Magazinrundschau

Während der Samtstuhl ihre Hosen warmhält

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
21.11.2023. Desk Russie zeichnet nach, wie Putin im Gaza-Krieg den Brandstifter spielt, um den Westen zu schwächen. Im Guardian erklärt der Ethnologe Andrew Kipnis, wie Urbanisierung und politische Repression dazu führen, dass in Chinas Städten der Geisterglaube so verbreitet ist. In Elet es Irodalom schildert der Publizist István Tömpe das Scheitern einer rechten Leitkultur in Ungarn: Das liegt auch daran, dass die Anhänger des Regimes nicht lesen. Wird das Buch wieder ein exklusives Mittel sozialer Abgrenzung, fragt Carolin Amlinger im Merkur. Und Eurozine stellt einige Vertreterinnen ukrainischer Exilpoesie vor.  

Desk Russie (Frankreich), 20.11.2023

Der Journalist und Essayist Jean-Francois Bouthors untersucht die Ursprünge der antisemitischen Welle, die seit dem 7. Oktober "die Welt flutet". Wladimir Putin, dem keine Verurteilung des Massakers über die Lippen kam, profitiert sowohl von den grausamen Taten der Hamas als auch von den gespaltenen Reaktionen darauf. Bouthours zeichnet die Geschichte des russischen Engagements für die Sache der Palästinenser nach und zeigt, wie Moskau den Konflikt vor allem instrumentalisierte, um den Westen zu schwächen. Das hat sich bis heute nicht geändert, stellt er fest: "Es scheint als wäre Putin entschlossen, den Brandstifter zu spielen und die Gemüter zu erhitzen. Alles, was die westlichen und insbesondere die europäischen Gesellschaften weiter spaltet, ist ihm recht. Zu diesem Zweck ist ihm jedes Mittel recht, auch die Instrumentalisierung des Antisemitismus und der Emotionen, die er weckt. Soeben wurde bekannt, dass die Davidsterne, die Ende Oktober in Paris und seinen Vororten, in den Departements Hauts-de-Seine und Seine-Saint-Denis mit Schablonen gesprüht wurden, von ausländischen Personen verursacht wurden. Es wurden vier Untersuchungen eingeleitet. Am 27. Oktober wurde ein Paar aus Moldawien festgenommen, und ein weiteres verdächtiges Paar ausländischer Herkunft, dessen Nationalität nicht angegeben wurde, verließ Frankreich überstürzt. Die festgenommenen Personen erklärten, sie hätten im Auftrag eines Russen gehandelt, der sie dafür bezahlt habe. Eine solche Aktion könnte durchaus das Ziel gehabt haben, die Gemüter zu polarisieren. Sie ruft natürlich die Empörung all derer hervor, die von dem Pogrom am 7. Oktober angewidert waren, seien es Juden oder Nichtjuden. Doch während die angekündigte Zahl der Opfer der israelischen Reaktion in Gaza Angst und Schrecken verbreitet - was man verstehen kann, ohne die Verbrechen der Hamas zu billigen -, kann das Auftauchen der Davidsterne an den Wänden an 'sensiblen' Orten (man erinnere sich an die Krawalle, die Anfang des Sommers auf den Tod des jungen Nahel in Nanterre folgten) auch antisemitische Taten unter den Bewohnern von Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an Muslimen, mit Migrationshintergrund und mit natürlichen emotionalen Bindungen zu den Ländern des Südens fördern."
Archiv: Desk Russie

