scheint Julia von Lucadous von Kritikern und Klappentext gleichermaßen als "eiskalt" und "brillant" gepriesene Dystopie zu sein. Erzählt wird die Geschichte der Hochhausspringerin Riva, die stets perfekt funktionierend Millionen Fans begeistert - bis sie sich weigert zu trainieren und in Folge von Motivationstrainerin Hitomi, die Riva über Kameras beobachtet, wieder auf Spur gebracht werden soll. Gelingt Hitomi das nicht, wird sie in die Peripherien ausgewiesen, in denen Menschen außerhalb der Gesellschaft in Schmutz leben. So weit, so bekannt im Genre, aber die Präzision, mit der "diese hochglänzende, neue, aber keineswegs komplett fiktive Welt"  geschildert wird, ist faszinierend, meint SZ-Kritikerin Kathleen Hildebrand: "Jedes Detail sitzt so genau, dass hinter der Makellosigkeit des Textes immer dieselbe Perfidie der Selbstoptimierung zu lauern scheint, um die es ihm geht." In der FR interessiert sich Anja Ruf vor allem für das komplexe Verhältnis der beiden Frauen und kann angesichts der "spannenden" Lektüre auch mit der mitunter IT-lastigen Sprache gut leben.

Stefan Agopian
Handbuch der Zeiten
Roman
Verbrecher Verlag. 128 Seiten. 18 Euro

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Stefan Agopian gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Rumäniens, höchste Zeit also, ihn auch hierzulande zu entdecken - was der Verbrecher Verlag mit diesem im Original bereits 1984 erschienenen Roman jetzt möglich macht. Wobei, ein Roman ist das Buch eigentlich gar nicht, wendet NZZ-Kritiker Jörg Plath ein: Zu unzusammenhängend und "wunderbar schrullig" erscheinen ihm die hier geschilderten Abenteuer des Geografen Ioan und des Armeniers Zoac, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts und in Begleitung von allerlei Engeln, Teufeln und Fabelwesen wie dem Riesenvogel Odysseus oder einem sprechenden Rüden ihr Unwesen treiben. Bitte nicht nach Sinn suchen, in dieser wilden Mischung aus "Grimmelshausenschem Barock und Surrealismus, aus heiterem Kinderbuch und Antike, derbem Beckett und Postmoderne", warnt er. taz-Kritiker Samir Sellami liest ein verspieltes Anti-Märchen à la Rabelais. "Verrückt, balkanisch absurd und burlesk" geht es hier zu, findet Jan Koneffke im DLF und staunt nicht nur, wie subtil Agopian Anspielungen auf das Ceaucescu-Regime unterbringt, sondern lobt auch Eva Ruth Wemmes Übersetzung der "verspielt-poetischen" Sprache.

Lisa Halliday
Asymmetrie
Roman
Carl Hanser Verlag. 320 Seiten. 23 Euro

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Das ist nicht der lang erwartete Philip-Roth-Schlüsselroman, versichern die KritikerInnen fast im Wortlaut, auch wenn es natürlich auch um Hallidays Affäre mit dem 45 Jahre älteren Roth geht. Doch der Roman ist weit mehr als das, findet SZ-Kritiker Felix Stephan, der in dem aus drei Teilen bestehenden Text vor allem aber einen klug konstruierten Roman liest: Im zweiten Teil erzählt Halliday von einem in die USA emigrierten irakischen Exilanten, der am Flughafen Heathrow festgehalten wird und reflektiert dabei, was es bedeutet, sich als junge Weiße diese Perspektive anzueignen. Zeit-Kritiker Andreas Isenschmid hat nicht nur einen erstklassigen Roman über den Irakkrieg gelesen, sondern die Heldin auch bei ihrer education sentimentale zur Schriftstellerin begleitet. Im Spiegel lobt Anne Haeming die Subtilität, mit der Halliday die existentielle Frage stellt, wer die Rolle in unserer eigenen Geschichte bestimmen kann. Für die New York Times hat Alexandra Alter die Autorin porträtiert. Weitere Besprechungen im Guardian, bei Goodreads und im Dlf-Kultur.
 
