Bücherbrief

Ins nervöse Herz der Gegenwart

09.07.2018. Francesca Melandri erzählt mit trockener Poesie die Kolonialgeschichte Italiens, Bodo Kirchhoff blickt feierlich und suhrkamphaft auf seine Jugend, Aka Morchiladze reist mit einer Prise Punk durch Georgien und Oliver Wainwright schaut in die quietschbunten Interieurs in Nordkorea. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Juli.

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Weitere Anregungen finden Sie in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Francesca Melandri
Alle, außer mir
Roman
Klaus Wagenbach Verlag. 608 Seiten. 26 Euro



Als "Reise in die italienische Seele" lobte La Repubblica Francesa Melandris Roman - und auch hierzulande sind sich die Kritiker einig: In einer Zeit, in der Europa sich immer mehr abschließt, trifft dieser Roman zielsicher ins "nervöse Herz der Gegenwart", schwärmt etwa SZ-Kritikerin Meike Fessmann. Melandri, die unter anderem in Äthiopien recherchierte, erzählt uns die Geschichte von Ilaria Profeti, einer italienischer Lehrerin, die nach dem Tod des Vaters mit einem äthiopischen Geflüchteten konfrontiert wird, der behauptet, dessen Enkel und also ihr Neffe zu sein. Welt-Kritiker Marc Reichwein liest neben einem spannenden Politthriller auch eine ungeschönte Reportage über die migrantisch geprägten Viertel Roms, im Spiegel bewundert Enrico Ippolito vor allem die in ihrer "trockenen Poesie" schmerzende Sprache und lernt, wie faschistische Strukturen die italienische Gesellschaft bis heute prägen, im Dlf-Kultur bedauert Maike Albath allerdings, dass einige Passagen mehr beschrieben als erzählt und einige Figuren zu "flach" geraten. Im FAZ-Interview spricht Melandri über Rechtspopulismus und Kolonialgeschichte Italiens und in der ARD-Mediathek steht ein Beitrag zum Buch online.

Bodo Kirchhoff
Dämmer und Aufruhr
Roman der frühen Jahre
Frankfurter Verlagsanstalt, 480 Seiten, 28 Euro



Schon 1994/95 hatte Bodo Kirchhoff im Rahmen seiner Poetikvorlesung von seinen frühen Missbrauchserfahrungen im Internat Gaienhofen erzählt. Jetzt, gerade siebzig geworden, erscheint der Autor allerdings "souveräner", wenn er mit bebender Trauer und relativierender Distanz die Einsamkeit des Jungen mit den Missbrauchserlebnissen verknüpft, außerdem von ödipaler Nähe zur Mutter und Abwesenheit des Vaters erzählt, lobt FAZ-Kritiker Tilman Spreckelsen, der das Buch für den "zweifellos besten" Roman von Kirchhoff hält. Große emotionale Kraft attestiert auch Burkhard Müller dem Buch in der SZ und staunt, wie gut das Peinliche, etwa die blumig-verklemmte Sprache zum Geschehen passt. Iris Radisch ist in der Zeit etwas verstört von den "gemeißelten Sätzen" des Autors, sie spürt hier etwas Feierliches, Suhrkamphaftes. "Kitsch und Pathos in angemessener Dosis", aber auch "Flirrendes, Entdeckerhaftes", gerade in den erotischen Szenen, bewundert Jörg Magenau im Dlf-Kultur und in der NZZ hat Roman Bucheli nichts dagegen, in die "Rolle des Voyeurs einer durchaus unsentimentalen sexuellen Erweckung" gezwungen zu werden - vor allem, wenn man während der Lektüre zu einer so komplexen Reflexion über das eigene Begehren angeregt wird. In der FR verdankt Judith von Sternburg dem "virtuosen Roman" auch ein "vorzügliches Sittenbild der Frankfurter Siebziger".

Aka Morchiladze
Reise nach Karabach
Roman
Weidle Verlag, 176 Seiten, 20 Euro



Georgien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse, aber viele Bücher aus und über Georgien sind bis jetzt noch nicht auf dem deutschen Buchmarkt erschienen. Zur Einstimmung empfiehlt sich Aka Morchiladzes "Reise nach Karabach" - immerhin seit den Neunzigern eines der "Kultbücher" Georgiens, wie Christoph Bartmann in der SZ versichert. Das Roadmovie um zwei Kleinganoven, die sich erst durch das politisch-kulturelle "Vakuum" des postsowjetischen Tiflis' saufen und prügeln und bald mit einem alten Lada zwecks Drogenkauf auf eine Reise nach Karabach begeben, ist nicht nur temporeich, "rotzig-aggressiv", bisweilen auch poetisch geschrieben, sondern enthält genau jene Prise Punk, die jene Jahre auf den Punkt bringt, schwärmt Bartmann. In der FAZ  bewundert Jan Wiele die Mischung aus Komik und Krieg bei Morchiladze, verdankt dem Roman aber auch fast beiläufig vermittelte, unheimliche Erkenntnisse über kaukasische Geschichte.