Newlines Magazine (USA), 17.11.2023

Mit aggressiver Propaganda unterlegt das iranische Regime seine Unterstützung für die Hamas und den Kampf gegen Israel, aber in der iranischen Bevölkerung findet sich kaum noch Zustimmung, schreibt der iranische Journalist Kourosh Ziabari: "Gab es zu Beginn der Revolution von 1979 einen echten nationalen Konsens darüber, dass Widerstand gegen die Politik Israels eine moralische und menschliche Verantwortung sei, so wurde diese Verpflichtung durch die Exzesse der Islamischen Republik zunichte gemacht. Für die jüngere Generation ist der Kampf um das besetzte Land lediglich ein rhetorisches Spielzeug der Führung, um ihren Einfluss in der muslimischen Welt zu stärken. Als der im Exil lebende Ayatollah Ruhollah Khomeini das Narrativ der Revolution formulierte, scharte er seine Anhänger erfolgreich um die Idee der Antipathie gegen die Apartheid in Südafrika und die Besetzung der palästinensischen Gebiete durch Israel, weshalb er beiden Ländern nach 1979 die diplomatische Anerkennung verweigerte. Doch was zu Beginn als humanitäres Prinzip vermarktet wurde, verwandelte sich in Fanatismus und wurde für strategische Zwecke als Waffe eingesetzt, verlor aber zunehmend an Glanz. Viele iranische Steuerzahler halten die militanten Cliquen in Gaza sowie andere Teheraner Stellvertreter wie die libanesische Hisbollah für ein Fass ohne Boden, das ihren Reichtum in unbescheidener Weise verschlingt. Für sie ist das palästinensische Ideal ein Rivale, der sie als Priorität verdrängt hat, wenn ihre Regierung entscheidet, wofür sie ihre Mittel einsetzen will. Es ist nicht nur die Auszahlung von Bargeld an transnationale Kombattanten, die die Wähler verärgert. Sie sind frustriert darüber, dass die Aufmerksamkeit der Regierung fast vollständig von einem Konflikt vereinnahmt wird, mit dem sie nicht unbedingt etwas zu tun haben und der ihnen auch Folgekosten verursacht hat. ... In jüngerer Zeit, wenn Demonstranten ihre wirtschaftlichen Beschwerden zum Ausdruck bringen, ist einer der wiederkehrenden Refrains, die sie singen: 'Gebt Palästina auf; überlegt euch eine Lösung für uns.'"

Vor einigen Wochen hatte Wladimir Putin ein Dekret zur Einberufung von 130.000 Männern zum Wehrdienst unterzeichnet, erstmals galt die Wehrpflicht auch für die von seinen Invasionstruppen besetzten Gebiete der Ukraine, berichtet Martin Kuz, den das Dilemma, vor dem junge ukrainische Männer in den besetzten Gebieten nun stehen, an das Schicksal seines Vaters erinnert, der sich 1943 der Galizien-Division anschloss: "Achtzig Jahre später ist Putin zum geistigen Nachfolger Stalins geworden, ein Zerstörer ohne Gewissensbisse, während er einen neuen russischen Kreuzzug führt, um die Unabhängigkeit der Ukraine zu zerstören, nur drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Sein Befehl, ukrainische Männer in den besetzten Gebieten zum Eintritt in die russische Armee zu verpflichten, erinnert an den bösartigen Zynismus Stalins, der im Zweiten Weltkrieg Millionen Ukrainer eingezogen hat, nachdem er bereits Millionen ihrer Mitbürger ausgehungert, eingesperrt und hingerichtet hatte. Die Entscheidung, vor der die Männer in den von Russland gehaltenen Gebieten jetzt stehen, unterscheidet sich in zwei entscheidenden Punkten von der unmöglichen Entscheidung, die meinen Vater und seine Generation belastete. Nur ein Diktator hat in diesem Krieg die Ukraine belagert, und der Westen hat seine Grausamkeit voll zur Kenntnis genommen. Dennoch hat sich im wichtigsten Punkt nichts geändert. Russland stellt die größte unmittelbare Bedrohung für die Ukraine und ihre Bevölkerung dar. Während Putin Stalin nachahmt und versucht, die Ukrainer im Interesse der imperialen Ambitionen Moskaus zu versklaven, erinnert seine Völkermordkampagne daran, warum die Galiziendivision ins Leben gerufen wurde."

Außerdem: Layla AlAmmar erzählt die Geschichte der Kalligraphie: "In der Welt der Kalligraphie finden wir einen Mikrokosmos der Debatten, die die arabische Moderne seit der 'nahda' ('arabisches Erwachen') des 19. Jahrhunderts geplagt haben. Es herrscht eine unterschwellige Angst, eine Unruhe, die sich um die gleichen Achsen dreht - konservativ oder fortschrittlich, islamisch oder säkular, entgegenkommend oder radikal, traditionell oder modern - Binär- und Polaritäten, vielleicht ein weiterer westlicher Import."

