Magazinrundschau - Archiv

Desk Russie

22 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 3

Magazinrundschau vom 16.04.2024 - Desk Russie

Der in Deutschland lebende russische Schriftsteller Sergej Lebedew schildert im Interview mit Andrej Archangelski, wie es die russischen Intellektuellen - sich selbst schließt er nicht aus - versäumten, die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen zu fordern. Bis heute, meinte er, sei keine "historische Verantwortung" übernommen worden, die sich für ihn in zwei Teile gliedert: "Erinnerung und Rechenschaft. In den letzten dreißig Jahren haben wir uns nur auf den ersten Teil konzentriert. Kaum jemand bei uns hat es gewagt, die Frage der Gerechtigkeit und der Rechenschaftspflicht aufzuwerfen." Die fehlende Aufarbeitung begünstigte eine Kontinuität der Gewalt und verhinderte, so Lebedew, dass Schuldige zur Rechenschaft gezogen wurden: "Das erinnert an die Debatten im frisch wiedervereinigten Deutschland der 1990er Jahre. Es ging um die Frage, was mit den Stasi-Unterlagen geschehen sollte. Damals hatten die Verantwortlichen in Westdeutschland große Angst, dass die Leute anfangen würden, ihre Rechnungen zu begleichen, wie Sie es nennen. (In Wirklichkeit geschah nichts dergleichen.) Übrigens hatte der KGB Ende der 1980er Jahre auf das gleiche Argument zurückgegriffen: 'Die Leute werden sich rächen wollen, wenn sie die ganze Wahrheit kennen.' Wenn das Argument des einen (Vermeidung einer sozialen Explosion) mit dem des Gegners übereinstimmt, sollte man meiner Meinung nach auf der Hut sein! Natürlich lag die eigentliche Ursache woanders. Ab den 1960er Jahren beruhte der gesamte Mechanismus der poststalinistischen Rehabilitierung genau auf der Vorstellung, dass die Repressionen auf eine Reihe individueller Justizexzesse zurückzuführen waren, dass sie nicht Ausdruck des kriminellen Charakters des sowjetischen Staates als solchem waren. Dieses Thema wurde in den 1980er Jahren von den Machtorganen wieder aufgegriffen. Die ersten Gedenktafeln für die Opfer von Repressionen wurden manchmal unter Beteiligung von KGB-Offizieren angebracht. Sie sagten: 'Ja, ja, das Gedenken ist sehr wichtig. Aber wir sind jetzt anders! Wir sind nicht mehr wie die alten Strafdienste. Vielmehr wurden auch unsere Kameraden Opfer von Repressionen."

Magazinrundschau vom 12.03.2024 - Desk Russie

Der Politologe Philippe De Lara versucht zu umreißen, was die Stärke Alexej Nawalnys ausmachte. Er gehörte für Lara zu den ersten, die begriffen, dass man angesichts des sich verfinsternden Regimes keine "Politik" mehr machen konnte - zweimal war er mit dem Versuch gescheitert, erst bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen, dann bei den Präsidentschaftswahlen 2018. Also hat er an ein älteres, scheinbar obsoletes Modell angeknüpft: "In den letzten Jahren seines Lebens griff Alexej Nawalny die Idee der Dissidenz wieder auf, das heißt, eine Form des moralischen Protests, die sowohl individuell als auch kollektiv ist. Die Dissidenz spielte eine Schlüsselrolle beim Zusammenbruch der UdSSR, der moralische Protest war mit den 'Helsinki-Gruppen' zu einer politischen Kraft geworden, die in den 1970er Jahren gegründet wurden, um die Einhaltung der Menschenrechtsvereinbarungen von Helsinki durch die UdSSR zu überwachen. Diese Gruppen brachten das Regime in Bedrängnis, indem sie die sowjetische Lüge gewissermaßen beim Wort nahmen. In einem normalen Regime ist eine Politik, die sich für Moral hält, das Schlimmste, gleichbedeutend mit Heuchelei und Hilflosigkeit. In einem totalitären Regime wird Moral jedoch zur Politik. Das war es, was Nawalny verstanden hatte und in seinem Leben verkörperte."

