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05.07.2018. Die Welt studiert in Leipzig die kommunikative Gemengelage der RAF-Zeichen. Feridun Zaimoglu verweist in seiner Eröffnungsrede zum Klagenfurter Wettlesen die Neuen Rechten aus dem Diskursraum der Öffentlichkeit. NZZ und SZ bestaunen ein weibliches Filmwunder in Italien. Der Tagesspiegel feiert die neue Kunsthalle in Mannheim. Die SZ freut sich über die Wiederöffnung der Alten Pinakothek.
In Klagenfurt hat gestern der Ingeborg-Bachmann-Lesewettbewerb begonnen. Mit seiner flammenden Eröffnungsrede hat Feridun Zaimoglu die NeuenRechten aus dem Diskursraum der Öffentlichkeit verwiesen: "Es hilft nichts, den Rechten edle Motive zu unterstellen, wie es mancher Feuilletonist tut. ... Der Rechte ist kein Systemkritiker, kein Abweichler und kein Dissident, er ist vor allem kein besorgter Bürger" und "es gibt keinen redlichen rechten Intellektuellen. Es gibt keinen redlichen rechten Schriftsteller. Mit wem reden? Die Patrioten können nur skandieren, als wären sie auf einer Kundgebung. In Deutschland, in Österreich, in der Schweiz haben sie sich in die Parlamente geblökt. Manch ein Schreiber oder Kulturredakteur, manch ein Bürgersohn mit einem reichen oder prominenten Vater, manch ein Philosoph und Jubeljahrbiograf sieht sich schon im Krieg als Frontberichterstatter. Sind sie erregt, weil sie über das Tamtam der unredlichen Empörer endlich von ihrer Langeweile wegkommen?" Zuvor hatte Zaimoglu Dlf Kulturein Interview gegeben.
Wenn Paul Jandl die Liveberichterstattung auf 3sat verfolgt, durchfährt den ehemaligen Klagenfurter Juror immer noch ein zuckender Reflex, erklärt er in der NZZ. Und führt aus: Im Grunde ist Klagenfurt der Fußball-WM näher als man auf den ersten Blick meinen würde: "Der Bachmann-Wettbewerb ist Literatur als Videobeweis. ... Insa Wilke und Nora Gomringer. Innenverteidigerin der Literatur und Sturm. Das Kurzpassspiel der Pointen hat ein wenig aufgehört, seit Klaus Kastberger da ist. Ist er im Ballbesitz, dann wird er selbst zum Ball. Redet sich ins Runde und vergisst das Eckige. Es ist der Schwindel, der ja auch noch metaphorisch einer ist. Da und dort wurde schon angemerkt, dass es in Klagenfurt nicht immer nur um die Literatur geht. Um die Autoren und das, was sie machen. Es geht auch um die Eitelkeit."
Weitere Artikel: Für den Freitag hat Katharina Schmitz sich mit Anselm Neft zum Gespräch getroffen, der in Klagenfurt lesen wird: Mit seinem Text geht es ihm "auch um das Wesen der Kunst. Was passiert mit uns, wenn wir unseren Schmerz zu Dichtung verdichten?" Im LogbuchSuhrkampschreibtStephanLohse, der heute ab 12 Uhr lesen wird, über Hexenglauben in den Slums von Kinshasa.
Besprochen werden ElkeHeinemanns "Fehlversuche" (Tell), JosephJouberts Notizauswahl "Alles muss seinen Himmel haben" (NZZ), MichaelDecars Poproman "Tausend deutsche Diskotheken" (Tagesspiegel), Ta-NehisiCoates' "We were eight years in Power" (Intellectures), die Ausstellung "Die Manns am Bodensee" im Hesse-Museum in Gaienhofen (Welt), Civin Lius "Der dunkle Wald" (SZ) und BodoKirchhoffs "Dämmer und Aufruhr" (FAZ).
Nicht ganz sicher ist sich Marc Reichwein von der Welt, was er davon halten soll, dass die RAF und ihre Embleme jetzt auch zum Gegenstand designhistorischer Diplomarbeiten geworden ist. Allerdings weist die begleitende Ausstellung in Leipzig dann doch "eine semiotische Sprengkraft eigenen Werts" auf: "Das Anliegen der Ausstellung ist eine zeichentheoretische Entzauberung der RAF. ... Terrorismus ist, auf seine Weise und unabhängig von seiner Motivlage, immer eine Kommunikationsstrategie. Das ist für sich noch keine Erkenntnis, aber sehr wohl ein Anlass, die kommunikative Gemengelage als solche zu studieren."