Guardian (UK), 16.11.2023

Die Niederlande hat ein Stickstoffproblem und in der Folge, wie Paul Tullis berichtet, auch ein Bauernproblem. Der hohe Bedarf an fossilen Brennstoffen, aber auch die Methoden der modernen Landwirtschaft, insbesondere der Viehzucht, haben zu einem Anstieg der instabilen Stickstoffverbindungen Ammoniak und Stickstoffdioxid geführt, wodurch die natürlichen Lebensgrundslagen der Menschheit massiv gefährdet sind. Natürlich nicht nur in den Niederlanden, aber dort hat ein Gesetz der Regierung des inzwischen zurückgetretenen Ministerpräsidenten Mark Rutte, das auf den staatlichen Aufkauf und die anschließende Abwicklung von Viehzuchtbetrieben zielt, eine breite gesellschaftliche Krise ausgelöst. Begonnen hat alles mit Protesten wütender Bauern, aber das vermeintliche Randthema - auch in den Niederlanden ist nur noch ein kleiner Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt - zieht längst größere Kreise: "Rechtsextreme Gruppierungen nutzen das Chaos, um ihre eigenen Agenden durchzusetzen, und zwei rechtsgerichtete Parteien, die populistische BoerBurgerBewegin (BBB) und die zentristische Nieuw Sociaal Contract (NSC) haben hohe Umfragewerte in ländlichen Regionen. Die politische Unzufriedenheit, die durch die Stickstoff-Frage ausgelöst wurde, könnte die Parlamentswahlen, die am 22. November stattfinden, entscheiden. Die Stickstoff-Krise ist eine Geschichte über die politischen Konsequenzen die entstehen, wenn ein Problem aus Angst vor einer wichtigen Interessengruppe zuerst ignoriert wird; und wenn die Pläne, die durchgeführt werden, wenn das Ignorieren nicht länger funktioniert, schlecht ausgeführt werden. Andere Länder sollten davon Notiz nehmen. In Frankreich, Italien, Deutschland und Belgien gibt es ebenfalls bedrohte Gegenden, in denen intensive Viehzucht betrieben wird, und falls es nicht zu einer Gesetzesänderung auf Europäischer Ebene kommt, muss auch in diesen Ländern die Politik irgendwann das Problem der Stickstoffemissionen angehen. Zudem zeigt die Stickstoff-Krise, dass die Politik sich in ein Dilemma hineinmanövriert, wenn es ihr nicht gelingt, politische Lösungen für drängende Umweltprobleme zu finden: Sie muss dabei zusehen, wie die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört werden, während gleichzeitig politische Unruhen wachsen."

Warum, wundert sich der Ethnologe Andrew Kipnis, ist der Geisterglaube in China in Städten weit verbreitet und nimmt dort gar oft intensivere Formen an als auf dem Land? "Vier Faktoren scheinen wichtig: Die Trennung von Leben und Tod in Städten, der Aufsteig einer Gesellschafts- und Wirtschaftsform der 'Fremden', die simultane Idealisierung und Verkleinerung von Familien sowie die anwachsende Zahl verlassener und verfallender Gebäude. Es ist wichtig, zu betonen, dass all diese Faktoren Produkte der Urbanisierung selbst sind. Urbanisierung bringt Geister hervor. Es gibt noch einen fünften Punkt, der sich von den ersten vier unterscheidet und doch wichtig ist für den Spuk, der im modernen China umgeht: politische Repression." Über diesen fünften Punkt schreibt Kipnis: "Abriss- und Neubauprojekte gehören zu jenen Ereignissen, die zu Protesten gegen die Regierung führen könnten; und die Regierung sieht es als ihre Aufgabe, alle Formen des Protests zu unterdrücken. Die Kommunistische Partei Chinas meint, ihr eigener Geist müsse ewig leben; alle anderen Geister sind gespenstische Feinde, Fremde, die verbannt werden müssen. Aus dieser Perspektive wird klar, warum die Geister aus der Vergangenheit der Partei - dem Großen Sprung nach vorn, der Kulturrevolution, des Tiananmen-Massakers - nie wieder benannt werden dürfen. Ich glaube jedoch, dass der totalitäre Impus der Partei, alle Geister, die nicht der Partei dienen, zu verbannen, nur dazu dienen wird, den Geisterglauben des urbanen Chinas zu stärken. Wir müssen lernen, mit unseren Geistern zu leben, anstatt sie zu unterdrücken."
Archiv: Guardian