Maxim Kantor
Rotes Licht
Roman
Zsolnay Verlag, 704 Seiten, 29 Euro

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Maxim Kantor machte sich vor allem als bildender Künstler in und über die Grenzen von Russland hinaus einen Namen. Überwiegend angetan haben die Kritiker auch seinen ersten Roman "Rotes Licht" aufgenommen, in dem der Held auf dem Sterbebett faktengesättigt, gelegentlich fiktional, vor allem aber sprach- und bildgewaltig von der russischen Revolution bis zum Ende der UdSSR, vom Aufstieg Hitlers bis zu Putins Krieg auf der Krim erzählt, wie etwa FAZ-Kritikerin Nicole Henneberg beteuert. Während Henneberg ein gigantisches Drama gelesen hat, das "grausam, märchenhaft", vor allem aber nachhallend vom Krieg erzählt, nimmt FR-Kritikerin Katharina Granzin zwar viel Wissenswertes aus dem Roman mit, hätte den Text aber gern auf mehrere Romane, historische Abhandlungen und philosophische Essays verteilt. Mit der Opulenz des Romans kommt Achim Engelberg (NZZ) gut zurecht,  in der Verbindung von Malerei und Erzählung, Realismus und Fantastik liegt seine Einzigartigkeit, findet er - gelegentlich wird es ihm allerdings geschichtsphilosophisch zu spekulativ. Als großen Jahrhundertroman randvoll mit Witz, schwarzem Humor, philosophischem Ernst und  politischem Verstand, liest Carsten Hueck im Dlf-Kultur das Buch.

Roger Deakin
Wilde Wälder
Matthes und Seitz Berlin, 440 Seiten, 38 Euro

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"Wilde Wälder" lautet der unscheinbare Titel dieses Buches des 2006 verstorbenen Journalisten Roger Deakin - und verspricht doch viel mehr: Nature Writing vom Feinsten nämlich, wie in der taz Ulrike Fokken versichert, die das Buch für ein Meisterwerk hält -  kongenial sinnlich übertragen von Andreas Jandl und Frank Sievers und mit bezaubernden Fotos von Bäumen angereichert. Wir begleiten den Autor durch die Wälder Großbritanniens und quer durch Europa bis nach Zentralasien und Australien, erleben wie er mit Aborigine-Frauen Karanda-Pflaumen erntet, lernt, aus Baumwurzeln Trinkwasser zu gewinnen oder Künstler, die mit Holz arbeiten, in ihren Ateliers besucht. Botanische Besonderheiten und Historisches vermittelt der Autor in Hülle und Fülle, gespickt mit literarischen Zitaten und voller Ehrfurcht vor dem Leben, schwärmt Fokken. "Facettenreich, wissenssatt und präzis beobachtet", findet auch Antje Ravic-Strubel im Dlf, ganz hingerissen von  der Gestaltung dieses Buches durch Judith Schalansky, die etwa jedem Unterkapitel eine andere Stammscheibe in Nahaufnahme vorangestellt hat.


Sachbuch

Cover: Die Bücherschmuggler von TimbuktuCharlie English
Die Bücherschmuggler von Timbuktu
Von der Suche nach der sagenumwobenen Stadt und der Rettung ihres Schatzes
Hoffmann und Campe, 432 Seiten, 24 Euro



Bei diesem Buch sind sich alle einig: Der Guardian-Reporter Charlie English räumt in seinen Recherchen zur berühmten Bibliothek von Timbuktu mit einigen Mythen auf, um dann die Realität noch heller strahlen zu lassen. Wie etwa Ronald Düker in der Zeit lobt, rekonstruiert English nicht nur anschaulich spannend, wie die malischen Bibliothekare ihre mittelalterlichen Manuskripte in Sicherheit brachten, als die Dschihadisten 2012 die Wüstenstadt einnahmen. Er erzähle genauso faszinierende die Geschichte Timbuktus, jener sagenumwobenen Karawanenstadt in der Sahara, die im 12. Jahrhundert von den Tuareg gegründet wurde und mit dem Salzhandel zum Eldorado der Sahara wurde. So sieht das auch Andreas Eckert in der FAZ. Im Dlf Kultur findet Eva Hepper das schlichtweg: "Grandios!"