Magazinrundschau vom 13.02.2024 - Desk Russie

Viele Hoffnungen hegten sowohl der Westen als auch russische Oppositionelle ob der Kandidatur von Boris Nadejdine für die diesjährigen russischen Wahlen. Nun hat die Wahlkommission seine Aufstellung allerdings verhindert, angeblich wegen ungültiger Unterschriften. Aber, schreibt die Historikerin Françoise Thom, der rasante Aufstieg des Putin-Gegners zeigt trotzdem deutlich: Die Ära Putin ist vielleicht früher vorbei als viele seiner Anhänger befürchten. Die politische Stimmung gleicht jener vor dem Ende der Herrschaft Stalins, meint Thom: "Dieser Präzedenzfall ermöglicht es uns, besser zu entschlüsseln, was heute in Russland passiert." Während die russische Politik "von einem Extrem ins nächste" stürze, werden die "vertraulichen Kontakte" mit dem Westen mehr, verhaltener Widerstand regt sich auch bei den Mächtigen und "Professor Solowej verbreitet abfällige Gerüchte über Putin und bereitet die Entweihung des 'nationalen Führers' und die Denunzierung des 'Personenkults' vor, indem er Putin als einen alten, leidenden Mann in Pampers mit einem Fuß im Grab darstellt." Nadeschdin ist der einzige, der ein Programm zur kontrollierten Entputinisierung formuliert hat, das unsere Aufmerksamkeit verdient, meint Thom, da sich darin vielleicht der Schlüssel für die Entwicklung Russlands in den kommenden Jahren findet. Aber, auch Nadejdine wird die tief verankerte Idee einer russischen Hegemonie in Europa nicht ablegen, warnt Thom, so sehr er Putin kritisiert, ist er doch ein entschiedener Unterstützer des Ukraine-Krieges und hält die Gebietsannexionen für legitim: "Das Russland, das aus den Trümmern des Putinismus hervorgehen wird, wird nach Investitionen, Technologie und Konsumgütern verlangen. Es wird seine Abhängigkeit von Europa erkannt haben, aber es wird versuchen, sie zu überwinden, indem es versucht, die europäischen Eliten dem Willen des Kreml zu unterwerfen. Daher muss der Westen von Anfang an feste Bedingungen für die Aufhebung der Sanktionen und die Wiederaufnahme des Handels mit diesem Land stellen und trotz der Sirenenrufe aus Moskau in dieser Hinsicht nicht von der Stelle kommen. Die Räumung aller den Nachbarländern abgenommenen Gebiete ist der einzige ernstzunehmende Indikator für einen echten Willen zum Wandel und die Aufgabe der hegemonialen Ziele in Europa. Solange Russland nicht aus seiner Dominanzlogik ausbricht, wird es ein gefährlicher Gesprächspartner für die Demokratien bleiben. Nadeschdin war kein Antikriegskandidat, er war der Kandidat des mit anderen Mitteln geführten Krieges."

Magazinrundschau vom 30.01.2024 - Desk Russie

Wenn Amerika durch einen Krieg mit China geschwächt wäre, würde Russland so weit gehen, Alaska zurück haben zu wollen? Wohl kaum, aber Jean-Sylvestre Mongrenier vom Institut Français de Géopolitique insistiert wie so viele Russlandkenner, dass Russland immer darauf aus ist, Machtstrukturen von Konkurrenten zu zerstören. Nebenbei erfährt man in seiner kleinen Geschichte Alaskas, warum der geschwächte Zar Alaska nach dem verlorenen Krimkrieg zum Gegenwert von drei Jagdsaisons an Amerika verkaufte: "Geopolitische Gründe gaben den Ausschlag. Für Russland ging es darum, die Ambitionen Englands, das zusammen mit Frankreich den Krim-Krieg gewonnen hatte, zu bremsen, aber auch die Kräfte auf die Beherrschung der asiatischen Territorien zu konzentrieren. Erinnern wir an die Annexion der äußeren Mandschurei, das dem Qing-Reich geraubt wurde, in den Jahren 1858 bis 1860 und die Gründung Wladiwostoks (diese Territorien bilden heute Russlands fernen Osten)… Im übrigen hätte Alexander II. (1855 bis 1881) auch theologische Argumente beachtet: Die Behring-Straße entsprach seiner Meinung nach einer von Gott gewollten Trennlinie zwischen Asien und Amerika."
Stichwörter: Alaska, Krim