Eurozine (Österreich), 13.11.2023

"Doch die Seele ist ein treuer, unbeugsamer Vogel, / Der hartnäckig über einem undichten Dach kreist, Wie über einem völlig zerstörten Nest", heißt es in einem Gedicht der ukrainischen Poetin Oksana Stomina. Wie viele Frauen musste sie aus der Ukraine fliehen und verarbeitet Exil und Heimatverlust in ihren Gedichten. Tetiana Belimova stellt einige Vertreterinnen dieser, vor allem weiblich geprägten, ukrainischen Exilpoesie vor: "Oksana Stomina erschafft ihre Figur als einen Vogel, der Tausende von Kilometern von seiner Heimat wegfliegt. Doch der Storch fliegt bereits in die entgegengesetzte Richtung, nicht ins Exil, sondern in das verlassene Land. Für die Autorin ist der Weg zurück nach Mariupol versperrt. Dort regiert jemand, der ein Fremder ist, der nicht eingeladen wurde. 'Wer stiehlt den Schrott und die Reste des Herzens, / Versucht aber mein tägliches Glück?', fragt die Dichterin rhetorisch. 'Wer bringt alle meine Fotos in den Müll?' Doch ein Vogel erfährt keine Grenzen, so wie es auch keine Grenzen für die Phantasie, die Seele oder das Denken gibt." In einem Mantra-Gedicht Liudmila Horovas drücken sich hingegen die Wut über diese erzwungene Auslöschung der Identität, "die Wut und der Wunsch nach Vergeltung für die Verbrechen der Besatzer" aus, schildert Belimova. Horova lässt eine Hexe sprechen, deren mächtiger Zauberspruch den Feind erzittern lässt: "Ich säe in deine Augen, ich säe gegen die Nacht / Es geschieht dir so, Feind, wie die Hexe sagt! / Wie viele Roggenkörner in die Erde gefallen sind / So oft wirst du, Feind, getötet werden!"
Archiv: Eurozine

Hlidaci pes (Tschechien), 20.11.2023

Während der 17. November, der Jahrestag der Samtenen Revolution, von den tschechischen Studenten genutzt wurde, um drei Tage lang in den Universitätsstreik für das Klima und einen "Kapitalismus mit menschlichem Antlitz" (so Martin Fendrych in Aktuálně) zu treten, sind gleichzeitig drei alte Herren, ehemalige Unterzeichner der Charta 77, in den Hungerstreik getreten, um ehemaligen Dissidenten eine würdige Rente zu ermöglichen. Der Streikanführer Jiří Gruntorád, Gründer der Bibliothek für Samizdat- und Exilliteratur Libri Prohibiti, saß während der kommunistischen Regimes zweimal im Gefängnis, "vier Jahre für versuchten Republikumsturz, für Verbreitung der Gedichte von Jaroslav Seifert und Bohuslav Reynek", wie Jan Urban berichtet: "Als er sich damals beschwerte, von den Wächtern geschlagen worden zu sein, bekam er zusätzliche vierzehn Monate Haft dafür, dass er sich angeblich selbst verletzt habe. Nach seiner Entlassung blieb er unter strengster 'Schutzaufsicht' und durfte nicht einmal als Heizer arbeiten." Auch viele andere Dissidenten konnten meist nicht in den Berufen arbeiten, für die sie eigentlich qualifiziert waren, oder verloren durch ihre Jahre in der Emigration weitere Rentenansprüche. Weshalb es nun für manche kaum zum Überleben reicht, während ehemalige Stasi-Angestellte von einer guten Rente profitieren. Eigentlich hatte sich die aktuelle Regierung auch auf die Fahnen geschrieben, diese Ungerechtigkeit zu beseitigen, doch ihre Versprechen sind bisher nicht eingelöst worden, weshalb nun die drei ehemaligen Regimegegner, "deren Leben Stoff für jahrelange Serienstaffeln hergeben würde", so Jan Urban, sich für ihren Hungerstreik direkt vor dem Regierungsbüro positioniert haben, um auch für die zu kämpfen, die bereits älter und schwächer seien als sie. Urban hofft, die kommenden Tage würden zeigen, ob die Regierung sich dieser "beschämenden Situation" stellen werde. "Es geht um Würde und Gerechtigkeit, nicht mehr und nicht weniger."
Archiv: Hlidaci pes