Cover: ZwangsgeräumtMatthew Desmond
Zwangsgeräumt
Armut und Profit in der Stadt
Ullstein Verlag, 544 Seiten, 26 Euro



Mit blankem Entsetzen haben die Kritiker dieses Buch gelesen, in dem der amerikanische Soziologe Matthew Desmond die Armut in Milwaukee vermisst und von den vielen Familien erzählt, die mit der Subprime-Krise ihre Wohnung verloren, obdachlos wurden oder in einen Trailer-Park ziehen mussten. Besonders beeindruckt die Rezensenten, wie gekonnt der Pulitzer-preisgekrönte Autor die Familienschicksale mit grundsätzlichen Erkenntnissen über den Immobilienmarkt, Wirtschaftspolitik und soziale Mobilität verbindet. In der FAZ erkennt Michael Hochgeschwender, dass der Rassismus zwar zu den verheerenden Merkmalen der USA gehört, schuld an diesem sozialen Desaster sei aber der rigide Klassencharakter des Landes. In der SZ zählt Matthias Kolb Desmond zu den wichtigsten jungen Intellektuellen der USA und lernt von ihm, dass die Wohnungspolitik vor allem denen hilft, die es nicht nötig haben. Ähnlich sieht das Katha Pollitt im Guardian: Mit den Armen lässt sich einfach verdammt viel Geld verdienen. Und in der New York Times hält Barbara Ehrenreich fest, wie gewaltvoll und traumatisierend Zwangsräumungen für die Betroffenen sind.

Ed Yong
Winzige Gefährten
Wie Mikroben uns eine umfassende Ansicht vom Leben vermitteln
Antje Kunstmann Verlag, 448 Seiten, 28 Euro



Wer beim Zähneputzen ausspuckt, hat schon Milliarden Bakterien geopfert. Billionen Mikroorganismen bevölkern unseren Körper, warnt der Klappentext. Wer tagelang nichts isst, produziert immer noch hundert Gramm Kot pro Tag, allein aus Bakterien. "Ein extremes Beispiel für die Symbiose zwischen Tieren und Bakterien liefert eine Wurmart der Tiefsee, die auf ein eigenes Verdauungssystem völlig verzichtet und sich stattdessen auf Kolonien von Mikroorganismen verlässt, um an Nährstoffe zu gelangen", entnimmt Susanne Billig diesem Buch. Sie versichert in ihrer Besprechung für Dlf-Kultur glaubhaft: Dieses Buch fesselt, sicher auch indem es befremdet. Dem Autor geht es besonders um die Vielgestaltigkeit und Veränderbarkeit symbiotischer Beziehungen, schreibt Birthe Mühlhoff in der SZ. Der Begriff der Identität werde in diesem Buch allerdings fragwürdig. Und: Symbiose ist immer auch Konflikt.

Natan Sznaider

Gesellschaften in Israel

Eine Einführung in zehn Bildern

Suhrkamp, 318 Seiten, 28 Euro



Noch ein Buch über Identitäten, die nicht ganz mit klar sich klar kommen. Nathan Sznaider beschäftigt sich vor allem mit dem Widerspruch, dass Israel ein "ganz normaler" Staat sein sollte und die Juden aus ihrer Außenseiterrolle befreien wollte - was offenbar zumindest in der Außenwahrnehmung nicht gelang. Für Kevin Zdiara in der taz zeigt Sznaider, dass die israelische Identität gerade aus dem dynamischen Widerspruch zwischen ultratraditionell und hypermodern, religiös und säkular besteht. In zehn "Bildern" von israelischer Gesellschaft und Szenen dieser Gesellschaft lernt auch Harald Welzer in der Zeit viel Überraschendes über die israelische Gesellschaft. Im Übrigen scheint sich das Buch mit seinen vielen Referenzen aus Film, Literatur, Unterhaltung und Alltag auch unterhaltsam zu lesen. Rafael Seligmann hat es für Dlf-Kultur gelesen und lobt die Schonungslosigkeit von Sznaiders Analyse bei gleichzeitig angenehmer Lesbarkeit.

Oliver Wainwright
Inside North Korea
Taschen Verlag, 240 Seiten, 24 Euro



Absurd sind die wenigen Nachrichten, die aus dem abgeschotteten Nordkorea zu uns dringen, umso erstaunlicher ist es, dass Oliver Wainwright, Architektur- und Designkritiker des Guardian, offenbar ganz frei fotografieren durfte, wie uns Marcus Woeller in der Welt verrät. Mit Ausnahme von Baustellen, Militäranlagen und Menschen, die nicht zuvor ihre Genehmigung erteilt hatten, bietet dieser Band denn auch seltene, meist quietschbunte Einblicke: Fasziniert betrachtet Woeller die Aufnahmen von Alltagsgebäuden, Interieurs und politischen Monumenten, staunt über Wainwrights Blick für Details und Materialien und kann nur ungläubig den Kopf schütteln über den Sprungturm in einem Hallenbad, der aussieht, als wäre er "von farbenblinden Außerirdischen für die Augsburger Puppenkiste" entworfen worden. Und dank der ausführlichen Texte, "die halb Historie, halb Alltagsreportage" kann Anne Haeming im Spiegel das Leben in Nordkorea nun sogar nachvollziehen. Bei dezeen.com kann man einige der Fotografien sehen. Und im Guardian stellt Oliver Wainwright das Buch selbst vor.