9punkt - Die Debattenrundschau

In feinem grauen Leinen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2017. Alle haben eine Meinung zu Köln. Aber wie wär's, wenn man erstmal recherchierte, was überhaupt vorgefallen ist?, fragt Christoph Kappes im Freitag. Apple schaltet die New York Times-App in China ab. Kann es daran liegen, dass die Zeitung zu den Milliardensubventionen recherchiert hat, von denen der Konzern in China profitiert? Bei dpa lässt ARD-Vorsitzende Karola Wille offen, ob sie die Erhöhung der Renten in ihrem Laden begrenzen kann. Der Tagesspiegel erzählt das Drama um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig in fünf Akten. In der SZ zerreißt Jeremy Adler die kritische Ausgabe von "Mein Kampf".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.01.2017 finden Sie hier

Europa

In fünf Akten erzählt Christoph von Marschall im Tagesspiegel das Drama um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig, das vom Kaczynski-Regime und seinem Kulturminister Piotr Glinski nach Kräften bekämpft wird. Die andere Hauptfigur des Dramas ist der designierte Museumsleiter Pawel Machcewicz, der sich wehrt:  "Der fünfte Akt, der sich nun entfaltet, ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Machcewicz versucht, die Einrichtung der Ausstellung möglichst rasch abzuschließen und das Museum zu eröffnen, und sei es nur provisorisch. Wenn ihm das gelingt, ehe Glinski ihn auf legalem oder illegalem Weg abberuft, hat er eine bessere juristische Ausgangsposition in dem wohl unvermeidbar folgenden Urheberrechtsstreit um das Ausstellungskonzept."

Mit Schrecken notiert Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne, dass die Türkei sich noch nach dem Anschlag in Istanbul als eine gespaltene und aggressive Gesellschaft entpuppte: "Es dauerte nicht lange, und die sozialen Medien in der Türkei wurden überflutet von Nachrichten, die dem Anschlag, zu dem sich mittlerweile der IS bekannt hat, applaudierten. Der Tenor der Postings lautete: Wer in einem islamischen Land wie Christen feiere und dabei auch noch Alkohol trinke, habe den Tod verdient. Sicherlich, keiner der Leute, die sich derart auf Twitter oder Facebook geäußert haben, hat einen der 39 Menschen umgebracht. Doch es ist entsetzlich, dass in der Türkei mittlerweile ein Klima herrscht, in dem ein solcher Anschlag gutgeheißen wird."

Die jüngsten Terroranschläge zeigen, wie schlecht Europa noch auf den islamistischen Terror vorbereitet ist, meint im Interview mit der Zeit der französische Islamexperte Gilles Kepel. "Um der Herausforderung begegnen zu können, müssen wir uns klarmachen: Das Ziel des islamistischen Terrors ist es, die europäischen Gesellschaften zu spalten. Vor dieser fracture warne ich in meinem jüngsten Buch. Gegenwärtig entstehen durch die Anschläge zwei Gruppierungen, die die Desintegration im Zeichen der Islamophobie vorantreiben. Die rechten fremdenfeindlichen Identitären definieren ihr Land im engen ethnischen Sinne durch Ausgrenzung; und auf der anderen Seite formieren sich muslimische Gruppen über ihre religiöse Besonderheit und über ihren Ausschluss von gleichen Bürgerrechten und -chancen. Die Terroristen führen diesen Bruch absichtlich herbei, um die extreme Rechte zu stärken und den Bürgerkrieg in die Demokratien zu tragen."
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Geschichte

Nicht ein gutes Haar lässt der Historiker Jeremy Adler in der SZ an der "kritischen" Ausgabe von "Mein Kampf", die vor einem Jahr erschienen ist. Er will sie weder als kritische noch als bloß kommentierte Ausgabe gelten lassen und findet falsche Akzente bis ins Detail: "Die luxuriöse Aufmachung wirkt ebenso fragwürdig. Ein Historiker bezeichnete sie als 'skandalös', weil sie dem Text eine neue 'Aura' verleiht. Einer kuriosen Entscheidung zufolge hat man das Buch in feinem grauen Leinen gebunden, was an das Feldgrau des deutschen Militärs erinnert, und noch dazu mit braunen Lettern versehen, der Kennfarbe der Nazis. Dies beinhaltet eine Ästhetisierung des Faschismus, wie seinerzeit von Leni Riefenstahl und Albert Speer gehandhabt, und vor der Walter Benjamin so eindringlich gewarnt hat."
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Internet