Elet es Irodalom (Ungarn), 17.11.2023

Der Ökonom und Publizist István Tömpe charakterisiert das Wirken des ungarischen Regimes - auch als "System der nationalen Kooperation" (NER) bezeichnet - im Bereich der Kultur: "'Dem 'System der nationalen Kooperation' - NER ist es bisher nicht gelungen, eine rechte Leitkultur zu schaffen. Seine Macht liegt in seiner Intervention, seinem Verbot der Verbreitung, seiner Ablehnung von Ressourcenverteilung und seinen Übernahmen. Die absurde Finanzierung seiner Lieblinge hat zu einem ähnlichen Ergebnis geführt wie im Fußball. Trotz der zahlreichen Ernennungen gibt es im Kultursystem keinen kulturellen Leiter, den man lieben oder hassen könnte, obgleich die derzeitigen Direktoren die Öffentlichkeit mit pompösen und parvenühaften Aussagen unterhalten, während der Samtstuhl ihre Hosen warmhält. Das System mag sogar eine Gegenkultur begünstigen, aber diese ist unangenehm machtfeindlich. Es ist unwahrscheinlich, dass das Lied bis in die Ohren der Mehrheit vordringt, wenn es um aggressives Metal oder rechtsradikale Aufmärsche geht, und so bleiben stattdessen die bekannten ungarischen Hits aus der Vergangenheit. Der glorreiche Prozess der literarischen Kanonisierung wird durch die Tatsache behindert, dass die Anhänger nicht lesen. Es gibt zwar immer wieder Versuche, die Bühne zu besetzen, aber es gibt nur wenige starke Texte in den Händen der loyalen Regisseure. (…) Außerhalb des Unterhaltungsgenres sind Film- und Fernsehexperimente mäßig erfolgreich, dramatisierte Aufarbeitungen der kommunistischen Vergangenheit sind Amateurproduktionen von schlechter Qualität, und die aufwendigen historischen Filme zehren am Budget des Filmfonds. Die unabhängige Filmszene, die aus dem NER-Paradies verdrängt wurde, produziert inzwischen erneut spannende Werke und hat internationalen Erfolg."

HVG (Ungarn), 16.11.2023

Der Leiter von Trafó Budapest - dem Zentrum der zeitgenössischen Künste - György Szabó wird im kommenden Jahr 65 Jahre alt und will aus Altersgründen nicht wieder antreten. Stattdessen bevorzugt er das Auftreten der jüngeren Generationen, die allerdings aus unterschiedlichen Gründen keine Verantwortung übernehmen können oder wollen. Er schildert die Herausforderungen der Szene: "Seit 2010 wird der Bereich (der unabhängigen Theater) bestraft: finanziell ausgetrocknet, gezwungen, sich zu 'politisieren', d.h. unsere Zeit zu thematisieren. Das Risiko, heute in der freien Szene tätig zu sein, besteht darin, zur Zielscheibe zu werden, und deshalb sind junge Leute immer weniger motiviert, in diesem Bereich tätig zu werden, und diejenigen, die dies hätten tun können, sind jetzt im Ausland. In der Zwischenzeit haben leider auch die internationalen Beziehungen an Stärke verloren, da sie sehr teuer sind und die ausländischen Partner nicht mehr so sehr an Ungarn interessiert sind. Nach dem EU-Beitritt 2004 sah der Westen das Problem der Region als gelöst an und reduzierte seine Präsenz z.B. auch im Bereich der freien Bühnen. (...) Der politische Populismus und die sozialen Medien, die die Welt vereinfachen und Konflikte verschärfen, wirken sich überall auf die Kunst aus. (...) Und Covid war schwierig, denn nach der Pandemie gab es eine enorme Anzahl von Inszenierungen und Produktionen, während das Publikum immer weniger Geld hatte; viele Menschen nicht mehr ins Theater gingen, und die sozialen Medien, die für uns so wichtig sind, sich weiter zersplittert hatten. Das hat sich wirklich auf alle darstellenden Künste ausgewirkt."
Archiv: HVG

