9punkt - Die Debattenrundschau

Verwandlung von Fremdem in Eigenes

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.06.2018. Die SZ geißelt den neuen Krieg der Bilder, für den Kinder in Käfige und Flüchtlinge auf See gehalten werden. Identität ist nicht, was man ist, sondern was man wird, meint Barbara Vinken in der NZZ. Slate.fr staunt über die Popularität Erdogans bei jungen Franzosen maghrebinischer Herkunft. In der taz wünscht sich Liane Bednarz eine Diskussion darüber, was konservativ und was rechts ist. Netzpolitik fordert eine digitale Bildung mit Open Source.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.06.2018 finden Sie hier

Europa

Susanna Petrin porträtiert in der NZZ den deutsch-türkischen Schriftsteller Dogan Akhanli, der im vorigen Jahr auf Betreiben der türkischen Justiz in Spanien festgesetzt wurde. Unfassbar wie sanftmütig der Mann sei, schreibt Petrin, dabei hat ihn die Türkei bereits dreimal ins Gefängnis gesteckt, das erste Mal 1975: "In Istanbul kaufte er an einem Kiosk eine linke, jedoch erlaubte Zeitschrift. Ein auf irgendein Opfer lauernder Polizist verhaftete ihn auf der Stelle. Akhanli wurde gefoltert und für drei Monate eingesperrt. 'Dass dieser Staat ein Unrechtsstaat war, dafür brauchte ich nun keine weiteren Beweise.' Im Gefängnis fütterten ihn ein paar intellektuelle politische Mithäftlinge mit Schriften von Hegel, Kant und Marx. Als unschuldiger Junge sei er ins Gefängnis geraten, erzählt Akhanli, als politischer Kämpfer wieder herausgekommen. 'Da hat der Staat einen Fehler gemacht.'"

Tayyip Erdogan hat eine erstaunlich große Popularität bei jungen Franzosen maghrebinischer Herkunft, schreibt
Ariane Bonzon in slate.fr und befragt den Soziologen Saïd Bouamama: "Viele Jugendliche aus den Vorstädten machen Pauschalurlaub in der Türkei. Sie entdecken eine Konsumgesellschaft à la française, die sie zu schätzen wissen, und können gleichzeitig den Islam leben, ohne ständig das Gefühl zu haben, sich entscheiden zu müssen. 'Bei vielen jungen Franzosen und Maghrebinern herrscht das Gefühl, dass sie aufhören sollen, Muslime zu sein, um Franzose zu sein, so dass die Türkei als ein Modell erscheint, bei dem Staatsbürgerschaft und Glaube miteinander vereinbar sind", bestätigt Saïd Bouamama."
Archiv: Europa

Politik

Als sein Buch "Saras Stunde" erschien, konnte es in der arabischen Welt nicht erscheinen, erzählt Nadjem Wali. Zu revolutionär erschien die Idee einer "Intifada der Frauen". Nun ist sie da, freut sich Wali. Frauen in Saudi-Arabien gehen ins Gefängnis für ihre Freiheit und unterschreiben zu Tausenden Petitionen für politische Reformen, die auch Bloggern wie Raif Badawi zugute kommen sollten: "Die Verhaftungen der Frauen bestätigten nicht nur meine Zweifel an den Versprechungen des saudischen Kronprinzen, sie bestätigten, was ich schon immer geglaubt und in 'Saras Stunde' darzustellen versucht habe: Wenn in Saudi-Arabien eine Veränderung kommen wird, dann von Seiten der Frauen."