Magazinrundschau vom 16.01.2024 - Desk Russie

Jean-Pierre Chevènement ist wahrlich kein Politiker, den man in Deutschland kennen müsste. Er hatte seine große Zeit als Minister unter Mitterrand und vertrat jene eigenartige Mischung aus doktrinärem französischen Nationalismus und betonlinker Ideologie, die heute zum Beispiel auch seinen Konkurrenten Jean-Luc Mélenchon auszeichnet (bei dem noch ein tief sitzender Antisemitismus hinzukommt). Vincent Laloy porträtiert Chevènement in seiner Reihe über den russischen Einfluss in Frankreich nicht so sehr um seiner selbst willen, denn seine Zukunft hat der bald 85-Jährige hinter sich, aber weil er jüngere Politiker beeinflusst hat. Es ist dieselbe Mischung aus Amerikahass und süßlicher Russophilie, die in Deutschland auch viele Sozialdemokraten auszeichnet. Hinzu kommt ein Element, das die Deutschen in ihrer von ihren einstigen Wirtschaftserfolgen vernebelten Arroganz oft übersehen haben: Chevènements Hass auf Deutschland. "Es ist verblüffend zu lesen, was er 1980 über die damals unmögliche Wiedervereinigung Deutschlands vorbrachte, die laut seinem Orakel 'eine viel gefährlichere Bedrohung für Frankreich wäre als die einer sowjetischen Aggression'. Im selben Jahr mahnte er auf dem Parteitag der Sozialistischen Partei die Blockfreiheit Frankreichs an, kurzum, er schlug sich auf die Seite sowjetischer Bestrebungen: 'Die UdSSR spielt eine Rolle als Gegengewicht zu den USA, wie sie es auch gegenüber Deutschland gespielt hat.' Er hasste Deutschland so sehr, dass er in einer Debatte mit Außenminister Joschka Fischer am 21. Mai 2000 festhielt, Deutschland habe sich 'noch nicht von der Entgleisung, die der Nationalsozialismus in seiner Geschichte war, erholt'."

Magazinrundschau vom 09.01.2024 - Desk Russie

Françoise Thom, Herausgeberin von Deskrussie, fürchtet, dass der Westen gerade eine "seltsame Niederlage" erleidet - und spielt damit auf Marc Blochs berühmtes Buch "L'étrange défaite" an, das er nach der Kapitulation Frankreichs vor Deutschland schrieb, in einem Moment also, in dem das Schlimmste noch bevorstand. Putin, schreibt sie, zieht seine Stärke aus der Schwäche des Westens. Und im übrigen stellt er sich in die Tradition Stalins und des russischen Kolonialismus mit seiner beständigen Expansion: "Bald herrscht Putin solange wie Stalin. Beide tragen Verantwortung für etwas, das in anderen Ländern als absolute Katastrophen angesehen worden wäre: Blutvergießen, wirtschaftlichen Rückschritt, massive Versklavung der Bevölkerung. Doch beide Diktatoren blieben an der Macht, weil sie an die tiefsten Sehnsüchte des russischen Volkes anknüpfen konnten: die Lust auf Macht, die in einem Menschen schlummert, welcher wie ein Sklave behandelt wird; den Willen, Nachbarn, die besser leben als er, zu erniedrigen und zurückzusetzen. Beide kamen nach einer Schrumpfung des russischen Staates an die Macht und erkannten, dass die Formel für dauerhaften Despotismus darin bestand, die Wiederherstellung und Expansion des Imperiums zu versprechen."
Stichwörter: Russland, Kolonialismus