Merkur (Deutschland), 20.11.2023

Immer weniger Menschen lesen Bücher, schreibt die Literatursoziologin Carolin Amlinger: "Laut den letzten Zahlen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels haben im Jahr 2022 "nur noch rund 25,8 Millionen Menschen mindestens ein Buch erworben. Das sind lediglich 39 Prozent der potentiellen Käuferschaft und rund 1,4 Millionen weniger Buchkäuferinnen und Buchkäufer als im Vorjahr. In den letzten zehn Jahren ist die Buchkäuferschaft um 11,1 Millionen Menschen geschrumpft." Aber: "Der Bedeutungsschwund des Buchs auf gesamtgesellschaftlicher Ebene geht offenbar einher mit einer Aufwertung des Buchs als symbolischem Objekt in leseaffinen Sozialmilieus. (…) Wird aus dem Buch, dem wohl wirkungsvollsten Kulturobjekt sozialer Teilhabe, wieder ein exklusives Mittel sozialer Abgrenzung?" Amlinger untersucht verschiedene "Modi distinkten Lesens" und kommt zu dem Schluss: Es treten wieder "soziale Klassenunterschiede stärker hervor, die in der bundesrepublikanischen Lesegesellschaft partiell nivelliert waren. Parallel bestehen alte Differenzen fort oder verstärken sich. Während Frauen und Männer in den ausgehenden 1960er Jahren in etwa gleich viel lasen, verstärken sich in der Gegenwart die Geschlechterunterschiede auf den Ebenen der Lesehäufigkeit (Frauen lesen mehr) und in den Lesemotiven (Erbauung vs. Action) vor allem in den unteren Soziallagen. Außerdem hinterfragen die Lesenden die dominanten Lektürepräferenzen heute stärker und nehmen sie als das wahr, was sie schon immer waren: als 'white literary taste'. Die Sensibilisierung für Diversität und Inklusion lässt persistente ethnische Ungleichheiten in der Lesesozialisation sichtbar werden. Zuletzt wirken wiederkehrende altersbezogene Dynamiken fort. Jüngere, die sich in einer ökonomisch untergeordneten Position gegenüber älteren Menschen befinden, demonstrieren ihre 'kulturelle Überlegenheit' durch die Beherrschung von digitalen Lesetechniken, eine reflexive moralische Urteilsfähigkeit gegenüber dem Gelesenen und einen ausdifferenzierten Wissensbestand."
Archiv: Merkur

New Yorker (USA), 20.11.2023

Joyce Carol Oates ist eine ziemlich schreibwütige Autorin, stellt Rachel Aviv fest, mindestens ein Buch schreibt sie jedes Jahr - Schreiben ist auch Lebens- und Krisenbewältigung. Eine solche Krise hat Oates nach ihren ersten veröffentlichten Büchern erlebt und sich produktiv zu Nutzen gemacht: "Sie hat sich gefühlt sich als hätte sie eine Wolke im Kopf, die sich langsam ausbreitet, bis sie so schwer war wie Beton. Sie hat eine Reihe an Spezialisten konsultiert, um herauszufinden, ob etwas mit ihr falsch ist. Eines Tages hat sie im Bett liegend darüber nachgedacht, wie viel Zeit sie mit Arztterminen verbracht hat. 'Ich dachte mir - was für eine Zeitverschwendung, wirklich, aber warum nicht eine Geschichte darüber schreiben?', hat sie ihrer Freundin Gail Godwin geschildert und nahegelegt, dass die Symptome psychosomatischer Natur sind. Die Kurzgeschichte heißt 'Plot' und handelt von einem männlichen Autor, der kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht und jede seiner Stimmungen in einen seiner Charaktere oder in eine Szene transformiert. Oates hat Godwin erzählt, dass Kunst die Bedingungen für einen gesunden Verstand schaffen kann. 'Wenn ich mich unruhig fühle, schreibe ich über eine unruhige Person', erklärt sie. 'Wenn mir danach ist mich aufzulösen, ist es nur natürlich, mich in etwas anderes aufzulösen.' Die gleiche Methode lässt sich anwenden, schreibt sie, bei dem Dilemma, eine 'umfassende, komplexe Seele' zu haben, die öffentlich aber nur als 'dünnes, fadenscheiniges Rinnsal' erscheint. Als Oates 'Plot', in der Paris Review erschienen, noch mal gelesen hat, dachte sie 'Mein Gott! - War ich das?', wie sie Godwin schrieb. 'Und habe ich das überstanden, habe ich die Sache besiegt? Oh ja.' Fiktion, hat sie in ihr Tagebuch geschrieben, kann als eine Art 'Gegen-Zusammenbruch' wirken."
Archiv: New Yorker