Außerdem: In der SZ porträtiert Matthias Kolb die amerikanische Grünen-Politikerin Jill Stein.
Archiv: Politik

Ideen

"Identität ist nichts, was wir haben oder sind, sondern, was wir werden, indem wir tun", wirft zur Debatte auch die Romanistin Barbara Vinken in der NZZ ein und erinnert mit Rimbaud und Freud daran, dass das moderne Subjekt nie mit sich identisch war: "Ich ist ein anderer." Wo Es war, soll Ich werden. Selbstsein war nie das Prinzip unserer Kulturen, meint Vinken, sondern das Selbstwerden: "Der große Racine suchte nicht als Originalgenie aus sich selbst zu schöpfen, sondern vollkommen zu werden wie ein anderer, ein Vorgänger wie Euripides, indem er die alten Tragödien neu schrieb. Unsere Kultur hat für diese Verwandlung von Fremdem in Eigenes, für diese Aneignung und Entwendung, welche die Kultur und die Zivilisation ausmacht und sie aufs Unheimlichste bewohnt, viele Figuren." In einem zweiten Artikel zum Thema erklärt Christian Ude, ehemals Oberbürgermeister von München, Identität zur "Wahnidee".

Die Enthauptungsvideos des IS haben die ganze Welt entsetzt. So weit ist der Westen nicht, aber er überschreitet inzwischen zivilisatorische Grenzen, die vor kurzem noch tabu erschienen, meint Gustav Seibt in der SZ mit Blick auf die Bilder von Kindern, die an der amerikanischen Grenze von ihren illlegal eingereisten Eltern getrennt und in Käfige gesteckt werden. Alles für den neuen "Krieg der Bilder": "Die sogenannte Migrationskrise bringt nun eine altneue, schmutzige Form der Abschreckung zurück, die auf Anschaulichkeit beim Publikum der vernetzten Kommunikation abzielt. Außenpolitik nimmt die Form archaischer Kriminalitätsbekämpfung an. Geschichten wie die von den entrissenen Kindern sollen sich viral verbreiten. Denselben Zweck hatte das Drama um das Rettungsschiff Aquarius, mit dem sich der neue italienische Innenminister Matteo Salvini allerdings mindestens ebenso an seine heimische Klientel wandte wie an auswanderungswillige Afrikaner."
Archiv: Ideen

Internet

In der taz sind Anne Fromm und Daniel Bouhs leise erstaunt, wie still alle die Abstimmung über das neue EU-Leistungsschutzrecht abwarten. Die Verlage sollen enormen Druck in Brüssel machen. Auch die taz gibt dem nach und lässt die Grünen-Abgeordnete Helga Trüpel im Interview ohne große Nachfragen für das Leistungsschutzrecht werben. Für Trüpel gibt es in diesem Kampf nur Giganten - Zeitungsverlage hier, Google dort. Der Rest be damned. Künftig sollen also alle professionellen Anbieter - von Google bis zum Perlentaucher - für Links zu Snippets zahlen, damit "Journalisten von ihrer Arbeit leben können. Nur so kann der Qualitätsjournalismus überleben und die publizistische und kulturelle Vielfalt in Europa erhalten bleiben." Das kann sie nicht, denn Debatte ohne Links auf Gegenstandpunkte fördert keine publizistische und kulturelle Vielfalt, sondern das Sicheingraben in Nischen und Filterblasen.

Eike Kühl erklärt bei Zeit online nochmal, worauf es beim Leistungsschutzrecht hinausläuft: "Der Vorschlag besagt also konkret: Verlage könnten von Suchmaschinen, Aggregatoren und sozialen Netzwerken ab der Veröffentlichung eines Beitrages ein Jahr lang Lizenzgebühren verlangen, wenn diese neben einem reinen Link auch noch Teile des Inhalts anzeigen, also etwa die Überschrift oder einen Teaser. Jeder EU-Mitgliedsstaat dürfte allerdings selbst entscheiden, ab welcher Länge ein Auszug lizenzpflichtig wäre und wann er frei verwendet werden könnte." Tschüs, Perlentaucher.
Archiv: Internet