Gaito Gasdanow
Nächtliche Wege
Roman
Carl Hanser Verlag. 288 Seiten. 23 Euro

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Die Wiederentdeckung des russischen Autors Gaito Gasdanow, der sich im Pariser Exil als Schriftsteller und Journalist den Ruf eines "russischen Camus'" erschrieb, beschert uns ein weiteres wunderbares Buch: In diesem bereits 1925 erschienenen und nun erstmals ins Deutsche übersetzten Roman erzählt Gasdanow von jener Zeit, als er als Nachttaxifahrer im Paris der 20er und 30er unterwegs war und in Boulevards, Bistros und Bars den Geschichten von Huren, Ganoven und anderen Nachtgestalten über Absturz, Verfall und Scheitern lauschte. SZ-Kritiker Werner Bartens erscheint Gaspanow wie ein "Insektenforscher", der die Illusionen seiner Figuren und den Verfall der Gesellschaft kühl entlarvt und statt Paris-Klischees doch tröstliche und "warmherzige" Impressionen bietet. NZZ-Kritiker Andreas Breitenstein liest diesen, wie er meint, wichtigen Text des Existentialismus als kunstvolle Verschmelzung von Seelen- und Weltgeschichte liest. Im Freitag meint Lennart Laberenz: Vieles in diesen "eleganten Nachtfahrten" wirkt "taufrisch und doch erschreckend schnell vergessen, gerade vor der Folie hunderttausendfacher Zuwanderung nach Europa". Im WDR3 kann man Dirk Hohnsträters Rezension als Podcast hören.

Meg Wolitzer
Das weibliche Prinzip
Roman
DuMont Verlag. 496 Seiten. 24 Euro

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Es ist wahrscheinlich Zufall, aber fällt doch auf, dass diese Emanzipationsgeschichte einer jungen Amerikanerin von den weiblichen Kritikern verrissen, von den männlichen aber gelobt wurde. Jedermann, aber besonders jeder Mann sollte diesen Roman lesen, meint ein hingerissener Christian Bos in der FR. Denn hier gehe es nicht nur um die Selbstverwirklichung der Heldin, um durchaus differenzierte Männerfiguren, sondern auch um Machtfragen - der Feministinnen untereinander aber auch generellen Machtfragen im Trump-Zeitalter. In der Welt gefällt Peter Praschl besonders gut, dass die "feministische Superkarriere" der Heldin, mit ihren positiven Selbstermächtigungsbotschaften, auch als Satire gelesen werden kann. Und die Kritikerinnen? Floskelhaft und den mit #MeToo ans Licht gekommenen Schändlichkeiten nicht angemessen, urteilt in der Zeit Antonia Baum über den Roman. Und SZ-Kritikerin Marie Schmidt sind die Frauen mit ihren verschiedenen Varianten des Feminismus viel zu schematisch.
 

Sachbuch

William T. Vollmann
Arme Leute
Reportagen
Suhrkamp Verlag. 448 Seiten. 22 Euro

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In den USA ist unter dem Titel "Carbon Ideologies" gerade ein zweibändiger und brandaktueller Brocken von William T. Vollmann über den Klimawandel erschienen, (Richard Kämmerlings Welt-Kritik hier), hierzulande sind nun Vollmanns nicht minder aktuelle und wie die KritikerInnen versichern, eindringliche Reportagen über Armut auf Deutsch erschienen. Vollmann reiste quer durch die Welt, von Kambodscha bis Afghanistan, von Japan bis in den Kongo, von Irland bis in den Jemen, traf auf Menschen, die, einst gut verdienend, nun auf der Straße leben, und spricht mit ihnen über Schuld, Karma, Umstände und Glauben. "Rau, ungeschliffen", bisweilen auch unentschieden, nennt NZZ-Kritikerin Angela Schader die Reportagen, für die Vollmann ohne Sentimentalität auf die Menschen zuging und von denen sie lernt: "Armut ist mehr Erfahrung, denn "ökonomisch bezifferbarer Zustand". Das ist keine Elendspornografie, sondern "tastende Ethik", lobt taz-Kritikerin Eva Behrendt, während die Schriftstellerin Tanja Langer in der Berliner Zeitung vor allem "Beschreibungswut und Sprachvermögen" dieses "großen Dichters" bewundert. Vollmanns im Text vorgenommene Phänomenologie der Armut erscheint den KritikerInnen allerdings ein wenig beliebig.

Steven Levitsky, Daniel Ziblatt
Wie Demokratien sterben
Und was wir dagegen tun können
Deutsche Verlags-Anstalt. 320 Seiten. 22 Euro

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Es gibt eine Menge Bücher, die sich mit dem "Zerfall der Demokratie" befassen. Karl Adam liest das Buch der beiden Harvard-Professoren in seinem lesenswerten Blog Im Gegenlicht expressis verbis zusammen mit Madeleine Albright und Yascha Mounk. "Dass sich die beiden Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, die ausgiebig zum Versagen von Demokratien im Europa der 1930er Jahre oder im Lateinamerika der 1970er Jahre geforscht haben, einmal mit ihrer US-amerikanischen Heimat beschäftigen würden, hätten sie 'nie gedacht'." Die beiden analysieren den Zerfall auch als eine innere Schwächung der Institutionen, die sich gegen Usurpatoren wie etwa Trump dann nicht mehr wehren können und so gesehen von innen gefressen werden. Immerhin, konstatiert ein erleichterter Lukas Leuzinger in der NZZ, gibt es bisher keine Anzeichen dafür, dass Amerika auf dem Weg in eine Autokratie sei. Als vertiefende Lektüre sei Jens Hackes Studie "Existenzkrise der Demokratie" empfohlen, die sich mit der Weimarer Zeit befasst.

