9punkt - Die Debattenrundschau

Die Berliner Nicht-Berliner

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2016. Erstaunlich still ist Michael Müller im Berliner Wahlkampf beim Thema Kultur, wundert sich die taz. Liegt's daran, dass er nur noch "Eventkultur" will?  Bei der Sitzung der VG Wort ging es turbulent zu - und eine zweite Sitzung wird wohl von Nöten sein - die Medien machen in diesem Spiel einen klaren Bösen aus.  Die NZZ  fürchtet mit Blick auf die Türkei: Das demokratische Dilemma lässt sich nicht auflösen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.09.2016 finden Sie hier

Kulturpolitik

Erstaunlich still ist der Regierende Bürgermeister und SPD-Spitzenkandidat im Berliner Wahlkampf Michael Müller, wenn es um Kultur geht. Dabei ist das ein so zentraler Bereich für die Stadt, schreibt Rolf Lautenschläger in der taz, der fürchtet, dass Müller und sein Kulturstaatssekretär Tim Renner lieber Hinterzimmerpolitik machen: "Am Beispiel Volksbühne lässt sich nachzeichnen, was beide eigentlich mit der Berliner Kultur im Sinn haben. Chris Dercon, Chef der Londoner Tate Modern, soll aus dem Noch-Castorf-Haus ein mehrspartiges, internationales Bühnen-Kunst-Event-Produkt mit Theater, Tanz, Musik, Performances machen - einen 'Eventschuppen', wie Claus Peymann polterte. Ähnliches hat Paul Spies, neuer Intendant für den Berlin-Teil im Humboldt-Forum, für den Ausstellungssektor dort vor. Und das BE führt ab 2017 Oliver Reese, bekannt für publikumswirksame Produktionen."

Hätten die Briten gewusst, dass sie eine Chance gehabt hätten, Martin Roth als Chef des Victoria and Albert-Museums zu behalten - sie hätten gewiss nicht für den Brexit gestimmt. Zu seinen Beweggründen sagt er nun erstmals exklusiv dem herbeigeeilten SZ-Reporter Alexander Menden: "Es ist eher eine Gemengelage. Aber wenn das Referendum anders ausgegangen wäre, wenn es ein überwältigendes Bekenntnis zu Europa geworden wäre, wage ich zu behaupten: Ich wäre mindestens noch ein Jahr geblieben. Nach der Brexit-Entscheidung dachte ich, das kann alles nicht wahr sein, das geht so gegen meine Art, zu denken."
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Europa

Der Historiker Robert Tombs, offenbar ein Anhänger des Brexit, hat eine große Geschichte Englands vorgelegt. Im Gespräch mit Hansjörg Müller von der Basler Zeitung antwortet er auf die Frage, was das Vereinigte Königreich wieder zusammen bringen könne: "Meine Antwort mag Sie überraschen: vielleicht ja der Brexit. Wenn er zum Desaster wird, könnte das den schottischen Nationalisten helfen. Wenn er aber zum Erfolg wird, könnte das genaue Gegenteil der Fall sein. Teil des Vereinigten Königreichs zu sein, wird dann wesentlich attraktiver erscheinen als eine Mitgliedschaft in der EU. Es hängt also viel von Theresa May und Boris Johnson ab."

Frauke Petry sorgt für einen Aufreger: Sie möchte das Wort "völkisch" wieder positiv besetzen, sagt sie im Gespräch mit der Welt am Sonntag (mehr hier). Kai Biermann weist in Zeit online mithilfe des Ngram Viewer von Google nach, dass der Begriff "völkisch" eindeutig ein Nazibegriff war: "Für die Suche nach 'völkisch' ergibt sich ein eindeutiges Bild: Der Ausdruck taucht zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf, ab 1930 explodiert seine Verwendung geradezu. Bis 1945. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geht die Zahl der Nennungen wieder auf das ursprüngliche Niveau zurück. Er ist also offensichtlich typisch für eine ganz bestimmte Zeit."

Joshua Simons erzählt im Guardian, warum er sich als Politik-Berater Jeremy Corbyns zurückgezogen hat - er konnte den Antisemitismus bei Labour nicht mehr länger ertragen: "Im modernen Britannien gilt das Wort, dass Intellektuelle sich des Antisemitismus schämten, nicht mehr. In den Augen des linken Flügels liefert die israelische Besetzungspolitik - für manche schon die schiere Existenz Israels - eine moralische Basis für die Ablehnung von Juden in Israel oder Juden überhaupt. Antisemitismus in der britischen Linken bezieht sich auch auf den Kapitalismus im allgemeinen. Das übliche Bild sieht den Juden als Wucherer, als Bankier und Finanzmann und sogar als archetypischen Neoliberalen."

Einen Abgesang auf die Berlin- (vor allem West-Berlin-)Romantik der Sechziger bis Achtziger, von deren Ruhm die Stadt noch heute zehrt, schreibt Heinz Bude in der FAZ. Ohne die "Berliner Nicht-Berliner" hätte es aber nicht funktioniert: "Als natürliche Ethnologen des Inlands haben sie Dinge gesehen, für die die Einheimischen gar keinen Blick hatten. Verlassene Orte, wackelige Schönheiten, durchpoetisierte Hinterhöfe, vom Krieg zeugende Einschusslöcher und die rätselhafte Unüberwindbarkeit einer Demarkationslinie, die sich wie eine Spur des Schmerzes durch die Stadt zieht."