Religion

Im taz-Interview über ihr Buch "Die Angstprediger" erklärt Liane Bednarz, warum ein gewisser Prozentsatz sehr frommer, konservativer Christen politisch die Linie nach rechts überschritten hat. Das liege einerseits an der Modernisierung der CDU, aber es "kommt auch daher, dass in der Bundesrepublik nie ausdiskutiert wurde, was konservativ und was rechts ist. Viele Konservative merken gar nicht, wenn sie rechte Thesen und Ressentiments übernehmen. ... Konservative glauben an die westliche Gesellschaftsordnung, stehen für Pluralismus und denken liberal und nicht in ethnokulturellen Kategorien. Letzteres bedeutet etwa, dass eine Law-&-Order- Haltung so lange konservativ ist, wie sie sich nicht gegen 'Fremde' richtet. Rechtes Denken hingegen ist illiberal, antipluralistisch und oft völkisch. Es ist kulturpessimistisch und bedient sich einer Verfallsrhetorik, die sich auch im christlichen Bereich findet, wo die Gesellschaft als übersexualisiert, verkommen und dekadent wahrgenommen wird. Das hat etwas Politreligiöses, das sehen wir gerade in Ungarn und Polen."
Archiv: Religion

Gesellschaft

In NRW leben mehr Menschen von Hartz IV als in allen fünf ostdeutschen Ländern zusammen. "Vielleicht lohnt es sich dann doch, sich ergänzend zu den Identitätskonstruktionen mit den Klassenverhältnissen im Land zu beschäftigen", meint leicht spöttisch Eberhard Seidel in der taz angesichts des Vorschlags, Ostdeutsche und Migranten gemeinsam als Opfer der Wessis einzutüten. Zumal sie auch sonst schlecht zusammenpassen: "Wer, wie der Autor dieser Zeilen, nicht nur die Wende, sondern auch den ganz normalen Alltagsrassismus und die entfesselte rassistische und völkische Straßengewalt im Ostdeutschland der neunziger Jahre miterlebte, der darf schon mal mit Anetta Kahane fragen: 'Ist bald jeder Opfer?' Zeitzeugen der Wendejahre wissen: Für den Rassismus der Ostdeutschen brauchte es nicht das Herrschaftsgebaren der Westdeutschen, das haben sie von ganz allein hinbekommen."

Verschwörungstheorien überall, bei der AfD sowieso, aber auch bei Linken wie Jakob Augstein oder Sahra Wagenknecht, die neulich in der Zeit die Flüchtlinge als Trojanisches Pferd des Neoliberalismus darstellte. Felix Dachsel ist in in Zeit online bestürzt: "Das Problem ist dabei nicht, dass Wagenknecht konkurrierende Interessen am unteren Ende der Gesellschaft anspricht. Nein, das ist okay. Das Problem ist, dass Wagenknecht insinuiert, es gebe einen Profiteur der Flüchtlingskrise, den viel gescholtenen 'Neoliberalismus'. Oder sogar einen Plan hinter der Krise."

Vor einem Jahr hat der Rechtschreibrat die Einführung des ß als Großbuchstabe beschlossen. Richtig durchgesetzt hat es sich noch nicht, schreibt Kai Gräf in der FAZ. Aber das ändert sich vielleicht mit den neuen Scrabble-Spielen, die es jetzt als eigenen Stein präsentieren. Der Typograf Friedrich Forssman mag das große ß dennoch nicht, wie er Gräf erklärt: "Als Typograph müsse er der 'Hüter des Lesevorgangs' sein, der Irritationen zu vermeiden sucht, um 'tiefes Lesen' zu ermöglichen, ein Versenken in den Inhalt, bei dem alle bewusste Formwahrnehmung in den Hintergrund tritt. Hier aber sei das große ß ein Lesehindernis."

Die Bildungswissenschaftler Nele Hirsch und Markus Neuschäfer fordern bei Netzpolitik eine digitale Bildung an den Schulen, die auf der Idee von Open Source basiert und kritisieren den Status quo: "Dort wo Technik an Schulen Einzug hält, sind Lehrende und Lernende häufig fremdbestimmt. Sie erhalten beispielsweise Tablets mit vorinstallierten Apps oder Smartboards, mit denen erst einmal niemand etwas anfangen kann. Diese Entwicklung ist die logische Folge fehlender Kompetenzen. Eine eigene Gestaltung wird sich nicht zugetraut. Konzerne und Lobbyisten haben in dieser Situation ein leichtes Spiel. Denn man greift dann lieber zu den vermeintlich einfachen, mindestens aber 'fertig' gelieferten Produkten. Unser Leitbild lautet dagegen digitale Souveränität."
Archiv: Gesellschaft