Madeleine K. Albright
Faschismus
Eine Warnung
DuMont. 320 Seiten. 24 Euro

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Manchmal kommt es eben nicht drauf an, was gesagt wird, sondern wer es sagt, meint Ulrich Gutmair in der taz: Albrights Ausführungen zum Faschismus bringen dem Rezensenten nicht unbedingt grundstürzende Erkenntnisse. Aber es ist eben ein "Vermächtnis" einer Politikerin aus besseren Zeiten. Arno Widmann erkennt in der FR allerdings noch ein paar zusätzlich interessante Aspekte - etwa dass Albright kein Problem hat, auch den Linken Chavez als Faschisten zu identifizieren. Faschismus sei jedenfalls nicht, was die Linke jahrzehntelang darunter verstand, lernt Widmann. Faschismus sei vor allem die Verachtung der Institutionen und die Feinderklärung an bestimmte Gruppen der Bevölkerung. So sagt es Albright selbst im Interview mit Nana Brink von Dlf-Kultur: "Ich denke Faschismus heute ist eine Art Methode, wie man eine Gesellschaft spaltet."

Luc Boltanski, Arnaud Esquerre
Bereicherung
Eine Kritik der Ware
Suhrkamp Verlag. 730 Seiten. 48 Euro

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Luc Boltanski und Arnaud Esquerre beschreiben in ihrem neuen Buch die neue Form des Kulturkapitalismus: "Sein Ziel", heißt es im Klappentext, "ist nicht mehr die industrielle Warenproduktion, die in die Entwicklungs- und Schwellenländer ausgelagert wurde, sondern die Anreicherung von Dingen, die bereits da sind. Der Wert von Waren sinkt normalerweise mit der Zeit, in der Anreicherungsökonomie ist das jedoch umgekehrt: Er steigt." Die Rezensenten sind von den Perspektiven der beiden Autoren fasziniert: Offenbar ist hier eine Klasse am Werk, die es schafft, bestehende Werte wie etwa Immobilien oder Designmöbel mit Erzählungen zum Kulturgut zu veredeln und damit auch ihre symbolische Herrschaft zu sichern. Das ganze hat auch direkt soziale, regionale und politische Auswirkungen: "Vor fünfzig Jahren waren der Norden und der Nordosten Frankreichs Industrieregionen, jetzt sind sie sehr arm, mit großer Arbeitslosigkeit", sagt Boltanski im Interview mit der taz (unser Resümee). Einige Regionen des Südens, wie die Provence, die sehr arm waren, sind hingegen mittlerweile reicher: Wir sehen Tourismus, Dienstleistung, die Übernahme von Immobilien, die im Niedergang begriffen waren, aber auch neue Hausangestellte. Gerald Wagner fehlt in der FAZ allerdings die empirische Grundlage für die steile und elegante These: Belege, Zahlen, belastbare Methodik? Fehlanzeige!

Alex Prager
Silver Lake Drive
Schirmer und Mosel Verlag. 224 Seiten. 48 Euro

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Alex Prager wollte eigentlich Schauspielerin werden, begann allerdings nach einer Ausstellung von William Eggleston im Getty Museum im Jahr 2000 selbst zu fotografieren. Inzwischen kann die in L. A. geborene Autodidaktin längst selbst auf zahlreiche Ausstellungen in großen Häusern zurückblicken und auch ihre bei Schirmer und Mosel unter dem Titel "Silver Lake Drive" erschienene Monografie wird von den KritikerInnen begeistert aufgenommen:  "Flamingofarben und noir", voller Hoffnung und Angst sind Pragers Aufnahmen, staunt Welt-Rezensentin Sarah Pines, die unter dem grellen Anstrich der üppig inszenierten und mit ästhetischen Referenzen von Cindy Sherman bis Michelangelo Antonioni spielenden Fotografien immer auch eine an Hitchcock erinnernde Düsternis erahnt. Zeitlosigkeit und einen Hauch des Bösen entdeckt im Guardian auch Sean O'Hagen, der Pragers gleichnamige Ausstellung in der Londoner Photographers Gallery bespricht. Im Sleek-Magazine kann man einige von Pragers Fotografien sehen. Jenen, die mehr Spielraum im Bücherregal und im Portemonnaie haben, sei außerdem die 700 Euro teure und siebzehn Kilo schwere Holzbox "Books and Films" empfohlen - für NZZ-Kritiker Daniele Muscionico ein hinreißendes Beweisstück für Jakob Tuggeners fotografische und Gerhard Steidls verlegerische Megalomanie.