Magazinrundschau vom 19.12.2023 - Desk Russie

Denkmal für die erschossenen Ukrainer in Sandarmoch. Foto: Semenov.m7, unter CC-Lizenz

Der russische Journalist und Autor Sergej Lebedew ruft dazu auf, die russischen Verbrechen in der Ukraine endlich in ihrer Geschichtlichkeit zu begreifen: Der Angriff auf die Ukraine, schreibt er, ist als eine logische Konsequenz einer imperialistischen russischen Politik in Europa zu begreifen, die nie geendet hat und von Russland selbst niemals aufgearbeitet wurde. Symbolisch für die Politik der Unterdrückung steht der Umgang des russischen Regimes mit dem Denkmal in Sandarmoch für das Massaker des NKWD an 6000 Gulag-Häftlingen, unter ihnen etwa 200 ukrainische Kulturschaffende: "2015 sprach Jurij Dmitriev, Forscher über die sowjetischen Zwangsarbeitslager und Leiter der karelischen Zweigstelle von Memorial, in Anwesenheit offizieller Persönlichkeiten über den Krieg in der Ostukraine - einen Krieg, den Russland nicht anerkannte und im Geheimen führte. Dmitriev sprach auch über die Opfer dieses Krieges, deren Namen eines Tages - wie in Sandarmokh - öffentlich gemacht würden, obwohl ihre Mörder auf ein ewiges Vergessen hofften ... Es war offenbar im Jahr 2015, als die Sicherheitsdienste begannen, sich mit dem Fall Dmitriev zu befassen. Er hatte eine rote Linie überschritten: Er hatte auf die ungeheuerliche Kontinuität der Verbrechen hingewiesen. Im Juli 2016 stellten zwei Historiker aus Petrosawodsk, Jurij Kilin und Sergej Weriguin, unerwartet die weit hergeholte Hypothese auf, dass in Sandarmokh keine Gulag-Häftlinge begraben worden seien, sondern sowjetische Kriegsgefangene, die während des Zweiten Weltkriegs von der finnischen Armee erschossen worden waren. Im selben Jahr ignorierten die russischen Beamten den Gedenktag am 5. August, zum ersten Mal seit der Einrichtung des Gedenkfriedhofs. Im Dezember 2016 wurde Dmitriev verhaftet...Im Jahr 2018 führte die Russische Gesellschaft für Militärgeschichte (RVIO) in Sandarmokh Ausgrabungen von zweifelhafter Legalität durch ... Bei diesen wurden mehrere Leichen aus den Massengräbern entfernt und an einen unbekannten Ort gebracht. Im Jahr 2019 gab das RVIO öffentlich bekannt, dass die Ausgrabungsdaten die Theorie von Kilin und Veriguin bestätigten ... schließlich wurde Dmitriev, der ursprünglich freigesprochen worden war, zu 15 Jahren Haft verurteilt und nach Mordowien in den Dubravlag geschickt, eine weitere Region des Landes mit einer langen und schrecklichen Strafgeschichte, tatsächlich eine der 'Inseln' des von Alexander Solschenizyn beschriebenen sowjetischen 'Archipel Gulag'. Angesichts seines Alters und der sanitären Bedingungen in den russischen Strafkolonien ist Dmitrievs Inhaftierung ein legalisierter Mord."