Valeria Golino und Alba Rohrwacher in Laura Bispuris "Mia Figlia" In Italien zeichnet sich ein neues Filmwunder ab, beobachten Christina Tilmann (NZZ) und Rainer Gansera (SZ) - und dieses Filmwunder istweiblich: Hier haben sich "Regisseurinnen freigeschwommen, die so sperrig wie unbedingt ihre Geschichten erzählen", schreibt Tilmann. Aber auch den Schauspielerinnen Lucia Mascino (in FrancescaComencinis "Amori che non sanno stare al mondo"), Alba Rohrwacher (in Laura Bispuris "Figlia mia" und in AliceRohrwachers "Glücklich wie Lazzaro") verdankt diese Welle einiges: "Mascino geht mit dem Mut zur Lächerlichkeit bis ans Äußere der Leidenschaft", erklärt Tilmann, und "Rohrwacher kann Hässlichkeit zulassen, und Verwahrlosung, und hat trotzdem eine Strahlkraft, dass sie den ganzen Film zu sprengen droht. ... Das ist für das Land der gewagten Burleske eines Roberto Benigni, der etwas eitlen Selbstbespiegelung eines Nanni Moretti oder der wuchtigen Politfarce eines Paolo Sorrentino durchaus ein neuer feministischer Ton, der private Dramen ins Grundsätzliche weitet."
Alba Rohrwacher spielt auch in GianniZanasis "Troppa Grazia" mit, ergänzt Gansera, und sie "die bisweilen wie ein Engel aus Renaissancegemälden aussehen kann, verkörpert in beiden Rollen Frauengestalten, die realitätstüchtig geerdet sind und zugleich das Talent zu Mystikerinnen besitzen. Diese Doppelbegabung ist nicht neu für Frauenfiguren des italienischen Kinos, aber sie zeigt sich hier in einer modernen, selbstbewusstenVariante."
Weitere Artikel: Eva-Christina Meier (taz) und Andreas Busche (Tagesspiegel) empfehlen eine Werkschau der Filmemacherin LucreciaMartel im Berliner Kino Arsenal. Andreas Busche schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Kameramann RobbyMüller, der insbesondere mit WimWenders und Jim Jarmusch gearbeitet hat. Auf Youtube gibt es einen Videoessay über seine Arbeit:
Besprochen werden Jhonny Hendrix Hinestrozas " Candelaria", der laut taz-lerin Barbara Schweizerhof "in realistischer und poetischer Verdichtung das Leben in der Krise in Kuba auf den Punkt bringt", Susanna Whites Western "Die Frau, die vorausgeht" mit Jessica Chastain (SZ), Anne Fontaines "Marvin" mit Isabelle Huppert (FR), James Benningsauf DVD veröffentlichter Debüt-Langfilm "11x14" von 1977 (taz), Brett Morgens Dokumentarfilm "Jane" über die Affenforscherin JaneGoodall (NZZ), Gerard McMurrays dystopischer Thriller "The First Purge" (taz) und die Helmut-Dietl-Ausstellung im Filmmuseum in Berlin (SZ).
Die Dramaturgin Felizitas Stilleke antwortet mit einem offenen Brief (den inzwischen hunderte Theaterleute unterzeichnet haben) Frank Castorf, der kürzlich im Interview erklärte, er kenne außer Pina Bausch kaum gute Regisseurinnen (unser Resümee): "Ich nehme das SZ-Interview Christine Dössels mit Frank Castorf zum Anlass, ebenfalls sehr laut zu sagen, dass ich die white male privileged-'Gedanken- und Assoziationsstrudel' satt habe. Dass auch viele von uns Pina Bausch und ihr Werk lieben und gerne auf mehr Frauen ihrer Sorte zurückblicken können würden. Doch sehen wir sehr deutlich die Gründe, warum sich ihresgleichen nicht etablieren konnte, in einer Gesellschaft, die auf dem strukturellen Ausschluss von Frauen aufbaut - mit oder ohne Diplom."
Weiteres: Piotr Beczala springt in Bayreuth als "Lohengrin"-Tenor für Roberto Alagna ein, der zwei Tage vor Probenbeginn abgesagt hatte, meldet die Welt. In der nachtkritikstellt Sophie Diesselhorst Modellprojekte für geflüchtete Theaterleute in Deutschland vor.