Die SZ druckt einen Vortrag Karl Schlögels, gehalten auf dem "Körber History Forum": "In Europa herrscht wieder Krieg, unerklärter, aber einer, der Millionen in die Flucht getrieben hat, mit Tausenden von Toten und Verwundeten. Es geht um die Souveränität eines europäischen Staates und die Unabhängigkeit der ukrainischen Nation, die destabilisiert und in die Knie gezwungen werden soll. "
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Gesellschaft

In der Welt erzählt Eva Quistorp von Modina, einem vierjährigen Mädchen aus Afghanistan, das Quistorp hier unter ihre Fittiche genommen hat: "Im Laufe unserer Beziehung hat ihr Wortschatz einen enormen Sprung getan. Manchmal überrascht sie mich mit einem neuen Wort, einem, das ich ihr vielleicht vor Wochen klar und langsam vorgesagt habe. Doch es gibt immer wieder Rückfälle mit der, die, das und der Grammatik, da sie mit dem Vater Farsi spricht, im Heim Kauderwelsch und in der Kita die Ellbogensprache: 'Mach das, lass das, geh weg, ich will das nicht, ich sag das meinem Vater.' Für mich macht sie nun Slam-Poetry: 'Lola bellt, das Schaf schläft, es donnert, der Blitz kommt und dann ein Regenbogen.'"

Außerdem: Dieter Thomä liefert in der NZZ eine kleine Phänomenologie des Störenfrieds.
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Ideen

Der Beifall des Westens für das Misslingen, in der Türkei eine Regierung zu entmachten, die selbst antidemokratisch ist, offenbart ein tiefes Dilemma des Rechtsstaats, meint in der NZZ Maximilian Zech: "Denn Demokratie, das ist vor allem der durch die Verfassung garantierte Schutz der Freiheit - auch der Freiheit, sich gegen die bestehende politische Ordnung zu wenden. Wo sie nicht gegeben ist, kann von einem demokratischen Rechtsstaat keine Rede sein. Auf der anderen Seite birgt ein Maximum an politischer Freiheit eben auch ein maximales Risiko, sie zu verlieren."
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Stichwörter: Demokratie, Rechtsstaat

Medien

Krautreporter-Chefs Sebastian Esser und Philipp Schwörbel gründen mit Geld der aus  Digital News Initiative von Google ein neues Start Up, das Journalisten ein Crowdfunding für ihre Inhalte ermöglichen soll, berichtet Jens Twiehaus bei turi2:  "Publizisten stellen ihre Projekte vor und bitten um Unterstützung. Auf ihren eigenen Seiten können sie ein Steady-Feld einbinden, sodass Leser das Blog nicht verlassen müssen, um zu bezahlen. Crowdfunding-Fachmann Esser schätzt, dass 5 Prozent treue Leser zu zahlenden Nutzern konvertiert werden können. Als künftige Kunden will Steady nicht nur schreibende Journalisten, sondern zum Beispiel auch YouTuber gewinnen."
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Urheberrecht

Anna Franzke berichtet in der taz von der außerdentlichen Versammlung der VG Wort am Samstag: "Der große Showdown, wie ihn die FAZ und andere in der vergangenen Woche prophezeit hatten, blieb aus. Die Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) steht nicht vor einer Zerschlagung. So viel steht nach der außerordentlichen Mitgliederversammlung am Samstag fest. Und doch - es hat geknirscht im Gebälk." Grund ist, dass der Vorstand einen neuen, an sich verbesserten Antrag eingebracht hatte, über den ein Teil der Versammelten aber nicht ungeprüft abstimmen wollten."

Stefan Niggemeier schreibt dazu bei uebermedien: "Dass eine kleine, aber zu große Zahl von Journalisten und Sachbuch-Übersetzern diesem Kompromiss dennoch nicht zustimmte, lag vor allem am Verfahren: Sie hatten keine Möglichkeit, sich vorher mit dem neuen Vorschlag auseinanderzusetzen und ihn zum Beispiel von einem eigenen Juristen prüfen zu lassen. Der neuen Fassung merkte man an, wie eilig sie verfasst wurde. Einzelne Formulierungen waren zweifelhaft. "

Für Detlef Esslinger von der SZ war ganz klar, wer in diesem Spiel der Böse war: Martin Vogel, der mit seiner Klage gegen die so bewährte Ausschüttungspraxis der VG Wort in vier Instanzen Recht bekam, und die "Freischreiber", die die Rechte freier Journalisten wahrnehmen: "Ihm reichte es nicht, dass der Vorstand der VG Wort den Verlagen nun eine Zahlungsfrist bis 30. November einräumen wollte. Erst recht gefiel ihm nicht, dass der Vorstand für solche Verlage einen Aufschub vorsah, die andernfalls in die Gefahr der Insolvenz geraten würden. Er stellte einen Antrag, die Rückzahlung müsse binnen zwei Wochen erfolgen. 'Verlage, die jetzt nicht zahlen können, obwohl sie wussten, dass sie es müssen, sollen zu den Banken gehen und nicht um Gnade bitten', sagte er. Vogel fand Unterstützung beim Verband 'Freischreiber', einer Vereinigung freier Journalisten. Auch ihnen war der Sieg vor Gericht noch nicht genug."

In der FAZ ist Michael Hanfeld stinksauer über den Verlauf der VG-Wort-Sitzung und sieht nur einen Ausweg aus dem Dilemma, dass nämlich "der Gesetzgeber den Buchverlagen ein Leistungsschutzrecht zuspricht, über das die Presseverlage inzwischen verfügen".
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