Magazinrundschau vom 28.11.2023 - Desk Russie

Desk Russie publiziert einen Vortrag von Leonid Finberg, Direktor des Zentrums für jüdische Studien an der Mohyla-Akademie in Kiew. Die angebliche "Ent-Nazifizierung" der Ukraine war eines der wichtigsten Argumente der russischen Propaganda, um den Krieg in der Ukraine vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen, erinnert Finberg: "Im Herzen Faschisten und Rassisten, beschuldigen diese Ideologen ihre Gegner des Faschismus. Timothy Snyder hat dies als Schizofaschismus bezeichnet." Diese Taktik hat eine lange Tradition, weiß Finberg, schon während des Zweiten Weltkrieges verbreiteten die Sowjets das Narrativ, die Ukrainer trügen eine Hauptschuld an der Schoa: "Die sowjetische und die russische Version der Tragödie von Babi Yar sind Teil der Verfälschung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Alle verschweigen die Zusammenarbeit zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion im Rahmen des Molotow-Ribbentrop-Pakts. Aus diesem Grund wurde die sowjetische Bevölkerung nicht über die jüdischen Tragödien in Deutschland oder in den von ihr besetzten Ländern informiert. Dies trug dazu bei, dass viele derjenigen, die beim Massaker von Babi Yar und anderswo in der Ukraine starben, auf die Ankunft einer zivilisierten deutschen Armee warteten, anstatt nach Osten zu fliehen. Darüber hinaus war Babi Yar nicht der erste Akt der physischen Vernichtung Tausender Juden während der Nazi-Invasion auf sowjetischem Gebiet. Doch die sowjetischen Behörden verschwiegen diese Tatsachen, und die Einwohner von Kiew und Charkiw wurden über die Massenvernichtungen in den von den Nazis besetzten Gebieten im Unklaren gelassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschuldigten die sowjetischen Medien die Ukrainer mehrerer Massaker, die in Babi Yar verübt wurden. Juden, Roma, psychisch Kranke, aber auch ukrainische Nationalisten waren von Nazi-Spezialeinheiten getötet worden. In vielen sowjetischen und russischen Publikationen wird jedoch behauptet, dass es sich um ethnische Ukrainer gehandelt habe. Es sei darauf hingewiesen, dass es in der besetzten Ukraine keinen Staat gab. Die Kollaborateure handelten auf individueller Basis. Sie rekrutierten sich aus allen ethnischen Gruppen, die die Ukraine bevölkerten, und aus sowjetischen Kriegsgefangenen."

Während der Gaza-Krieg die Aufmerksamkeit der westlichen Akteure auf sich zieht, etabliert sich in den Medien das Narrativ einer "kriegsmüden Ukraine", stellt Jean-Sylvestre Mongrenier kopfschüttelnd fest. Das ist erstens falsch, legt Mongrenier dar, indem er die militärische Situation genau analysiert: "Ungeachtet des russischen Triumphalismus, der leider in den westlichen Medien weitergegeben wird, wird der Kreml angesichts seiner Kriegsziele in die Schranken gewiesen." Zum Zweiten müsse sich der Westen endlich klar werden, was er zu verlieren hat, sollte Putin den Krieg gewinnen: "Es sollte selbstverständlich sein, dass das große westliche Bündnis eine globale Ausrichtung hat. Angesichts der 'Achse des Chaos' Russland-Iran-China muss der Westen seine diplomatisch-strategischen Bemühungen zusammenführen, und zwar auf globaler Ebene. Schließlich sei daran erinnert, dass eine umfassende und langfristige Strategie nicht ohne eine 'große Idee', ein geordnetes System von Werten, eine Weltanschauung, umgesetzt werden kann. Um es anders auszudrücken: Keine große Strategie ohne Metapolitik. Diese große Idee ist die des Westens. Der Westen ist viel mehr als ein Teil der Landmasse, eine globale Darstellung und ein geopolitisches Lager, er ist eine 'Region des Seins'. Er verweist auf Athen, Rom und Jerusalem: jene 'Zivilisation der Person', in der der Mensch als moralischer Akteur konzipiert wird, der über einen freien Willen verfügt und zwischen Gut und Böse entscheiden kann. Über alle historischen Wechselfälle und punktuellen Erschütterungen hinweg ist der Westen das Leuchtfeuer einer Welt, die in den Abgrund zu stürzen droht."

