Außer Atem: Das Berlinale Blog

Dispersion von Sinn: Fruit Chans 'The Midnight After' (Panorama)

Von Lukas Foerster
09.02.2014. Am Ende eines Tunnels lauert eine Welt ohne Menschen: Fruit Chans grandiose Doomsday-Vision "The Midnight After" im  Panorama
Zwei grandiose Doomsday-Visionen präsentiert das asiatische Kino dieses Jahr auf der Berlinale; in beiden ist das Medium des Weltuntergangs ein Verkehrsmittel. Freilich durchdringen diese Medien die jeweiligen Filme unterschiedlich stark. Bong Joon-hos "Snowpiercer" spielt von Anfang bis (fast zum) Ende in einem Zug, der die letzten Überlebenden nach der Katastrophe beherbergt; Fruit Chans "The Midnight After" nimmt mit einer Busfahrt, die noch in der wuseligen, bunten Gegenwart Hongkongs beginnt, lediglich seinen Anfang: Nach einer Tunnelausfahrt sind der Fahrer (Lam Suet, seit Jahren der gute Geist der Hongkongkinos) und seine 16 Passagiere erst nur leicht irritiert über die plötzlich merkwürdig freien Straßen. Schnell stellen sie fest, dass tatsächlich gar keine Autos mehr unterwegs sind, dass sich auch keine Passanten auf den Bürgersteigen befinden, dass noch nicht einmal Leichen oder anderweitige Zerstörungen auf ein plötzlich über die Stadt hereingebrochenes Unheil hinweisen.



Bald steigen die Passagiere aus dem Bus aus, erkunden die eigentlich bekannte, nur um menschliches Leben dezimierte Welt, stoßen bald doch auf weitere Unstimmigkeiten (Männer mit Gasmasken, Feuerhaarfrauen), nisten sich in einem Diner ein. Den Vergleich mit "Snowpiercer" könnte man noch etwas konkretisieren: Wo der Koreaner Bong das Science-Fiction-Kino mithilfe des Zuges in selten gesehener Konsequenz durchtotalisiert und (hochproduktiv) verschließt (die ganze Welt eine Verschwörung, die auf alles, selbst auf Gliedmaße, übergreift), fährt Chans Bus in eine Zukunftswelt, die nach allen Richtungen hin offen ist: Die Katastrophe führt nicht zur Konzentration, sondern zur Dispersion von Sinn. Wenn die Routinen des Alltags nichts mehr gelten, verlieren Biografien, Orte, Popkultur ihren Halt, was zunächst zwar nur Verwirrung und Abwehrmechanismen auslöst, bald aber auch neue Anschlussmöglichkeiten schafft.

Nach dem konzentrierten Beginn zerstreut sich der Film, er verfolgt die Figuren auf jeweils eigenen Wegen, auch zurück in jeweils eigene Vergangenheiten, löst sich selbst in eine Art Nummernrevue auf. In einer der schönsten dieser Nummern gibt es neue Anschlussmöglichkeiten für David Bowies "Space Oddity". "Ground Control to Major Tom", singt ein zunächst vom Rest der Gruppe ausdauernd verlachter, nerdiger Außenseiter in einer Szene, die das ganze Kitsch- und Pathospotential der asiatischen Populärkultur mobilisiert. Vielleicht antwortet Major Tom sogar. Die intensivste, schon auch die am schwierigsten erträgliche Nummer des Films zeigt dagegen, wie sich eine neue Gemeinschaft erst durch Ausschluss eines (aus guten Gründen) nicht mehr Integrierbaren und anschließend durch einen geteilten Gewaltakt gründet. Dass der Film nicht einfach im kommerziellen Verwertungszusammenhang (auf den er gleichwohl eindeutig zugeschnitten ist) aufgeht, zeigt sich nirgends stärker als in dieser ausführlich ausgespielten und durch keinerlei Zurückhaltung oder Subtilität abgemilderten Hinrichtungssequenz.

Chan lässt die verschiedenen Handlungsstränge, die er anstößt, systematisch ins Leere laufen. Weder das große Rätsel des verschwundenen Metropolenlebens, noch die vielen kleineren, die nebenbei aufgemacht werden, erhalten eine Auflösung. Indem er die narrative Schließung, die schon im kreativen Chaos des klassischen Hongkongkinos meist eher pro forma und pflichtschuldig nachgeschoben wurde, ganz wegstreicht, begreift er Popkultur als einen Modus nicht des Geschichtenerzählens, sondern der Welterschließung.

Auch gerade im Kontext der Filmgeschichte Hongkongs ist "The Midnight After" ein komisches Biest. Die lockere Fassung der Geschichte, schon alleine die erst einmal fast schon aberwitzige Idee, einen Film mit 17 mehr oder weniger gleichberechtigten Hauptfiguren zu entwerfen, die abrupten Stimmungsschwankungen, die den Film oftmals von einer Minute zur nächsten in ein ganz anderes generisches Register verschieben, die offensive Albernheit zahlreicher Sequenzen, die Heterogenität auch der Visualität: All das rückt den Film näher an jene zahllosen Horrorkomödien, die die Filmindustrie der Stadt in den 1980er Jahren wie am Fließband produziert hat, als an die Coolness eines Johnnie To. Gleichzeitig ist "The Midnight After" ein eigensinniger, widerständiger Autorenfilm (Chan, hierzulande vor allem für den vergleichsweise slicken Horrorfilm "Dumplings" bekannt, ist schon seit den 1990ern einer der wichtigsten Erneuerer des Hongkong-Films), dem das alles nicht unterläuft auf der Suche nach Attraktionsmaximierung, der viel eher als Versuch zu fassen ist, mit den Mitteln des besonders krude Populären moderne Urbanität neu zu erzählen. Und ein Selbstbild des Hongkongs der Gegenwart zu entwerfen.

Chans Film legt nicht nur Spuren bis ins All, sondern auch nach Nordkorea; gleichzeitig zeichnet sich der Film durch die gesteigerte Aufmerksamkeit aus, die er der entleerten Stadt entgegen bringt, auch den Differenzierungen innerhalb der Stadt, den Charakteristiken einzelner Viertel, der kruden Schönheit ihrer durch Hyperkommerzialisierung verunstalteten Straßenzügen. Es liegt außerdem insgesamt nahe, den Film als eine allerdings alles andere als kleingeistig abgezirkelte, ganz im Gegenteil maximal verunreinigte Allegorie auf die Situation der Sonderwirtschaftszone Hongkong nach dem (noch nicht ganz vollständigen) Wiederanschluss an China im Jahr 1997 zu verstehen. Besonders deutlich wird dies in den letzten Szenen, die die Gruppe (oder was von ihr übrig ist) zwar wieder in einem Bus zusammen bringt und auf eine gemeinsame Reise schickt, die dabei aber besonders prägnante Bilder für die vorher schon allgegenwärtige Unsicherheit findet.

Lukas Foerster

The Midnight After. Regie: Fruit Chan. Darsteller: Wong You-nam, Simon Yam, Kara Hui, Janice Man, Lam Suet. Hongkong 2014, 124 Minuten. Alle Vorführtermine finden Sie hier.