In der SZ berichtet Till Briegleb von der Phototriennale in Hamburg, die ihm immer dort am besten gefällt, wo es nicht um Fotografie geht. In der Zeit unterhält sich Tobias Timm mit dem amerikanischen Künstler James Turrell über dessen Lichtinstallationen, die derzeit im Burda-Museum in Baden Baden zu sehen sind.
"Wenig heavy Trapshit" gibt es auf dem neuen Drake-Album "Scorpion" zu hören, schreibt Juliane Liebert in der SZ. Das Album bricht derzeit sämtliche Streaming-Rekorde und bringt das Netz in Wallung wie zuletzt keine zweite Neuveröffentlichung. Mitunter klingt das "emotionaleSynthglissando wie Klagegesänge von Aliens", schreibt Liebert weiter. Drake "schafft es, eine besondere Glaubwürdigkeit und Lebensnähe herzustellen, indem er einerseits perfekt auf der Klaviatur der Emo-Effekte seines Genres spielt, aber das mit einer speziellen Beiläufigkeit tut."
Darauf kommt auch Daniel Gerhardt auf ZeitOnline zu sprechen, der eine "Wende im Hip-Hop-Zeitgeist" beobachtet, die Drake und dessen Emo-Rap nun in die Karten spielt: Nach den politischen Jahren des Raps zeigt sich die Szene derzeit "so dramafixiert wie lange nicht mehr. ... Während Drake zum Black-Lives-Matter-Programm der vergangenen Jahre wenig beitragen konnte, hat er für die neue Seifenopern-Ära den definitiven Move parat" und legt offen, dass er einen bislang geheim gehaltenen Sohn hat: "Für seinen Selbstfokussierungsrap ergeben sich daraus völlig neue Probleme und Möglichkeiten."
Weitere Artikel: Das Festival "Eruption" im Hamburger Golden Pudel Club widmet sich der Happening-Kunst der 70er im Allgemeinen und Conrad Schnitzler im Besonderen, freut sich Thomas Lindemann in der taz. In der NZZporträtiert Adrian Schräder den Kölner Techno-Produzenten MatiasAguayo dessen "Musik wie geschlenzt wirkt." Für den Standard hat Karl Gedlicka mit ElvisCostellogeplaudert. FAZ-Kritiker Max Nyffeler hat das Musikfestival in Aldeburgh besucht.
Besprochen werden der Tourauftakt von AlbertHammondJr. (SZ), IggyPops Konzert beim Jazzfestival in Montreux (NZZ), CourtneyBarnetts Album "Tell Me How You Really Feel" (FR), ein Konzert des EnsemblesLa Scintilla unter OttavioDantone mit italienischem Hochbarock (NZZ), eine Uraufführung von AribertReimann mit Daniel Barenboim, YuliaDeyneka und EricJurenas im Boulez-Saal in Berlin (Tagesspiegel), der Kölner Auftritt von Beyoncé (FR), Thomas Quasthoffs Konzert beim Jazzfest Wien (Standard) und ein Konzert von KingCrimson (FAZ).
In der SZfreut sich Gottfried Knapp über die Wiedereröffnung der Alten Pinakothek, die jahrelang zur Hälfte geschlossen war, doch erinnert er auch auch an die Misere der vorigen Museumssanierung: "Nötig geworden ist die jahrelange Schließung der Pinakothek, weil bei den vorangegangenen Sanierungen schwere Fehler gemacht worden sind. Wie beim Bau der Pinakothek der Moderne hat der bayerische Staat auch bei der letzten Restaurierung der Alten Pinakothek durch zwanghafte Einsparungsversuche im fertiggestellten Bauwerk spontane Schäden verursacht, die irgendwann zu sehr viel höheren Preisen repariert werden mussten."
Jacques Schaders Schule in Freudenberg von 1954. Foto: Sidonius/ Wikipedia. CC BY-SA 3.0
In der NZZbegrüßt Deborah Fehlmann, dass es endlich eine - von Michael Hanak verfasste - Monografie über den Schweizer Architekten Jacques Schader gibt, den sie als einen Pionier der Moderne vorstellt: "Im Wohnungsbau sah er das Potenzial, die Gemeinschaft und die Beziehung der Menschen zu ihrer Umwelt zu stärken und zu formen. Wie das Schulhaus Freudenberg sind auch die Entwürfe für Wohnbauten von seiner durchwegs vorwärtsgewandten Vorstellung von Gesellschaft geprägt."