Magazinrundschau vom 05.12.2023 - Desk Russie

So irreführend die postkoloniale Sicht auf den Nahostkonflikt ist, so fruchtbar ist sie im Blick auf den anderen aktuellen Krieg - nur dürften Russland und die Ukraine in der Agenda der meisten Postkolonialisten kaum vorgekommen sein, weil die Täter nicht im Westen und die Opfer weiß waren. Mykola Rjabtschuk analysiert die falschen, von Russland geprägten Schemata, in denen viele westliche Historiker, Politologen und Politiker über Osteuropa dachten und denken. Gerade die "politischen Realisten", die im Westen in "Einflusssphären" dachten und viele westliche Politiker sind in ihrer angeblichen Nüchternheit dem Irrationalismus des russischen Imperialismus auf den Leim gegangen: Denn "es handelt sich um einen 'Kulturkrieg', einen Krieg um Geschichte und Identität, der nicht in die Theorie der politischen Realisten passt, die glauben, dass es in den internationalen Beziehungen in erster Linie um die Anhäufung von Macht und Reichtum und um die Stärkung der Sicherheit geht. Sie verfügen über wenig oder gar keine fachliche Expertise zur Ukraine oder zu Russland, geben aber reichlich Ratschläge, wie man den Krieg beenden und eine 'Verhandlungslösung' erreichen kann. Sie sind davon überzeugt, dass alle politischen Akteure rational und kompromissfähig sind, und können einfach nicht davon begreifen, dass einige Führer irrational und paranoid handeln."

Magazinrundschau vom 21.11.2023 - Desk Russie

Der Journalist und Essayist Jean-Francois Bouthors untersucht die Ursprünge der antisemitischen Welle, die seit dem 7. Oktober "die Welt flutet". Wladimir Putin, dem keine Verurteilung des Massakers über die Lippen kam, profitiert sowohl von den grausamen Taten der Hamas als auch von den gespaltenen Reaktionen darauf. Bouthours zeichnet die Geschichte des russischen Engagements für die Sache der Palästinenser nach und zeigt, wie Moskau den Konflikt vor allem instrumentalisierte, um den Westen zu schwächen. Das hat sich bis heute nicht geändert, stellt er fest: "Es scheint als wäre Putin entschlossen, den Brandstifter zu spielen und die Gemüter zu erhitzen. Alles, was die westlichen und insbesondere die europäischen Gesellschaften weiter spaltet, ist ihm recht. Zu diesem Zweck ist ihm jedes Mittel recht, auch die Instrumentalisierung des Antisemitismus und der Emotionen, die er weckt. Soeben wurde bekannt, dass die Davidsterne, die Ende Oktober in Paris und seinen Vororten, in den Departements Hauts-de-Seine und Seine-Saint-Denis mit Schablonen gesprüht wurden, von ausländischen Personen verursacht wurden. Es wurden vier Untersuchungen eingeleitet. Am 27. Oktober wurde ein Paar aus Moldawien festgenommen, und ein weiteres verdächtiges Paar ausländischer Herkunft, dessen Nationalität nicht angegeben wurde, verließ Frankreich überstürzt. Die festgenommenen Personen erklärten, sie hätten im Auftrag eines Russen gehandelt, der sie dafür bezahlt habe. Eine solche Aktion könnte durchaus das Ziel gehabt haben, die Gemüter zu polarisieren. Sie ruft natürlich die Empörung all derer hervor, die von dem Pogrom am 7. Oktober angewidert waren, seien es Juden oder Nichtjuden. Doch während die angekündigte Zahl der Opfer der israelischen Reaktion in Gaza Angst und Schrecken verbreitet - was man verstehen kann, ohne die Verbrechen der Hamas zu billigen -, kann das Auftauchen der Davidsterne an den Wänden an 'sensiblen' Orten (man erinnere sich an die Krawalle, die Anfang des Sommers auf den Tod des jungen Nahel in Nanterre folgten) auch antisemitische Taten unter den Bewohnern von Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an Muslimen, mit Migrationshintergrund und mit natürlichen emotionalen Bindungen zu den Ländern des Südens fördern."