Friedhelm Greis fürchtet auf golem.de, dass deutsche Politiker nach dem Wahlsieg Donald Trumps nur noch mit Panik auf das Internet reagieren. "Denn wie ist es sonst zu erklären, dass Union und SPD gemeinsam ein Gesetz durchbringen wollen, das Anbieter Sozialer Netzwerke zum Wächter über Lüge und Wahrheit im Netz machen soll? Eine absurde Vorstellung. Wie soll eine Rechtsschutzstelle von Facebook oder Twitter innerhalb weniger Stunden entscheiden, ob die Exklusiv-Meldung einer Zeitung der Wahrheit entspricht oder sich am Ende als 'Ente' herausstellt?"

Das Schlagwort von der "dritten Kultur" wurde von Frank Schirrmacher vor gut 15 Jahren populär gemacht. John Brockman, der diese Idee der Fusion von "Humanities" und avancierter Naturwissenschaft auf edge.org verficht, bringt in seinem Magazin auch dieses Jahr wieder eine Jahresumfrage, diesmal zum Thema: "Welche wissenschaftlichen Begriffe oder Ideen sollten breiter bekannt sein?" Die NZZ übernimmt einige der Antworten (leider ohne eigenen Link für das Dossier, hier nach unten scrollen). Hier René Scheus Editorial. Hier die Antwort von Ian McEwan, der über die  Navier-Stokes-Gleichungen schreibt.
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Medien

(Via Meedia) Apple hat auf Wunsch der chinesischen Regierung die App der New York Times in seinen Angeboten für das Land abgeschaltet (während Financial Times und Wall Street Journal bleiben dürfen), berichten  Katie Benner und Sui-Lee Wee in der Times. Apple verteidigt sich damit, dass man die Gesetze aller Länder respektiere, in denen man operiere. Eine kleine Erläuterung der Times-Autorinnen mag dennoch hilfreich sein: "In den Wochen vor der Abschaltung der Times-Apps hatte die Times an verschiedenen Artikeln über die chinesische Regierung gearbeitet. Einer von ihnen, der am 29. Dezember gepostet worden war, zeigte, dass die chinesische Regierung die größte Iphone-Fabrik mit Vergünstigungen und Subventionen in Milliardenhöhe bedenkt. China ist auch einer der größten Iphone-Märlte, obwohl die Verkäufe in der Region zuletzt stagnierten."

Interviews mit Intendanten öffentlich-rechtlicher Sender lesen sich immer wie Verlautbarungen aus einem bürokratischen Labyrinth. In einem bei Meedia veröffentlichten Gespräch mit einem dpa-Reporter, der leider nicht genauer nachfragt, äußert sich die ARD-Vorsitzende Karola Wille auch über das Problem der Anstalten mit den Kosten der überbetrieblichen Altersversorgung. Sehr konkret wird sie nicht: "Zum Ende des Jahres haben alle ARD-Anstalten ihre alten Versorgungstarifverträge gekündigt, weil wir das neue - beim MDR bereits eingeführte - Versorgungsmodell mit den Gewerkschaften aufsetzen wollen. Offen ist noch, wie wir die Erhöhung der Renten auf ein wirtschaftlich sinnvolles Maß begrenzen."

