Außer Atem: Das Berlinale Blog

Einparken kann sie tadellos: Lars von Triers "Nymphomaniac" (Wettbewerb)

Von Elena Meilicke
10.02.2014. Lars von Triers "Nymphomaniac" handelt mindestens so sehr vom Sprechen über den Sex wie vom Sex selbst.


Alle reden über die Sexszenen. Dabei zelebriert Lars von Triers "Nymphomaniac Volume I" das uneigentliche und metaphorische Sprechen über Sex mindestens so sehr wie den eigentlichen und explizit gezeigten Sex.

Ein Tarkovsky-hafter Einstieg, Schwarzbild, man hört ein leichtes Brummen und Tröpfeln; erst nach einer Weile wird etwas sichtbar, die Kamera tastet dunkle Backsteinmauern ab, ein Lüftungsschacht, es regnet, Wasser rinnt eine Häuserwand herunter. Dann, schockartig, setzt ein brachiales Rammstein-Riff ein, und wir sehen eine zierliche Frau reglos in der braunen Gassenschäbigkeit liegen. Schon diese Eingangssequenz beschreibt die Adrenalinkurve eines Bungee-Sprungs (das Ende des Films hat eine ähnliche Qualität), und man kann das beim Zuschauen durchaus genießen. Auch wenn man sich ein wenig wie ein Kaninchen fühlt, das vom Filmemacher zunächst in Sicherheit gewogen und dann – zack – doch erbeutet wird. Dazu später mehr.

"Nymphomaniac Volume I" ist – nach "Antichrist" und "Melancholia" – als dritter Teil von Lars von Triers "Depressions-Trilogie" angelegt, und genau wie "Antichrist" führt der Film die Variation, vielleicht auch Perversion, eines therapeutischen Settings vor: ein Mann, eine Frau, und ihre Krankheit. Während jedoch in "Antichrist" die Gewalt und Bevormundung dieser Konstellation in den Vordergrund trat, hat man es hier mit einer Art wohlwollender Beichte zu tun. Ein freundlicher älterer Mann (Stellan Skarsgard) liest Joe (Charlotte Gainsbourg) aus der Gasse auf, bringt sie ins Bett, kocht ihr Tee und hört sich ihre Geschichte an – die Lebensgeschichte einer Nymphomanin. Keine eigentliche Beichte, sondern nur eine Art Beichte ist das, mit einem Beichtvater, den der Film mit einiger Umständlichkeit als jüdisch einführt (er heißt Seligman und bietet Rugelach zum Tee); ein jüdischer "Beichtvater" also, der dem christlichen Konzept der Sünde und wohl auch der christlichen Sexualmoral ablehnend gegenübersteht, und der unablässig darum bemüht ist, Joes Selbtsanklage – ich bin ein schlechter Mensche, was ich tue, ist moralisch verwerflich – abzumildern.

Offensiv betreibt der Film also Joes Entschuldung und benimmt sich dabei fast aufreizend politisch korrekt und un-sexistisch. Ok, die ganze Episode darum, wie Teenagerin Joe rote Lackleder-Hotpants anzieht und mit der besten Freundin darum wettet, welche von ihnen mehr Sex mit fremden Männern auf Zugtoiletten haben kann, mag wie eine Männerphantasie wirken. Ansonsten aber bemüht sich "Nymphomaniac Volume I" eifrig (übereifrig? wohlfeil? eine Unsicherheit bleibt, wer will schon Kaninchen sein) um die Umkehrung von Geschlechterstereotypen: da werden Männer zu Sexobjekten, die im Stil der frühen Chronofotografie nackt vor schwarzen Hintergründen entlanglaufen müssen. Joe selbst wird als überaus männlich-analytischer Geist eingeführt: vom ersten Sex bleiben ihr vor allem die Zahlen 3 und 5 in Erinnerung, und einparken kann sie tadellos.

Joes Einpark-Künste verdeutlicht der Film durch die Eintragung einer trigonometrischen Winkelzeichnung auf die Bildoberfläche (der Film hat ein Faible für Mathematik), und an Stellen wie diesen kommt "Nymphomaniac Volume I" durchaus etwas Verschmitzes und Verspieltes zu: für das Finale einer "Depressions-Trilogie" ist der Film erstaunlich heiter geraten. Wenn eindeutig phallisch konnotierte Gegenstände lange, lange durch's Bild baumeln oder eine schnelle Sequenz die schwüle Erotik von Schulmädchenpornos anzitiert, dann hat das seinen Witz.



Ich teile deshalb auch nicht jene Lesarten, die den Film zum Stück Gegenwartsdiagnostik vereindeutigen wollen und ihn als bittere Kulturkritik an einer sexbesessenen und liebesunfähigen Gesellschaft begreifen. So schreibt Thomas Assheuer in der Zeit, der Film sei "ein Exorzismus, die rituelle Austreibung des leeren Sex durch seine pornografische Wiederholung" und handele "von der Ausdifferenzierung der Sexualität, also davon, dass sie sich in der modernen Gesellschaft von religiösen und kulturellen Deutungen abspaltet, bis nur noch die symbolisch 'nackte' Libido übrig bleibt, ein metaphernfreies Begehren, der 'basic instinct'." Abgesehen davon, dass Assheuer einer Entgegensetzung von "leerem Sex" und "nackter Libido" auf der einen und "Liebe" auf der anderen Seite anhängt, die der Film meiner Meinung nach zumindest hinterfragt (Joes einzige "Liebe" zu einem Mann namens Jerome ist eine gänzlich absurde Angelegenheit), abgesehen davon also ist der Sex in "Nymphomaniac Volume I, Vol. 1" eines ganz bestimmt nicht: metaphernlos.

Stattdessen labt sich der Film geradezu wolllüstig und bis zum Exzess an einem ganzen Gewölk von Metaphern, er suhlt sich in einer Flut von Metaphern. Alle Gespräche zwischen Seligman und Joe sind nichts als der Versuch, immer weitere und elaboriertere Analogien und Vergleiche zu ziehen, um dem Sex auf die Spur zu kommen; dafür herhalten müssen das Fliegenfischen (feine Köder, fette Beute), das Fliegen (Hubschrauber, Segelflugzeuge), und nicht zuletzt die Musik – der ganze letzte Teil des Films ist der durchaus eindrückliche Versuch, Joes nymphomanisches Verhalten mit der Polyphonie eines Johann Sebastian Bach in Bezug zu setzen. Letztlich aber geht es gar nicht um die Metaphern im einzelnen – die Jäger-Beute-Vergleiche sind weder neu noch originell. Vielmehr scheint es in "Nymphomaniac Volume I" – trotz und gegen die eigenen ultra-expliziten Bilder – auch darum zu gehen, dass das Sprechen über Sex, Liebe und Begehren zwangsläufig ein Sprechen in Metaphern ist, dass es nichts anderes als ein Sprechen in Metaphern sein kann, dass das Begehren etwas ist, dem man sich letztlich nur über Umwege und "uneigentliches" Sprechen nähern kann.

Elena Meilicke

Nymphomaniac Volume I (long version). Regie: Lars von Trier. Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgård, Stacy Martin, Shia LaBeouf. Dänemark / Deutschland / Frankreich / Belgien / Schweden 2013, 145 Minuten (Wettbewerb, alle Vorführtermine)