Der Twitter-Gründer Ev Williams hat auch das Blog-Netzwerk Medium.com gegründet, wo er gerade ein Drittel des Personals entlässt - fünfzig Angestellte, berichtet unter anderem Kurt Wagner auf recode.net. Williams begründet seinen Schritt in einem Blogpost, in dem er konstatiert, dass sich mit Werbung kein Internetmedium fiananzieren lässt: "Auf diesem Weg fortzufahren - selbst wenn wir erfolgreich wären - hieße, dass wir nur noch das Auslaufmodell eines zerbrochenen Systems wären." Eine Alternative dazu hat er aber auch noch nicht gefunden.
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Gesellschaft

Silvester in Köln wirft immer noch Fragen auf. Zum Beispiel die, warum so viele Nordafrikaner an diesem Tag trotz der Ankündigung massiver Polizeikontrollen nach Köln gereist sind - zum Teil laut Polizei sogar aus der Schweiz und Frankreich. Noch weiß man es nicht, meldet der Tagesspiegel. Da stellt sich Christoph Kappes im Freitag die Frage, warum die Journalisten den Polizeieinsatz in Köln zwar pausenlos kommentieren, aber kaum recherchiert haben, was genau denn nun eigentlich los war: "Warum aber berichten Massenmedien ganz überwiegend nur 'mit Material von dpa', und warum ist fast nichts außer Koloratur über den Abend vor Ort bekannt? Es wäre ein Leichtes gewesen, durch Nachfragen und Interviews für die Öffentlichkeit zu recherchieren, welche Geschichte die Nordafrikaner erzählen, und sich ein Bild von den Gruppen zu machen. Woher kommen sie? Waren sie schon im Vorjahr da? Wie haben sie sich verabredet? Was führt sie an den Ort? Wie wirken sie? Was ist ihre Intention? Und wie nahmen andere die Situation wahr, etwa Frauen?"

Ausgerechnet in der Arbeiterstadt Bitterfeld ist die AfD stärkste Partei. Warum das so ist, erzählt Caterina Lobenstein, die Bitterfeld für die Zeit besucht hat. Hier lernt sie Diana Riemann kennen, die für einen Lohn, der knapp über dem Existenzminimum liegt, für die Firma Soex Altkleider sortiert. Ausländer nennt sie "Viehzeug" und glaubt, sie würden von Soex wie vom Sozialamt bevorzugt behandelt:"Sie habe einen Beruf gelernt, sei stets flexibel gewesen, sagt sie, sie habe sich angestrengt. Doch sie bekommt dafür keinen Wohlstand und keine Sicherheit. ... Jetzt, da Merkel die Flüchtlinge 'eingeladen' hat, so formuliert es Riemann, fühlt sie sich doppelt betrogen. Sie sagt, sie habe Angst, dass sie ihre Arbeit verliert - und dann mit noch mehr schlecht ausgebildeten Menschen um die verbliebenen Jobs konkurriert." Man erfährt in diesem Artikel übrigens auch, dass Bayer trotz eines Rekord-Betriebsgewinns von 10,2 Milliarden Euro 2015 für seinen Ableger in Bitterfeld kaum Gewerbesteuer zahlt.

Der Wirtschaft in der westlichen Welt geht's prächtig - trotz Trump, Brexit und Rechtspopulismus. Das ist mindestens so absurd, lernt Zeit-Redakteur Uwe Jean Heuser vom Yale-Ökonomen Robert Shiller, wie die Hoffnung der "zornigen Massen", ein Superkapitalist wie Trump werde ihnen helfen: "Schon in der Euro-Krise war es merkwürdig zu sehen, dass die Bürger in Krisenländern wie Italien oder Griechenland kaum ihren reichen, oft steuerflüchtigen Eliten ans Portemonnaie wollten, sondern ihren Zorn lieber gegen das böse Ausland richteten. Shiller hält das für ein allgemeines Phänomen. Und diverse historische Studien geben ihm recht. In Krisenphasen wollen die enttäuschten Bürger keine Almosen von oben, sie wollen wieder Hoffnung haben, dass sie selbst ihr Leben gestalten und aus eigener Kraft zu neuem Wohlstand kommen können. Dazu lassen sie sich auch auf Verspechen ein, die sich auf lange Sicht gar nicht realisieren lassen."
Archiv: Gesellschaft